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Interview

Auf den Schultern von Riesinnen? Zur Aktualität von Regina Becker-Schmidt

05. November 2024 Anne Rauber Barbara Umrath

Die Sozialwissenschaftlerinnen Anne Rauber und Barbara Umrath haben ihren je eigenen Bezug zu den Arbeiten von Regina Becker-Schmidt. Während die eine deren Konzepte für eine empirische Dissertation über Verhütung als Care-Arbeit von Mädchen nutzte (Rauber 2024), beschäftigte die andere sich mit der Rekonstruktion der Entwicklung der Frankfurter Schule aus feministischer Perspektive (Umrath 2019). Die beiden haben sich über ihre unterschiedlichen Zugänge ausgetauscht, nicht zuletzt, um der im September 2024 verstorbenen Wissenschaftlerin zu gedenken.

Barbara Umrath: Vermutlich ist dir Regina Becker-Schmidt eher in Seminaren, in deinem Studium begegnet, oder?

Anne Rauber: Genau, ich habe ja Gender Studies an der Ruhr Uni Bochum studiert, habe zwischen 2015 und 2018 den Master gemacht, und tatsächlich war Regina Becker-Schmidt in der Einführungs-Vorlesung „Einführung in die Geschlechtertheorien“ ganz zentral vertreten. Also ich habe sie quasi kennengelernt als das Fundament der Geschlechterforschung. Insbesondere Geschlecht als Strukturkategorie und das Konzept der doppelten Vergesellschaftung waren Gegenstand in mehreren Vorlesungsterminen. Geschlechtertheorien aus einer feministischen, marxistischen Perspektive.

BU: Bei mir war es ein bisschen anders. Ich habe 2001 angefangen zu studieren. Gender Studies, Geschlechterforschung konnte man an meiner Uni damals nicht studieren. Und ich bin auf Regina-Becker-Schmidt dann eigentlich gekommen über ein Seminar zur Kritischen Theorie. Ich fand es – ausgehend von meinem feministischen Hintergrund – irritierend, dass die eine nicht-ökonomistische marxistische Gesellschaftstheorie entwickelt und über Geschlecht als Gesellschaft mitkonstituierend gar nicht gesprochen haben sollen. Und dann habe ich mich auf die Suche nach Literatur aus einer feministischen Perspektive gemacht und darüber bin ich dann recht schnell auf Regina Becker-Schmidt gestoßen. Und im Studium der Sozialen Arbeit ist die dir aber auch nicht begegnet?

AR: Nee, erst im Rahmen meiner Doktorarbeit. In meiner empirischen Arbeit zur Verhütungspraxis von Mädchen ging es mir darum, die Grundzüge der geschlechtersoziologischen Perspektive auf Care und Sorge zu verstehen und herauszuarbeiten, welche verschiedenen theoretischen Perspektiven es innerhalb der Geschlechterforschung auf diesen Gegenstand und auf das Phänomen der Sorge gibt. Regina Becker-Schmidt war ganz wichtig für mich, als es darum ging, diese Elemente der Sorge zu verstehen. Sie hat insbesondere im Konzept der Doppelten Vergesellschaftung zum einen herausgearbeitet, dass Frauen in die verschiedenen Sphären, in die Produktions- und Reproduktionssphäre, eingebunden sind, sodass es für sie nicht nur zu einer doppelten Belastung kommt, sondern zu einer spezifischen Form des Eingebunden-Seins in die Gesellschaft. Damit einher geht andererseits eine kontinuierliche mentale Anstrengung und mentale Arbeit durch das Ausbalancieren von diesen verschiedenen Kräften. Dieses Austarieren hat sie mit dem Begriff der Ambitendenz gefasst und das ist ein Begriff, den ich in meiner Arbeit fruchtbar gemacht habe für das Vereinbarkeitsmanagement, das Mädchen eben auch schon leisten. Und deswegen bin ich an Regina Becker-Schmidt nicht vorbeigekommen, als es darum ging, Sorge grundständig zu verstehen. Sie berücksichtigt Mädchen allerdings immer in dieser Relation zu Frauen. Das wollte ich in meiner Arbeit überwinden und Mädchen wirklich in diesem grundständigen Eingebunden-Sein in Sorgestrukturen bedenken.

BU: Regina Becker-Schmidt hat sich ja empirisch mit Fabrik-Akkordarbeiterinnen beschäftigt, die gleichzeitig Sorgeverantwortung übernehmen. Also sie hat sich der empirischen Lebensrealität von Frauen der Arbeiter_innenklasse und deren Motivation zugewandt. Als ein empirisches Forschungsprojekt fand ich das total toll. Was mich nicht so überzeugt hat, war ein zentraler, feministischer Kritikpunkt von Regina Becker-Schmidt an der älteren kritischen Theorie, dass die Erfahrungen von Frauen, die Widersprüchlichkeit der Erfahrungen, die Frauen in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft machen, nur einseitig dargestellt würden, auch Widerständigkeiten größerer, aber auch kleinerer Form nicht zur Kenntnis genommen würden. Das waren ihre zentralen Kritikpunkte an der älteren Kritischen Theorie. Mir wollte nicht ganz einleuchten, dass damit schon ausgereizt ist, was Kritische Theorie mit Blick auf Geschlechterverhältnisse zu sagen hat. Ich wollte mich nochmal ein bisschen mehr auf den Schultern dieser Riesen, die ja auch die Lehrer von Regina Becker-Schmidt waren, umsehen. Es hat mich interessiert, wo denn die Kategorie Geschlecht im Denken der älteren Kritischen Theorie vorkommt. Ausgehend von dieser Frage bin ich darauf gestoßen, dass Familie eine ganz zentrale Rolle spielt, auch Sexualität aufgrund des Einflusses der Psychoanalyse, und dem bin ich dann genauer nachgegangen.

AR: Dadurch, dass ich eher in der Anwendung mit Regina Becker-Schmidt gearbeitet habe, würde ich mich so verorten, dass ich auf ihren Schultern stehe. Ich habe sie so verstanden, dass sie Frau-Sein oder Geschlecht als Strukturkategorie – also im Vergleich zu dekonstruktivistischen Perspektiven beispielsweise – ganz stark gemacht hat. Und für meine Arbeit war dieses Eingebunden-Sein in die Strukturen wichtig.
Oft hatte ich den Eindruck, dass in der Rezeption von Regina Becker-Schmidt gar nicht genug darauf geachtet wird, dass insbesondere ihre Ausführungen zur Doppelten Vergesellschaftung ein empirisches Fundament haben und deren Aussagekraft dadurch ja nochmal eine ganz andere ist, als wenn das nur in diesen theoretischen Strukturen bleibt.

BU: Der empirisch auch in einer Klassenanalyse fundierte Aspekt des Konzepts verschwindet in der Rezeption. So schafft Rezeption mit daran, dass Intersektionalität dann ab den 2000ern nochmal so sehr neu erscheinen kann, weil genau dieser Ausgangspunkt von Klassenanalyse gar nicht so sehr wahrgenommen wird, sondern es dann nur noch als ein frauen- oder geschlechterforschendes Theorem gelesen wird. Und gleichzeitig finde ich das total interessant, weil häufig ist es doch eigentlich so, dass die bürgerliche Klasse über Verallgemeinerung auch ihre Dominanz, ihre Hegemonie durchsetzt und dass Regina Becker-Schmidt eine umgekehrte Bewegung genommen hat. Sie hat Frauen einer marginalisierten Klasse untersucht und hat an deren empirischer Lebensrealität dann ein Konzept entwickelt, wie Frauen überhaupt in die gesellschaftliche Ordnung eingebunden sind.

AR: Also, ich habe mich in meiner Arbeit nicht mehr genug daran abgearbeitet, aber ich glaube, dass diese Intersektionalitätsdebatte, genau wie du es gerade sagst, so neu erscheint und dieses Konzept „Intersektionalität“ auch oft schwammig und ungenau ist, weil dort beispielsweise die Kategorie „Alter“ – und damit habe ich mich ja ganz grundlegend beschäftigt – immer subsummiert ist. Ich habe versucht, in meiner Arbeit diese Verschränkung aus Geschlecht und Alter nochmal ganz grundsätzlich zu verstehen, ohne einen Intersektionalitätsansatz. Weil es mir wirklich um diese beiden Kategorien geht und nicht um ganz viele verschiedene, die alle miteinander wirken.
Mich würde noch interessieren, welches analytische Potenzial du in Regina Becker-Schmidts Arbeiten siehst, um weiter mit ihr zu arbeiten?

BU: Das Erste, was mir einfällt, ist, dass Regina Becker-Schmidt – von der Frankfurter Tradition und der Dialektik der Aufklärung kommend – immer argumentiert hat, dass Subjektkritik mit Gesellschaftskritik zusammen geht. Dass „Subjekt“ ja letztlich auch keine überhistorische Struktur ist, sondern ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst. In feministischer Theorie oder der Geschlechterforschung wird diese explizite Verbindung zu Gesellschaft häufig nicht so ausbuchstabiert.
Und ich fand bei Regina Becker-Schmidt auch ihren Bezug auf die Psychoanalyse interessant. Sie hat wirklich Soziologie mit einer psychoanalytischen Perspektive verbinden können. Das ist auch eine besondere Qualität ihrer Arbeiten, ein tieferes Verständnis von psychodynamischen Prozessen zu haben. So eine psychoanalytisch aufgehellte Gesellschaftsanalyse ist schon etwas, wo es sich auch in Zukunft lohnt, das weiterzuführen. Ich glaube, da wäre es echt toll, wenn da jemand auf ihre Schultern klettert und von da aus weiter schaut.
Und was ich noch stark finde, ist ihre Beschäftigung mit der Verwahrlosung von Sorge oder der gesellschaftlichen Unbekümmertheit um Sorge. Für die Soziale Arbeit, für den Pflege- und Sozialarbeitssektor sind das ganz wichtige Analysen, die aus der Perspektive einer feministischen Gesellschaftstheorie auch Erklärungen dafür bieten, warum diese gesellschaftlichen Sektoren weniger anerkannt sind.

AR: Ja, und ich weiß nicht, wie du das beurteilen würdest, aber ich finde, das ist noch nicht gut genug ausbuchstabiert. Also, in den Theorien der Sozialen Arbeit wird kein Bezug genommen auf diese Ausarbeitung von Regina Becker-Schmidt. Das ist vielleicht nochmal ein großes To-Do an uns, an andere. Ich erlebe, dass es in der Verwissenschaftlichung Sozialer Arbeit ganz oft darum geht, über die Soziale Arbeit zu forschen, aber die Finger schmutzig macht man sich nicht so gerne. Und das hat auch etwas mit der Abwertung von diesem Tätigkeitsfeld zu tun. Ich finde, da ist noch so viel zu tun und da werde ich immer wieder auf Regina Becker-Schmidt zurückgreifen, hoffentlich. Oder auch mal mit dir zusammen, Barbara, wie wär’s?

Redaktionelle Betreuung dieses Beitrags: Sandra Beaufaÿs

Literatur

Rauber, Anne (2024). Caring Girlhood – Verhütung als Sorgearbeit von Mädchen (Reihe Geschlecht & Gesellschaft, Bd. 85). Wiesbaden: Springer VS.

Umrath, Barbara (2019). Geschlecht, Familie, Sexualität: die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung. Frankfurt/Main: Campus.

Zitation: Anne Rauber im Interview mit Barbara Umrath: Auf den Schultern von Riesinnen? Zur Aktualität von Regina Becker-Schmidt, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 05.11.2024, www.gender-blog.de/beitrag/aktualitaet-regina-becker-schmidt/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20241105

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Dr. Anne Rauber

Anne Rauber ist Post-Doc an der Hochschule Bielefeld am Fachbereich Sozialwesen sowie Bildungsreferentin bei der Arbeiterwohlfahrt Münster-Recklinghausen in der Fachstelle Jugendarbeit & Sexualpädagogik. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Jugend- und Geschlechterforschung, der Sorgearbeit sowie der qualitativen Sozialforschung im Kontext der Sexualpädagogik.

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Dr. Barbara Umrath

Studium der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie an der Universität Augsburg und der New School for Social Research. Promotion in Soziologie an der Universität Flensburg. Derzeit Vertretungsprofessorin für „Soziale Arbeit und Gesellschaft“ an der Hochschule Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie und Geschlechterforschung für die Soziale Arbeit, feministische Gesellschafts- und Subjekttheorie, partizipative Sozial-/Praxisforschung.

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Kommentare

Prof. Dr. Christine Wimbauer | 05.11.2024

Regina Becker-Schmidt weilt nicht mehr unter uns. Welch großer Verlust. Sie war in meinen Augen eine der größten Vorreiterinnen einer herrschaftskritischen Geschlechterforschung. Kaum eine meiner Forschungen und Bücher kommen ohne ihre Theoreme aus. In über 20 Jahren hielt ich so gut wie keine Lehrveranstaltung ohne einen (meist mehrere) Text(e) von Regina Becker-Schmidt. Teils fast ein halbes Jahrhundert alt und ungebrochen höchst aktuell – wenn auch leider nicht bei allen (Gutachtern) und viel zu wenig international bekannt – sind ihr Gesamtwerk und das Theorem der Doppelten und widersprüchlichen Vergesellschaftung von Frauen als untergeordnete Genusgruppe, der „Verdeckungszusammenhang“ und die „falschen Verknüpfungen“, die strukturelle Abwertung und Unsichtbarmachung von Sorgearbeit und Reproduktionstätigkeiten, die strukturellen Widersprüche im Lebenszusammenhang von Frauen. Die Doppelperspektive auf die vergeschlechtlichten Subjekte und ihre (kapitalistische) Vergesellschaftung würde vielen, dabei sogar auch einigen gegenwärtigen materialistischen Theorien der Sozialen Reproduktion, weitergehende Erkenntnisse erlauben. Die Verbindung von Subjekttheorie und Gesellschaftstheorie ist ungebrochen aktuell. Die damit einhergehende Widerspruchsanalyse scheint mir gar aktueller denn je. Ich werde sie immer suchen, die »Widersprüche zwischen Möglichem und Faktischem, […] zwischen Ideologien und sozialen Zuständen, zwischen Anpassungszwängen und Widerstandspotentialen« (Becker-Schmidt 2001: 93) – und das vielleicht doch Mögliche, angesichts der »Spannung zwischen negativer Faktizität und nicht auszuschließender Potenzialität« (Becker-Schmidt 2001: 105). Vielen Dank, Regina Becker-Schmidt.

Christine Wimbauer

 

Prof. Dr. Christine Bauhardt | 05.11.2024

1990 nahm ich erstmal am damals noch Soziologentag genannten Kongress für Soziologe teil. Ich hörte fasziniert der Debatte zwischen Regina Becker-Schmidt und Reinhard Kreckel zum Thema „Geschlecht als askriptives Merkmal oder als Strukturkategorie“ zu. Damals konnte ich mir nicht einmal ansatzweise erträumen, jemals selbst beruflich in der Universität zu landen, das war weitestmöglich entfernt von meiner Vorstellungskraft. Aber Regina Becker-Schmidts intellektuell höchst anspruchsvoller Vortrag, ihre beharrliche Argumentation im Hinblick auf Geschlecht als Strukturkategorie von Gesellschaft und eben nicht im Sinne des Mainstreams als soziologische Differenzvariable, hat mich damals tief bewegt und prägt mein Denken bis heute. Dieser Vortrag ist mir als Sternstunde feministischer Intellektualität in Erinnerung geblieben.

Christine Bauhardt

Prof. Dr. Gabriele Griffin | 05.11.2024

It is with great sadness that I've heard of the death of Regina Becker-Schmidt. She belongs to a very important generation of women in German academe who helped pioneer Women's/Gender Studies as a field and became a highly respected spokesperson for feminist work. Her engagement with and development of feminist critical theory was among her great achievements. She is a significant loss to the feminist community.

Gabriele Griffin

Professor of Gender Research

Uppsala University

Gertrude Eigelsreiter-Jashari | 05.11.2024

Ich bin sehr traurig, dass Regina Becker-Schmidt nicht mehr unter uns ist. Ich konnte sie als Lehrende bei der Internationalen FrauenUniversität (ifu) in Hannover 2000 erleben. Ich schrieb dort meine ersten Konzepte für meine Diss. Seit damals sind ihre Schriften für mich und meine Arbeit wichtig. Ich konnte durch sie wesentliche Erkenntnisse gewinnen und bin so froh, dass es solche Wissenschafterinnen wie sie gibt!

Gertrude Eigelsreiter-Jashari

Lektorin an der Universität Innsbruck

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