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Interview

Abolitionismus als intersektionale Intervention. Vanessa E. Thompson im Interview

14. Juli 2020 Vanessa E. Thompson Heike Mauer

Anfang Juli sprach Heike Mauer mit Vanessa E. Thompson über ihre Forschung zu Rassismus als einem gesellschaftlichen Verhältnis sowie der Notwendigkeit einer intersektionalen und postkolonialen Kritik der Polizei. Im hier veröffentlichten zweiten Teil des Interviews geht es um emanzipatorische Alternativen zum Strafen und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Visionen und Utopien. Vanessa E. Thompson ist Post-Doc an der Europa-Universität Viadrina und forscht aus intersektionalen, post- und dekolonialen Perspektiven zu einer Kritik der Polizei und des Polizierens.

Im Zuge der #Blacklivesmatter-Bewegung werden verstärkt Forderungen nach einem Defunding der Polizei gestellt. Welche Vision verbirgt sich dahinter?

Alternativen zu den herrschenden Formen des Polizierens werden aktuell besonders durch die mehrfachmarginalisierten Erfahrungen und Perspektiven von polizierten Menschen entwickelt. Solche Alternativen sind sowohl Methoden als auch Ziel, wie Melanie Brazzell dies formuliert, und Teil der Bewegung für transformative Gerechtigkeit. Viele dieser Praktiken wurden von Schwarzen (trans*) Frauen, von nichtbinären, aber auch von illegalisierten Personen entwickelt, die zugleich von interpersoneller Gewalt als auch von staatlicher Gewalt betroffen sind. Defunding der Polizei, also finanzielle Ressourcen von der Polizei abzuziehen und in Institutionen der gesellschaftlichen Teilhabe – Wohnraum, Jugendzentren, emanzipatorische Bildungsprogramme, medizinische Versorgung etc. – umzuverteilen und zu reinvestieren ist dabei eine Forderung des Abolitionismus, dieser geht jedoch darüber hinaus.

Was ist genau unter Abolitionismus zu verstehen?

Historisch bezieht sich der Begriff Abolitionismus auf die transnationalen Kämpfe zur Abschaffung von Versklavung und geht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Diese Kämpfe sind so alt wie die Versklavung selbst; versklavte Menschen haben schon immer für Gerechtigkeit und für die Überwindung von Versklavung gekämpft. Grundlegend hierbei war und ist der Gedanke, dass das System der Versklavung nicht reformierbar ist. Hierin unterscheidet sich der Abolitionismus von liberalen Diskussionen um eine ‚Verbesserung‘ oder ‚Reform‘ von Versklavung und Plantagenökonomien, um sie ‚menschlicher‘ zu gestalten. Abolitionist*innen hingegen traten uneingeschränkt für die Abschaffung und Überwindung von Versklavung ein. Dabei ist die Schwarze feministische Kritik, wie sie etwa Sojourner Truth vorgetragen hat, ein wesentlicher und kontinuierlicher Bestandteil der abolitionistischen Bewegung und hat deren Visionen maßgeblich geprägt.

Wofür kämpft die aktuelle abolitionistische Bewegung?

Aktuell kämpft die neuere abolitionistische Bewegung gegen die Kontinuitäten von Versklavung und Kolonialismus an, die praktisch immer noch in liberalen Demokratien wirken und sie damit zu dem machen, was W. E. B. Du Bois und Angela Davis als rassistische Demokratien bezeichnen. In der Kritik steht, dass viele Institutionen und Formen der Versklavung sowie deren Logiken und Praktiken in gewisse moderne Institutionen überführt und transformiert wurden. Die neue abolitionistische Bewegung hat hierbei insbesondere die Strafregime mit ihren entsprechenden Institutionen im Blick: Polizei, Gefängnisse, aber auch andere repressive Institutionen.

Leitend ist die Vision einer Gesellschaft, die für die Verwirklichung von Gerechtigkeit keine Gewalt benötigt – keine Repression, Kriminalisierung und Inkarzerierung (Einsperrung). Dementsprechend wendet sich die neuere abolitionistische Bewegung gegen die Expansion von law and order, von Strafregimen und die damit verbundene Kriminalisierung von Armut, besonders entlang von Rassismus, Hetero-Sexismus, Migrationsregimen etc. Gleichzeitig geht es nicht um ein Zurück zu einem Wohlfahrtsstaat, in welchem entlang intersektionaler Dimesionen zwischen „würdig“ und „unwürdig“ im Sinne von deserving und undeserving unterschieden wird. Vor allem intersektionale Feminist*innen in den USA, aber auch in England, Frankreich und im Globalen Süden haben Kollektive gebildet, die für solche abolitionistische Visionen einstehen.

Wie sieht die Bewegung im deutschen und europäischen Kontext aus?

Hier nehmen selbst-organisierte Frauenorganisationen von Geflüchteten wie beispielsweise Women in Exile oder intersektionale Anti-Gewalt-Kollektive wie sisters uncut eine tragende Rolle ein, indem sie für die Abschaffung von Lagern einstehen. Dies ist eine weitere Facette des Abolitionismus, die oft auch mit der Forderung nach der Überwindung von Strafregimen verbunden ist und die aus der Erfahrung erwächst, dass die strafenden Institutionen die Frauen* und nicht-binären Personen nicht schützen, sondern oftmals in Fällen von interpersoneller sexualisierter und/oder häuslicher Gewalt noch eine weitere, staatliche Dimension von Gewalt, die ja auch intersektional verläuft, mit hereinbringen.

Dazu gehört die Erfahrung, als illegalisierte Schwarze Sexarbeiter*in im Fall von häuslicher oder sexualisierter Gewalt die Polizei gar nicht rufen zu können. Denn es gibt die Fälle, die zeigen, dass gerade diejenigen, die Gewalt erfahren haben und sich an Polizei und Justiz wenden, durch staatliche Gewalt oft weiter kriminalisiert werden. Solche spezifischen und intersektionalen Vulnerabilitäten können Anknüpfungspunkte an feministische Kämpfe bieten, denn eine solche Kriminalisierung ist bereits Thema in der Geschlechterforschung (Ritchie 2017; Wa Baile et al. 2019), sie sollte meines Erachtens aber intersektional gewendet werden.

Was ist carceral feminism und was kritisiert die abolitionistische Bewegung daran?

Derzeit wird auch eine liberale Form des Strafrechts- bzw. Bestrafungsfeminismus hörbar. Dieser carceral feminism reproduziert nicht einfach ein repressives Verständnis von Sicherheit, sondern ruft den strafenden Staat aktiv an und ist somit verwoben mit der intersektionalen Reproduktion von Gewalt. Formen dieses Strafrechtsfeminismus artikulieren sich in unterschiedlichen Gesetzgebungsverfahren, etwa der Verschärfung des Sexualstrafrechts im Anschluss an die Debatte um Köln, aber auch in Bezug auf das sogenannte Prostitutiertenschutzgesetz, das besonders von migrantisierten und rassifizierten Sexarbeiter*innen kritisiert wird.

Indem abolitionistische Bewegungen simultan und intersektional gegen interpersonelle und staatliche Gewalt eintreten, nehmen sie eine Position ein, der folgende Überzeugung zu Grunde liegt: Wir können mit einer Kritik der Polizei und des Gefängnisses nicht staatliche Gewalt ablehnen, ohne zugleich gegen die interpersonale Gewalt in unseren unterschiedlichen Communities vorzugehen. Wir müssen beides gleichzeitig tun. Es geht also um intersektional-feministische Interventionen, und gleichzeitig wird deutlich, dass Abolitionismus nie nur Abschaffung (von Versklavung, von Polizei oder von Gefängnis) heißt. Es geht vielmehr um eine umfassende gesellschaftliche Transformation und Stärkung von Institutionen der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe sowie der sozialen, intersektionalen und sozioökonomischen Gerechtigkeit. „Defund the Police“ ist hierbei lediglich eine Artikulation des Abolitionismus.

Wie kann es gelingen, zu diesen Themen kritische und emanzipatorisch orientierte Forschung zu stärken und sichtbar zu machen? Als weiße Wissenschaftlerin fällt mir auf, dass die bestehende Forschung nicht immer wahrgenommen wird.

Es ist schon sehr viel Forschung geleistet worden, oft wird diese jedoch nicht in den Universitäten aufgenommen. Dass diese – auch in der aktuellen medialen Debatte – so wenig wahrgenommen wird, lässt sich auch mit dem Phänomen erklären, das Gayatri Chakravorty Spivak als sanctioned ignorance, also als systematische und institutionalisierte Ignoranz, bezeichnet. Es gibt natürlich auch institutionelle Öffnungen. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, darauf zu schauen, wie diese Öffnungen vollzogen werden. Wir haben u. a. von Sara Ahmed gelernt, dass es an Hochschulen auch einen nicht-performativen Antirassismus geben kann. Rassismuskritik und Intersektionalität sind, wenn auch marginal, an einigen Instituten bereits Teil der akademischen Lehre. Zugleich stellt sich die Frage, was sich in Bezug auf die Strukturen der Wissensproduktion, auf der Ebene der Personalpolitik sowie den Arbeitsverhältnissen auch von nicht-akademischem Personal ändert. Wie gelingt es, dass mehrfachmarginalisierte Studierende nicht noch mehr Arbeit leisten müssen, sondern partizipieren und sich entfalten können, anstatt an den Hochschulen Formen intersektionaler und epistemischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Gibt es Stellen, an die sie sich wenden können? Deshalb geht es auch darum, die Universität und die Forschungsbereiche auf mehreren Ebenen in eine intersektionale Dekolonisierung einzubeziehen. Einiges ist bereits passiert, aber wie du sagst, wird gegenhegemoniales alternatives Wissen auch systematisch marginalisiert und weiter an den Rand gedrängt.

Es geht um Orte und Strukturen von Wissensproduktion und -formation …

Es lässt uns natürlich auch oft die Frage stellen: Was nehmen wir überhaupt als Wissen ernst, was nehmen wir als Theoriebildung ernst? Abolitionismus als Bewegung – aber auch als Theorietradition – ist außerhalb der Uni lokalisiert, vor allem in dieser intersektionalen Form. Es gibt zwar gewisse Traditionen kritischer Sozialtheorie, Foucault hat sich ja auch mit dem Gefängnis intensiv beschäftigt und war in der Antigefängnisbewegung aktiv. Aber Rassismus bleibt da eine Leerstelle, und dies trifft auch auf koloniale Bezüge und die Auseinandersetzung mit Kolonialität zu. Deshalb ist es wichtig, danach zu fragen, wie die aktuellen Kämpfe – #BlackLivesMatter, aber auch die Verschränkung mit Migrantifa und den Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Heteronormativität und gegen mörderische Migrationsregime – intersektional geführt werden. Das ist ja auch immer ein Ringen um die Sicht- und Hörbarmachung mehrfachmarginalisierter Stimmen: Wie können wir diesen zuhören und von diesen Perspektiven ausgehen, und sie nicht zuletzt an der Universität auch theoretisch ernst nehmen?

Sehr wichtig ist mir in diesem Zusammenhang noch einmal zu betonen, dass die aktuellen Kämpfe – gerade im Rahmen von #BlackLivesMatter, aber auch die Proteste nach den Anschlägen in Halle und in Hanau – ganz stark getragen werden von jungen Schwarzen und migrantisierten Frauen und nichtbinären Personen. Wir sehen da auch eine Generation, die sagt, dass sie mit dieser Kriminalisierung, mit diesen rassistischen und intersektionalen Formen des Strafens und der Dehumanisierung sowie der drohenden Gefahr durch rechten Terror nicht mehr leben wollen.

Und diese Bewegung geht auch die Universität wesentlich an. Natürlich machen auch Bewegungen immer Fehler und es muss darum gerungen werden, dass mehrfachmarginalisierte Perspektiven ernst genommen werden, aber ich würde mit Arundathi Roy sagen, dass sich hier die Möglichkeit eröffnet, diese Kämpfe auch ernst zu nehmen, sie in den Hochschulen und Universitäten zu führen, für die intersektionale Dekolonisierung der liberalen Demokratie.

Literatur

Brazzell, Melanie (Hrsg.) (2018). Was macht uns wirklich sicher? Ein Toolkit zu intersektionaler, transformativer Gerechtigkeit jenseits von Gefängnis und Polizei. Münster: edition assemblage.

Davis, Angela Y. (2011). Are prisons obsolete? New York: Seven Stories Press.

Du Bois, William Edward Burghardt (2014). Black Reconstruction in America: An Essay Toward a History of the Part Which Black Folk Played in the Attempt to Reconstruct Democracy in America, 1860–1880. Oxford: Oxford University Press.

Ritchie, Andrea J. (2017). Invisible no more: police violence against Black women and women of color. Boston/MA: Beacon Press.

Spivak, Gayatri Chakravorty (1999). A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present. Cambridge: Harvard University Press.

Wa Baile, Mohamed; Dankwa,Serena O.; Naguib,Tarek; Purtschert, Patricia & Schilliger,Sarah (Hrsg.) (2019). Racial Profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand. Bielefeld: transcript.

Zitation: Vanessa E. Thompson im Interview mit Heike Mauer: Abolitionismus als intersektionale Intervention. Vanessa E. Thompson im Interview, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 14.07.2020, www.gender-blog.de/beitrag/abolitionismus-intersektionale-intervention/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200714

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Dr. Vanessa E. Thompson

Vanessa E. Thompson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). In ihrer Forschung und Lehre beschäftigt sie sich mit Black Studies, kritischer Rassismusforschung, post- und dekolonialen feministischen Theorien, Intersektionalität, Polizeiforschung, und abolitionistischen Gerechtigkeitstheorien.

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Dr. Heike Mauer

ist Politikwissenschaftlerin und forscht an der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen zu Hochschule und Gleichstellung. Von 2016 bis 2021 war sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Sektion Politik und Geschlecht. Für ihre Forschungen zu Intersektionalität, Rechtspopulismus und Antifeminismus ist ihr 2019 der Preis für exzellente Genderforschung des Landes NRW verliehen worden.

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