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Wie feministisch, gesellschaftskritisch, intersektional, queer …? – 40 Jahre Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der DGS

10. Dezember 2019 Julia Maria Breidung Martin Spetsmann-Kunkel

Zum 40-jährigen Bestehen der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) ging es um grundsätzliche Fragen. Denn im Mittelpunkt der Tagung, mit der vom 21. bis zum 22. November 2019 das Jubiläum der 1979 gegründeten Sektion gefeiert wurde, stand die Frage: „Wie feministisch, gesellschaftskritisch, intersektional, queer, körperlich, fürsorglich, klassenbewusst … soll/darf/kann/muss Geschlechterforschung sein?“. Zu diesem Thema tagten etwa 70 Mitglieder der Sektion und interessierte Gäste im Teikyo Hotel in Berlin-Schmöckwitz. Der Titel der Tagung verdeutlichte die Vielfalt an Themen und Herausforderungen, der sich die Sektion zum gegenwärtigen Zeitpunkt gegenübersieht.

Aktuelle Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse

Bereits durch die einleitenden Keynotes der Tagung von Brigitte Aulenbacher (Universität Linz) und Kira Kosnick (Universität Frankfurt am Main) wurde das Themenspektrum innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung ersichtlich. Aulenbacher thematisierte in ihrem Vortrag die Transformation des kapitalistischen Systems und deren Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse in der Arbeitswelt. Bezugnehmend auf die Analysen von Karl Polanyi wurde am Beispiel von Care-Tätigkeiten unter anderem im Bereich der Altenpflege und Kinderbetreuung die Transformation im Verhältnis von Ökonomie, Politik und Kultur und der darin eingelassenen Herrschaftsverhältnisse diskutiert. Kosnick referierte über die intersektionale Verschränkung von Gender, Sexualität, Klasse und Ethnizität angesichts aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen. Sie bemängelte sowohl die vorherrschende identitäts- und subjektorientierte Perspektive also auch die verkürzte Rezeption des Intersektionalitätsgedankens auf Kosten einer Makroperspektive. Im Fokus der Intersektionalitätsperspektive stünden, so Kosnick, oftmals kategoriale Merkmale, nicht Mechanismen struktureller Herrschaftsverhältnisse.

Die Sektion in vier Jahrzehnten

In einer an die Keynotes anschließenden Podiumsdiskussion zwischen vier Vertreterinnen der Sektion, die jeweils ein Jahrzehnt der 40-jährigen Geschichte repräsentierten und in den vergangenen 40 Jahren Positionen als Ratsmitglieder der Sektion innehatten oder -haben, wurden die Erweiterungen des Diskurses innerhalb der Genderforschung, aber auch die politischen Kämpfe zu einer Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung in Deutschland anschaulich. Carol Hagemann-White, eine der führenden Protagonistinnen der ersten Stunde, schilderte anschaulich den Kampf um eine Anerkennung der Frauen- und Geschlechterforschung in den 1980er-Jahren, die sich in einer weitgehend männerdominierten DGS ihren Platz gegen massive Widerstände erstreiten musste. Sabine Hark konnte für die 1990er-Jahre von einer zunehmenden Etablierung der Sektion und ihrer Themen berichten, die sich auch in der Akkreditierung erster Studiengänge widerspiegelte. In den 2000er-Jahre, so Karen Wagels, führte der selbstreferentielle Diskurs der Sektion zu einer kritischen Betrachtung der vorherrschenden ‚weißen‘ Perspektive und die Genderforschung widmete sich infolgedessen vermehrt dem Thema Rassismus. Diese Perspektiverweiterung fand nach Darstellung von Vanessa E. Thompson ihren Niederschlag in einer zunehmenden intersektionalen Perspektive in den Themen der Geschlechter- und Frauenforschung und einer Erweiterung des thematischen Spektrums um die Themen der Queer- und Transidentitäten.

Die Beiträge der Podiumsdiskussion illustrierten die stetige Verschränkung zwischen Wissenschaft und Forschung auf der einen Seite und die Notwendigkeit des politischen Kampfes für die Belange aller Geschlechter in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung auf der anderen Seite. Entsprechend wurde durch die biografisch geprägten Erzählungen der Sektionsvertreterinnen deutlich, dass alle Akteurinnen ihre Tätigkeit als Wissenschaftlerinnen zu Fragen von Gender nicht losgelöst vom eigenen politischen Engagement betrachten. Dies gilt gegenwärtig umso mehr, da die Frauen- und Geschlechterforschung angesichts erstarkender antifeministischer, nationalistischer Tendenzen in Politik und Gesellschaft weiterhin Anerkennungs- und Gerechtigkeitskämpfe auszutragen hat. 

Dualismen überwinden – Ausblick

Im Rahmen verschiedener, parallel angebotener Workshops wurden unter Fokussierung diverser Themenbereiche sowohl Positionen, Debatten und Leerstellen aus 40 Jahren Frauen- und Geschlechterforschung in den Blick genommen als auch Perspektiven und zukunftsgerichtete Fragestellungen für die weitere Arbeit der Sektion diskursiv erarbeitet. Neben Angeboten zu ökologischem Feminismus und partizipativer Forschung zu Perspektiven eines intersektionalen Feminismus sowie einem Workshop zur leitenden Frage der Tagung ging ein Workshopangebot der Frage nach: „Klassen- vs. Identitätspolitik? Geschichte und Aktualität einer Debatte“. Die Trennung zwischen identitäts- und klassenpolitischer Debatte, die bisher häufig mit wechselseitigen Rezeptionssperren einhergeht, wurde in diesem Workshop kritisch diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass dieser Dualismus zwischen den Politiken überwunden und die Frage, wie die Verknüpfung einer klassenpolitischen mit einer feministischen, intersektionalen Perspektive gelingen kann, zukünftig weiterverfolgt werden sollte. Die aus dem Austausch hervorgehende Frage nach einer gelingenden Verbindung von Klassenpolitik und einer feministischen sowie intersektional orientierten Politik und Forschung soll perspektivisch unter anderem im Rahmen des Kongresses der DGS in Berlin 2020 weiter thematisiert werden.

Zitation: Julia Maria Breidung, Martin Spetsmann-Kunkel: Wie feministisch, gesellschaftskritisch, intersektional, queer …? – 40 Jahre Sektion Frauen- und Geschlechterforschung der DGS, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 10.12.2019, www.gender-blog.de/beitrag/bericht-jubilaeumstagung-sektion-frauen-und-geschlechterforschung-dgs/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20191210

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Julia Maria Breidung

Julia Maria Breidung studiert Soziale Arbeit im Master mit dem Schwerpunkt Bildung und Teilhabe an der Katholischen Hochschule NRW Abt. Aachen und arbeitet dort als Referentin am Zentrum für Antisemitismus- und Rassismusforschung. Im Rahmen ihres Masterstudiums forscht sie zu Sexismuserfahrungen von Studierenden im Hochschulkontext.

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Prof. Dr. Martin Spetsmann-Kunkel

Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft, Katholische Hochschule NRW, Aachen, Arbeitsschwerpunkte: Gender, Rassismus, Migration

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