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Headergrafik: Faksimile Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? vom Dezember 1783, in: Berlinische Monatsschrift 1784, H. 12, Berlin: Haude und Spener, S. 481-494, hier S. 481.

Debatte

Identitätspolitik contra Aufklärung. Ein Missverständnis

04. Mai 2021 Tina Hartmann

Aktuelle Kritiker:innen der sog. Identitätspolitik sehen sich selbstverständlich auf der Seite der Aufklärung. Doch zeigen die Debatten der vergangenen Jahre, dass sich just die Verteidiger der Aufklärung häufig als ihre wahren Gegner entpuppen, die unter den Floskeln ‚europäische Werte‘ und ‚Feminismus‘ rassistische, islamophobe und misogyne Politik betreiben. Zynisch im Vorgang, aber – wie zu zeigen sein wird – begriffshistorisch folgerichtig nehmen überdies rechte Kräfte Identitätspolitik für sich in Anspruch.

Zentral für die identitäre Argumentation von NDP über AfD bis Pegida ist stets die Verteidigung gegen eine angebliche Bedrohung durch das ‚Andere‘, seien dies Geflüchtete, Menschen mit verschiedenen Hautfarben oder emanzipierte Frauen. Hellhörig sollte daher machen, dass nun von vorgeblich linker Seite ebenfalls eine umfassende Bedrohung konstruiert wird, in der nicht zufällig überwiegend dieselben Personengruppen wiederkehren.

Zeit, einen Blick darauf zu werfen, was Aufklärung war und sein kann.

Frontlinien zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung

Kants in jedem Schulbuch stehende Gleichsetzung von Aufklärung mit Verstand steht durchaus nicht für die gesamte benannte Epoche, sondern setzt 1787, als diese literaturgeschichtlich längst zu Ende ist, während der Weimarer Klassik Goethes und Schillers, einen Schlussstein, der viele ihrer tragenden Elemente dem Blick entzieht. Ähnlich vermittelt die zwei Jahre später anbrechende Französische Revolution als Keimzelle der europäischen Demokratien den Eindruck, in ihr und der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 seien die Ideen der Aufklärung politische Wirklichkeit geworden. Als historische Paravents versperren sie die Sicht darauf, dass das Streben vieler aufklärerischer Entwürfe gar nicht einer republikanischen Form galt, sondern einer vom politischen System unabhängigen Gesellschaftsordnung, die allen in ihr lebenden Menschen ein Maximum an Freiheit garantiert. Umgekehrt sollte die Entwicklung im 19. Jahrhundert zeigen, dass die Idee einer Republik (nicht nur in Deutschland) maßgeblich auf den Bausteinen Misogynie, Antisemitismus, Rassismus und Ausbeutung der Arbeiterschaft gründete. Die Frontlinien zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung sind also nicht erst in diesen Tagen unübersichtlich und damals wie heute spielte gesellschaftliche und wirtschaftliche Macht die Hauptrolle.

Verwirrende Scheinkonflikte

Die aktuell vielbeschworene Frontstellung von sog. Identitätspolitik und universalistischer Demokratie ist ein mustergültiger Scheinkonflikt, der diese Verteilungskämpfe verschleiern soll. Er resultiert zunächst in der Doppelbelegung des Begriffs ‚Identität‘ von links und von rechts, obgleich sie inhaltlich wenig verbindet. Zur Verwirrung trägt bei, dass sich beispielsweise die (frühe) inter- und transkulturelle Kulturtheorie auf Johann Gottfried Herders Kugelmodell bezieht, das Kulturen als homogene Systeme begreift, die im Kontext eines bestimmten Raumes (Clima) entstehen und durch ethnische und sprachliche Zugehörigkeit stabilisiert werden. Auch wenn Herder sich anders als Kant und Hegel gegen eine Einteilung der Menschheit in Rassen wandte, erwiesen sich seine Texte im 19. Jahrhundert als anschlussfähig für die Idee des Nationalstaates und des ihr unweigerlich folgenden Nationalismus.

Reaktionär-konservative und rechte Identitätspolitik speist sich aus der bereits ab Mitte der 1770er-Jahre einsetzenden Gegenaufklärung, die mit misogynen, religiös-ideologischen und bald nationalistischen und völkisch-rassistischen Argumenten gegen die Idee universeller Menschenrechte ihre Privilegien ausbaute. Identität ist hier – wie an jeder Gauland-Rede zu beobachten – immer ein mit Land, Blut und Boden und einer patriarchalen Gesellschaftsordnung verbundenes Kollektiv, eine ethnisch einheitlich gedachte Nation und eine mit übergriffiger Geste unterstellte deutsche oder europäische „Kultur“.

Identity Politics ≠ Identitäre Politik

Der Begriff Identity Politics wurde vermutlich 1977 erstmals von einem Verbund schwarzer lesbischer Frauen in den USA verwendet. Als feministisch und antirassistisch steht er von Anfang an diametral gegen jede Annahme kultureller oder sonstiger Homogenität. Die darin versammelten Identitäten sind schon immer fluide im Sinne Kwame Anthony Appiahs (2019) und speisen sich aus der von Kimberlé Crenshaw im Begriff Intersektionalität gefassten Erfahrung mehrfacher Diskriminierung, da Rassismus und Misogynie häufig mit wirtschaftlicher und Bildungsbenachteiligung einhergehen.

Die sich im Sinne der Identity Politics formierenden Bewegungen stützen sich eher selten auf eine Identität im ursprünglichen Wortsinn eines einheitlichen Kollektivs als vielmehr auf die individuellen Erfahrungen marginalisierter Menschen. Als Akt humanistischer Emanzipation sind sie damit das Gegenteil identitärer Politik. Stattdessen realisieren sie das Ideal der Aufklärung, wie sie mit dem 18. Jahrhundert in Nord- und Zentraleuropa begann: dem Individuum ein Höchstmaß an individueller Freiheit zu ermöglichen, dem nur die Freiheit der Mitmenschen – heute ergänzen wir: und das Wohlergehen von Tieren und Umwelt – Grenzen setzen soll.

Ist die Aufklärung misogyn und rassistisch?

Die Postcolonial Studies (zur Debatte s. exemplarisch Dhawan 2016) verweisen zurecht darauf, dass dieselben Gehirne, die die Idee universeller Menschenrechte entwarfen, auch einen Rassismus erfanden, der als Legitimation für Sklavenhandel und Kolonialismus diente. Doch folgt dies keiner zwangsläufigen Dialektik, nach der ein sprichwörtlich erhellendes „Enlightenment“ nachtseitige Gespenster zeugt. Die Denker der Aufklärung – darunter Kant, Hegel, Voltaire und Rousseau, waren überwiegend männlich, weiß und bürgerlich. Sie realisierten daher, dass mit universellen Rechten für alle Menschen ihre relativ dünnen Privilegien dahin wären. Die Lösung war, die Hälfte der Menschheit auszuschließen.

Kein Vorgang der Weltgeschichte hat weibliche Unterdrückung so rasch und nachhaltig zementiert wie die Französische Revolution. Indem die Revolution die ständische Gesellschaft erschütterte, musste die Frau an die Position der geborenen Dienerin des Mannes treten. Weder die Teilnahme von Frauen an den Kämpfen noch die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, die Olympe de Gouges 1791 vergeblich der französischen Nationalversammlung zur Verabschiedung vorlegte, oder Mary Wollstonecrafts ein Jahr später dem mächtigen Frauenverächter Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord gewidmete Verteidigung der Rechte der Frau vermochten daran etwas zu ändern. Misogynie, Rassismus und Antisemitismus aber sind untrennbar verbunden (Hartmann 2021). Daher beweist der gigantische pseudowissenschaftliche Aufwand des 19. Jahrhunderts zur Legitimation von Unterdrückung, Ausbeutung, Sklaverei und Kolonialismus vor allem eines: die Sprengkraft der Idee universeller Menschenrechte. Beginnend mit der in Europa viel zu wenig beachteten Haitianischen Revolution, berufen sich Emanzipationsbewegungen bis heute auf sie.

Aufklärung durch Empfindsamkeit

Die empfindsame Literatur der Aufklärung entstand ab den 1740er-Jahren gegen die Dominanz des philosophischen Rationalismus – Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther ist 1774 der letzte Spätgeborene. Empfindsamkeit galt als Tugend, die Männer von Frauen lernen. Im Kreisen um die eigenen, im Austarieren der gegenseitigen Gefühle vermögen die Inhaber der Privilegien und die von ihnen Ausgeschlossenen (Frauen, Juden, Fremde) auf Augenhöhe miteinander zu sprechen und ihre Dispositionen zu verhandeln, nicht selten mit offenem Ergebnis.

Anders als der rationalistisch-imperativisch, misogyn und mitunter rassistisch argumentierende Kant definieren Schriftsteller:innen der Aufklärung letztere als Utopie einer androgynen Verbindung von Verstand und Empfindsamkeit. In Christian Fürchtegott Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin von G***, Sophie La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim und vielen Texten Christoph Martin Wielands – übrigens zeitlebens ein Kritiker Kants – treffen sexuell erfahrene und umfassend gebildete Frauen auf empfindsame Männer, formieren sich religions- und abstammungsübergreifende Familien. Lessing setzte in Nathan der Weise nicht nur seinem Freund Moses Mendelssohn und dessen Judentum ein Denkmal, sondern auch dem mütterlichen Vater. An diese Aufklärung einer Geschlechter, Religionen, Hautfarben und Herkünfte umgreifenden egalitären Gemeinschaft müssen wir anknüpfen.

Für eine demokratische Gesprächskultur

Emanzipationsbewegungen sind getrieben von individueller Betroffenheit, Verletzungen, komplexen, oft generationenübergreifenden Traumata. Menschen mit Opfererfahrungen vorzuwerfen, sie seien zu empfindlich – überdies aus der Position der Privilegierten, tatsächlichen oder potentiellen Verursacher der Diskriminierung heraus – ist demokratisch indiskutabel (vgl. dazu Hasters 2019). Künstlich aufgebauscht wird von Kritiker:innen auch die Sprengkraft der Debatten. Emanzipationsbewegungen zielen nicht auf Sonderrechte, sondern – die Ehe für alle ist das prägnanteste Beispiel – „vielmehr werden Erfahrung und Identitäten betont, um die bessere Durchsetzung eigentlich geteilter politischer Prinzipien zu erreichen“ (Müller 2021). Nicht erstere sind damit „mörderisch für eine demokratische Gesprächskultur“ (so Wolfgang Thierse), sondern jene, die eine letztlich patriarchale Homogenität postulieren und damit ungeachtet ihrer politischen Selbstverortung identitär und reaktionär argumentieren.

Literatur

Appiah, Kwame Anthony (2019). Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit. Berlin: Hanser Verlag.

Dhawan, Nikita (2016). Die Aufklärung retten: Postkoloniale Interventionen. Zeitschrift für Politische Theorie, (2), 249–255. https://doi.org/10.3224/zpth.v7i2.09

Hartmann, Tina (2021). Was Antisemitismus und Rassismus mit Femizid zu tun haben. Frankfurter Rundschau Online, 24.03.2021. Zugiff am 29.04.2021 unter https://www.fr.de/meinung/gastbeitraege/rassismus-femizid-antisemitismus-frauen-minderheiten-90256124.html.

Hasters, Alice (2019). Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten. Berlin: Hanser Verlag.

Müller, Jan-Werner (2021). Identitätspolitik. Internationale Politik, 76(2), 104–109. Zugriff am 29.04.2021 unter https://internationalepolitik.de/de/identitaetspolitik.

Zitation: Tina Hartmann: Identitätspolitik contra Aufklärung. Ein Missverständnis, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 04.05.2021, www.gender-blog.de/beitrag/identitaetspolitik-contra-aufklaerung-missverstaendnis/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210504

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© Headergrafik: Faksimile Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? vom Dezember 1783, in: Berlinische Monatsschrift 1784, H. 12, Berlin: Haude und Spener, S. 481-494, hier S. 481.

Prof. Dr. Tina Hartmann

Tina Hartmann ist Professorin an der Universität Bayreuth. Die Literaturwissenschaftlerin und Opernlibrettistin arbeitet u.a. zu Literatur des 18. Jahrhunderts, Librettologie, Gender und Diversity, kritische Kanonforschung, Literatur und Architektur, Literatur multilingualer Autor*innen. Publikationen u.a. Goethes Musiktheater (Niemeyer 2004) und Grundlegung einer Librettologie (De Gruyter 2017). Sie ist Herausgeberin der Singspiele und Abhandlungen für die Oßmannstedter C.M. Wieland-Ausgabe.

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