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#4genderstudies

(K)eine Apologie des Universalismus

14. Dezember 2021 Ina Kerner

Der Universalismus steht zunehmend unter Imperialismusverdacht – auch in der Geschlechterforschung. Allzu oft wurde er für fragwürdige Zwecke instrumentalisiert. Beredtes Beispiel ist der vor wenigen Monaten mit dem Abzug der NATO-Truppen zu Ende gegangene Afghanistankrieg. Als dieser vor 20 Jahren begann, wurden zu seiner Rechtfertigung nicht zuletzt Frauen- und Menschenrechte angeführt, die von der damaligen Taliban-Regierung in der Tat verletzt wurden. Leider waren dann, wie in Kriegen üblich, auch die westlichen Streitkräfte wenig zimperlich, Folter und zivile Opfer eingeschlossen.

Nun sind die Taliban zurück an der Macht und die vormals beklagten Verletzungen grundlegender Frauen- und Menschenrechte erneut an der Tagesordnung – und zwar ohne, dass es die heimgekehrten Ex-Besatzer nachhaltig zu stören scheint. Der Umgang mit den einstigen Ortskräften und ihren Familien, von denen Tausende schlicht im Stich gelassen wurden, spricht mehr als Bände, auch wenn es zivilgesellschaftliche Ausnahmen gibt, die Luftbrücke Kabul etwa oder das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e. V., und wenn die eine oder andere Protestnote geschrieben wird.

Universalismus als Legitimationsinstanz okzidentaler Interessen

Folgt man dekolonialen Ansätzen, das heißt postkolonialen Theorien mit Lateinamerikabezug, ist die Instrumentalisierung des Universalismus alles andere als neu. Vielmehr begleitet sie die westliche Moderne seit ihrem Anbeginn – und ist damit derart tief in ihr verwurzelt, dass sie als deren nichtreduzierbare koloniale Schattenseite verstanden werden sollte (Mignolo 2012). Und tatsächlich: In den Amerikas ging die europäische Kolonisierung mit Enteignung, Ausbeutung, Zwangschristianisierung und einer weitgehenden Entwertung lokaler Lebensweisen, Normen, Institutionen und Systeme einher. Bereits in ihrer Frühphase verursachte sie außerdem ein Massensterben: Schätzungen zufolge fanden in Mittel- und Südamerika bis 1620 neun von zehn Menschen durch eingeschleppte Krankheiten den Tod (Oltmer 2016, 31). Der europäische Kolonialismus agierte also wie eine mörderische, räuberische Dampfwalze.

Pikanterweise stilisierte er sich dabei zum Motor globaler Zivilisation und Entwicklung, und zwar selbst noch gegenüber den von ihm Ausgeraubten und Plattgewalzten. Dass hier eine massive Lücke zwischen hehrer Selbstdarstellung und gewaltförmiger Wirklichkeit klaffte, muss – Effekte kolonialer Ideologien und Subjektivierung hin oder her – zumindest für viele der Betroffenen offensichtlich gewesen sein. Sonst hätte es wohl weder kritische Reflexionen (für einige Beispiele vgl. Dussel 2013) noch Kolonialkriege gegeben, mit anderen Worten: wäre vermutlich der anhaltende Widerstand ausgeblieben. Und noch heute hat der Westen vielerorts im globalen Süden ein kolonialbedingtes Vertrauensproblem. Nicht trotz, sondern gerade wegen seines Universalismus. Denn dieser beansprucht zwar seit jeher, für alle zu sprechen, meinte dabei aber zu oft vor allem sich selbst und seine eigenen Autor:innen. Damit diente er eher okzidentalen Interessen und Privilegien als der Gerechtigkeit und der Förderung des allgemeinen Wohlergehens.

Universalismus der Männer und für Europäer

Ich hatte überlegt, im vorangegangenen Absatz „Autoren“ statt „Autor:innen“ zu schreiben – denn spätestens seit Olympe de Gouge wissen auch Feminist:innen um Probleme des Universalismus und formulieren einen Androzentrismusverdacht. Leider gut begründet: Als im Zuge der französischen Revolution die vermeintlich allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte ausgerufen wurden, waren sie genau das: Bürgerrechte, und mitnichten auch Bürger:innenrechte. Die Aktivistin de Gouge wies darauf hin und veröffentlichte eine alternative Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin. Bei den Jakobinern machte sie sich damit nicht beliebt. Im Jahr 1793 landete sie auf dem Schafott; die Menschen- und Bürgerrechtler hatten die Todesstrafe gegen sie verhängt. Und auch in Deutschland florierte lange Zeit ein als Universalismus verbrämter Androzentrismus. Das „allgemeine Wahlrecht“ zum Beispiel schloss Frauen für Jahrzehnte aus – dem Namen nach war ein solches Wahlrecht im Deutschen Reich bereits 1871 eingeführt worden, de facto gestattete aber erst das Reichswahlgesetz von 1918 auch Frauen die Teilnahme an politischen Wahlen.

Der Universalismus, wie wir ihn kennen, war also lange Zeit ein Universalismus der Männer. Ferner war er ein Universalismus für Europäer. Alle außer weißen Männern, und damit die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung, waren zumindest in seinen Anfängen explizit nicht mitgemeint.

Zum zweifelhaften Universalismus des Gleichberechtigungsgebots

Mittlerweile, so ließe sich argumentieren, hat sich das Blatt gewendet. Zwar bezahlte de Gouge ihren Kampf um Inklusion, ihren Aneignungsversuch der allgemeinen Rechte noch mit dem Leben. Doch inzwischen verpflichtet das Grundgesetz den Staat zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Wir haben hier und dort Quoten und in Frankreich sogar ein Paritätsgesetz. Ist damit nicht am Ende alles gut geworden? Nicht nur Differenzfeministinnen sind hier skeptisch. Denn es kann eingewendet werden, dass eine einheitliche Logik mit androzentrischer Gründungsgeschichte schwerlich zur allgemeinen Logik erweitert werden kann und dass daher an die Stelle einheitlicher Maßstäbe – z. B. mit Blick auf Prinzipien der Gleichheit oder der Menschenwürde – besser eine Logik pluralisierter Maßstäbe treten solle; andernfalls sei die Gefahr groß, dass das neue Einheitliche implizit androzentrisch bleibt, und zwar auch, wenn es formal nicht länger auf Männer beschränkt ist.

Andrea Maihofer hat in diesem Sinne bereits in den 1990er-Jahren argumentiert, dass selbst noch Ansätze der Durchsetzung der Gleichberechtigung von einem Äquivalenzideal geprägt seien, das Frauen gemessen an Männern als benachteiligt einstuft und damit die Situation von Frauen primär als Mangel versteht. Dieser solle durch Angleichung an die Situation der Männer behoben werden – anstatt in der Situation der Frauen eine mögliche Quelle alternativer Ideale guter Lebensweisen und einer wünschenswerten gesellschaftlichen Ordnung zu sehen, etwa mit Blick auf die Vereinbarung produktiver, reproduktiver und politischer Tätigkeiten, oder bezogen auf was auch immer sonst die Betroffenen selbst artikulieren (Maihofer 1997). Krankt also selbst noch der Universalismus des Gleichberechtigungsgebotes an einem inhärenten, nicht reduzierbaren Androzentrismus? Und was genau ist Universalismus dann eigentlich?

Rechtliches wie moralisches Normengerüst

Hält man sich an philosophische Nachschlagewerke, die nicht nur im deutschen Sprachraum vor allem Grundbegriffe und Positionen der westlichen Philosophie zusammenführen, ist Universalismus ein „Geltungsanspruch bestimmter moralischer und rechtlicher Normen, und zwar derart, dass sie sich auf alle Menschen erstrecken sollen“ (Bielefeldt 2010, 2831). Die Frage, wie Normen aussehen müssen, damit das tatsächlich möglich werden kann, wird über ein hypothetisches Prüfverfahren geklärt. Das sind Überlegungen dazu, ob sich spezifische Normvorschläge als universale Normen vorstellen, d. h. denken oder ernsthaft intendieren lassen (ebd.). Bei der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948, so überlegten und entschieden seine Autor:innen, war die Universalisierbarkeit gegeben. Der Umstand, dass bei einem hypothetischen Prüfverfahren nie alle Betroffenen gefragt werden, hat dem Universalismus allerdings den Vorwurf eingebracht, letztlich ein Provinzialismus im universalen Gewand zu sein. Denn was sich als universale Norm vorstellen lässt, mag stark davon abhängen, was man jeweils für normal und was für wünschenswert hält. Und das kann durchaus differieren.

Real existierender Universalismus

Ist der Universalismus damit erledigt, zumindest für all jene, die sich für Geschlechtergerechtigkeit interessieren oder die für einen Abbau von Hierarchien und rigiden Normierungen im Geschlechterverhältnis kämpfen? Die Liste der vorgebrachten Probleme ist ja lang. Eine hohe Provinzialismuswahrscheinlichkeit universalistischer Normen, androzentrische Logiken selbst noch bei der Rechtsnorm der Gleichberechtigung, eine lange Geschichte der de-facto-Beschränkung vermeintlich allgemeiner Normen auf weiße Männer und eine anhaltende Instrumentalisierung universalistischer Prinzipien für imperiale Zwecke sind keine gute Zwischenbilanz. Und doch wäre es voreilig, diese Zwischenbilanz zur negativen Gesamtbilanz zu erklären. Denn zwar ist leider richtig, dass der real existierende, der zur Praxis gewordene Universalismus wohl selten wirklich inklusiv war und häufig instrumentalisiert wurde. Allein schon das Gleichberechtigungsgebot im Grundgesetz ist bis heute auf Frauen und Männer beschränkt und schließt nichtbinäre Personen faktisch aus.

Universalismus als normativer Anspruch

Aber bezogen auf den Universalismus als Ideal, bezogen auf moralische Normen, sehen die Dinge anders aus. Denn als normative Ansprüche können universalistische Normen zunächst einmal kaum an irgendeiner Praxis gemessen werden. Eher ist es umgekehrt: Normative Ansprüche dienen der Unterscheidung zwischen untragbaren und akzeptablen Zuständen und dienen damit dem Messen einer Praxis oder Konstellation. Und als solche können sie kritische Gesellschaftsanalysen ebenso wie politische Interventionen stützen. Das muss weder klappen, noch ist es unschuldig. Scheitern kann es unter anderem dann, wenn der Androzentrismus oder der Provinzialismus einer vermeintlich universalen Norm deren Tauglichkeit als kritisches Messinstrument untergräbt, weil die Norm, verzerrt wie sie ist, schlicht nicht zu jedem Anwendungskontext passt. Und unschuldig sind Interventionen nie. Vielmehr bergen sie die ewige Gefahr, imperial anzumuten – vor allem dann, wenn die Normen, in deren Namen sie geschehen, gerade nicht allgemeingültig erscheinen, sondern eher wirken wie eine unpassende Anmaßung. Wobei auch die Kritik imperialer Anmaßungen für Macht- und Herrschaftszwecke instrumentalisiert werden kann – die Taliban wurden eingangs bereits erwähnt, sie sind dafür ein Beispiel.

Universalismus der Gleichwertigkeitsunterstellung 

Aber auch wenn die Probleme im Gepäck des normativen Universalismus schwer wiegen mögen: Das Beharren auf prinzipieller Gleichheit, das Pochen auf die gleiche Würde aller Menschen oder auf eine Gleichverteilung ihrer Betrauerbarkeit ist nichts, auf das man verzichten könnte, wenn man Anstoß an Ausschlüssen und Hierarchisierungen nimmt, an Ungleichbehandlung und an nicht reflektierten Privilegien. Denn ein solcher minimaler Universalismus der Gleichwertigkeitsunterstellung ist die Grundlage aller Kämpfe gegen solche Zustände – zumindest in der westlichen Welt. „Es ist Teil des Problems des heutigen politischen Lebens, dass nicht jeder als Subjekt gilt“, schreibt Judith Butler dazu (Butler 2010, 37), jene Autor:in, die den Begriff der Betrauerbarkeit in die Debatte gebracht hat. Dem ist wenig hinzuzufügen. Außer, dass unsere Welt radikal anders aussähe, wenn das von Butler benannte Problem positiv gelöst wäre und tatsächlich alle Menschen gleichermaßen als Subjekt gelten würden: an Europas Grenzen wie in seinem Binnenraum. Und darüber hinaus.

Zum Wissenschaftstag #4GenderStudies postet der blog interdisziplinäre geschlechterforschung diesen Beitrag von Ina Kerner in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe „Global Contestations of Women’s and Gender Rights“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZIF) der Universität Bielefeld.

Literatur

Bielefeldt, Heiner (2010), Universalismus/Universalisierung. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Enzyclopädie Philosophie in 3 Bänden. Hamburg: Meiner, 2831–2836.

Butler, Judith (2010), Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/M./New York: Campus Verlag.

Dussel, Enrique (2013), Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen. Wien/Berlin: Turia + Kant.

Maihofer, Andrea (1997), Gleichheit nur für Gleiche? In: Gerhard, Ute/Jansen, Mechtild/Maihofer, Andrea/Schmid, Pia/Schulz, Irmgard (Hg.): Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht. Königstein/Ts.: Ulrike Helmer Verlag, 351–367.

Mignolo, Walter (2012), Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Wien/Berlin: Turia + Kant.

Oltmer, Jochen (2016), Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. Bonn: bpb.

Zitation: Ina Kerner : (K)eine Apologie des Universalismus, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 14.12.2021, www.gender-blog.de/beitrag/keine-apologie-universalismus/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20211214

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Prof. Dr. Ina Kerner

Professorin für Dynamiken der Globalisierung und Leiterin des Seminars Politische Wissenschaft des Instituts für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Forschungen im Bereich der Feministischen Theorie und der Geschlechterforschung im Übergang zu Politischer Theorie und postkolonialen Theorien; z.Z. beschäftigt mit einer postsäkularen feministischen Religionskritik. Mitglied der ZiF-Forschungsgruppe „Global Contestations of Women’s and Gender Rights.

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