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Headergrafik: Daniela Rüther. BU zu Foto: Impression aus dem ersten Lockdown, die zeigt, dass über das ‚generische Maskulinum‘ die nach wie vor zentrale Geschlechterdimension für die Filialgeschäfte schlicht ausgeblendet wird.

Forschung

Die andere Seite der Ladentheke

06. Dezember 2022 Daniela Rüther

Wir begegnen ihnen jeden Tag beim Einkauf, aber beachtet werden sie kaum: Verkäuferinnen in den Großbetrieben des Lebensmitteleinzelhandels. Zu Beginn der Corona-Krise erlebten sie eine bis dahin nicht erfahrene Anerkennung. Sie wurden als 'systemrelevant' aufgewertet und als 'Heldinnen des Alltags' gefeiert: Eine Wertschätzung, die den Frauen an der Kasse selten zu Teil wird. Es waren und sind vor allem Frauen, die dort arbeiten. Der Verkaufsberuf ist in der Bevölkerung nicht gut angesehen. Nach einer Umfrage des Bundesinstituts für Berufsbildung von 2017 rangiert er auf der Skala der Beliebtheit an letzter Stelle. Insofern verwundert es nicht, dass die Geschichte des Verkaufspersonals in den Großfilialbetrieben des Lebensmitteleinzelhandels noch nicht geschrieben ist. Die boomende Konsumgeschichte hat vor allem die Menschen vor der Ladentheke, die Konsumentinnen und Konsumenten untersucht, nicht jedoch diejenigen, die dahinterstanden und die Waren an den Mann und – im Lebensmitteleinzelhandel vor allem – an die Frau brachten.

Das soll sich jetzt ändern. Ein jüngst gestartetes, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Projekt am Lehrstuhl von Professor Dr. Maren Lorenz (Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte) an der Ruhr-Universität Bochum erforscht „Die andere Seite der Ladentheke“ und nimmt die Verkäuferinnen in den Großfilialbetrieben des Lebensmitteleinzelhandels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick.

Ausgeblendeter „Betriebsfaktor Mensch“

In Anbetracht der Bedeutung, die die historische Forschung den Großbetrieben des Lebensmitteleinzelhandels allgemein beimisst, ist es erstaunlich, dass die Menschen, die dem großbetrieblichen Distributionssystem vor Ort in den Filialen ein Gesicht gaben, bislang nicht in den Fokus der Forschung geraten sind. Die Wirtschaftsgeschichte ist sich weitgehend einig, dass es die damals sogenannten Massenfilialbetriebe waren, die den Weg in die Massenkonsumgesellschaft geebnet haben (vgl. Kleinschmidt/Logemann 2021). Sie trugen wesentlich dazu bei, dass sich die Ernährung der Bevölkerung schon vor dem Ersten Weltkrieg verbesserte und dass im Laufe der folgenden Jahrzehnte ein immer geringerer Anteil des verfügbaren Einkommens für Nahrungsmittel aufgewendet werden musste, weil die Preise sanken (vgl. Haupt 2003). Die Massenfilialbetriebe entstanden erst zum Ende des 19. Jahrhunderts und besaßen zunächst nur einen geringen Anteil am Markt. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein prägten kleine und kleinste Läden das Gesicht des deutschen Lebensmitteleinzelhandels (vgl. Rüther 2020). Doch die Großfilialbetriebe setzten sich gegen große politische Widerstände schließlich durch und prägen heute das Gesicht des Handels in Städten und Kreisen. Ursächlich dafür war ihre überlegene Effizienz und Wirtschaftlichkeit – so das gängige Narrativ –, dem Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte folgen. Es blendet den „Betriebsfaktor Mensch“ jedoch vollkommen aus.

„Tüchtigkeit des Verkaufspersonals“

Dass die Frauen hinter der Ladentheke eine zentrale Rolle für den ökonomischen Erfolg der Massenfilialbetriebe besaßen, wussten aber Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Von einem der ersten Lebensmittelfilialisten im Rheinland, Cornelius Stüssgen, ist das Zitat aus den frühen 1930er-Jahren überliefert: „Der Filialbetrieb steht und fällt mit der Tüchtigkeit des Verkaufspersonals“ (vgl. Seyffert 1932). Ein wesentlicher Grund: die Art des Verkaufs. Bis in die 1950er-Jahre wurde in Deutschland die Ware über die Theke verkauft, erst dann setzte sich langsam die Selbstbedienung durch. Der Verkaufsvorgang hat beim Thekenverkauf eine ganz andere Qualität als in den heutigen Supermärkten mit Selbstbedienung, wo die Kundschaft selbst die Waren aussucht, in den Einkaufswagen legt und erst nach der Kaufentscheidung an der Kasse auf Verkaufspersonal trifft. Stehen die Kunden und Kundinnen vor einer Ladentheke, kommt der beratenden Bedienung durch die Verkäuferin eine entscheidende Rolle für den Verkaufserfolg zu.

Weibliche Angestellte

Die Frauen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Massenfilialbetrieben hinter der Verkaufstheke standen, waren Angestellte. Das, was über sie bislang bekannt ist, verdankt sich vor allem der Frauen- und Geschlechtergeschichte, die in den 1980er-Jahren die Thematik der weiblichen Angestellten zu erforschen begann. Bis dahin hatte die Angestelltenforschung ihr Sujet betrieben, ohne Frauen auch nur ansatzweise in den Blick zu nehmen (vgl. Bock 1983).

Die weibliche Angestellte war am Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Erscheinung und wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts schnell zu einem Massenphänomen. Zwischen 1907 und 1925 verdreifachte sich ihre Zahl auf rund 1,5 Millionen (Schulz 2000, S. 73). Der größte Teil war im Verkauf beschäftigt. In der Zeit der Weimarer Republik gehörten Verkäuferinnen zu den „heißdiskutierten Prototypen weiblicher Emanzipation“ (Frevert 1981, S. 172; dies. 1986, S. 507ff.). Bekannt ist das medial vermittelte Bild der sogenannten „neuen Frau“, das auch heute noch die Vorstellung von Frauen in den vermeintlich goldenen Zwanzigerjahren prägt. Die „neue Frau“ war jung, modisch, sportlich, unabhängig und berufstätig. Schon die frühe Frauenforschung kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die ökonomische Emanzipation der Frau in der Weimarer Republik ein Mythos ist (vgl. Bridenthal 1973). Die Frauenerwerbstätigkeit wurde je nach Konjunkturlage bekämpft oder gefördert, Frauen waren die Reservearmee, die zum Einsatz kam, wenn Not am Mann war und die zurückbeordert wurde, wenn die Notlage vorüber war. Der Arbeitsmarkt war geschlechtsspezifisch segregiert, d. h. Frauen waren auf spezifische „weibliche“ Berufe festgelegt, die zumeist untergeordnet und schlecht bezahlt waren. Dazu wurden auch die Verkäuferinnen gerechnet. Dementsprechend sahen die meisten Frauen ihre außerhäusliche Berufstätigkeit als Durchgangsstation zur Ehe an.

Branchen und Betriebsgrößen

Ein Grundproblem der bisherigen Forschung ist jedoch, dass dieses Bild der weiblichen Angestellten und damit auch der Verkäuferin weder nach Branchen noch nach Betriebsgrößen unterscheidet. Die Situation der weiblichen Angestellten im Verkauf muss jedoch je nach Größe des Betriebes und Art der Branche sehr unterschiedlich gewesen sein. Zahlen aus dem Jahre 1925 zeigen, dass der größte Teil der Filialbetriebe weniger als zehn Geschäfte besaß. Dort waren fast 80 Prozent der Beschäftigten im Verkauf unter Vertrag. Großfilialbetriebe, nach der zeitgenössischen Definition Betriebe mit mehr als zehn Läden, machten nur einen Bruchteil aus. Keine vier Prozent der Mitarbeitenden waren in dieser Betriebsform anzutreffen (Seyffert 1932). Bisher ist über ihre Situation und Arbeitsbedingungen kaum etwas bekannt.

Mithelfende Familienangehörige

Ebenfalls wenig bekannt ist über die Verkäuferinnen, die die größte Gruppe hinter den Ladentheken ausmachten. Sie waren sogenannte „mithelfende Familienangehörige“ (Rüther 2014, S. 481). In den kleinen und kleinsten Betrieben des Lebensmitteleinzelhandels standen die Ehefrauen (und Töchter) der Ladeninhaber hinter der Theke – ohne Arbeitsvertrag und ohne Anspruch auf Lohn, Rente oder Teilhabe am Erwirtschafteten. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) verpflichtete Ehefrauen im Geschäft des Mannes mitzuarbeiten. Laut BGB durfte allein der Ehemann über den Gewinn des Betriebes verfügen, ebenso wie er auch das Vermögen der Frau verwalten konnte. Mithelfende Ehefrauen standen also in einem Herrschaftsverhältnis, das durch die Bestimmungen des BGB gestaltet war. Frauen waren danach „Bürger zweiter Güte“, wie eine Zeitgenossin formulierte (Rühle-Gerstel 1932, S. 17). Nach der Volks- und Berufszählung von 1925 waren davon über vier Millionen erwerbstätige Frauen als mithelfende Familienangehörige betroffen, nicht alle im Verkauf, sondern ein Großteil in der Landwirtschaft. Als Vergleichsmaßstab für die Verkäuferinnen in den Großfilialbetrieben ist dieser informelle Arbeitsmarkt relevant. Im Unterschied zu den Mithelfenden standen angestellte Verkäuferinnen zum Arbeitgeber in einem Vertragsverhältnis. Die Bezahlung sowie Arbeitszeiten und Urlaubsansprüche waren vertraglich fixiert und im Zweifel vor Gericht einklagbar, zumindest theoretisch. Allerdings muss auch hier beachtet werden, dass verheiratete Frauen wiederum durch das BGB eingeschränkt waren, denn Ehemänner konnten Arbeitsverträge der Ehefrauen kündigen, wenn die 'ehelichen Interessen' gefährdet waren.

Reizthema der Zeit

Nicht nur rechtlich, sondern auch in der zeitgenössischen Wahrnehmung machte es einen großen Unterschied aus, ob eine Frau als Mithelfende hinter der Verkaufstheke stand oder als Angestellte. Denn nach den zeitgenössischen normativen Vorstellungen galt es als „Ausnahme, Sonderlichkeit oder Mißgeschick“, wenn eine Frau nicht den größten Teil ihres Lebens in der Familie verbrachte (Rüther 2014, S. 486). Die außerhäusliche Erwerbstätigkeit der Frau war ein Reizthema der Zeit. Gerade Verkäuferinnen waren als Angestellte in der Öffentlichkeit sichtbar. Hingegen wurde die Tätigkeit der Mithelfenden nicht als problematisch angesehen, da sie mit dem Hausfrauen- und Mutterberuf eng verbunden war. Die Mithelfenden waren vereinbar mit dem rückwärtsgewandten Ideal der „Hauswirtschaft“. Im Prinzip drückte sich hier das Unbehagen mit den sozio-kulturellen Auswirkungen der modernen Industriegesellschaft aus. Inwieweit die Tätigkeit in den Großfilialbetrieben des Lebensmitteleinzelhandels den Verkäuferinnen eine Möglichkeit bot, diesem rückwärtsgewandten Ideal zu entfliehen und eine echte Berufsidentität jenseits des familiären Rahmens zu leben, wird zu untersuchen sein.

Literatur

Bock, Gisela (1983). Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven. In Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert (S. 22–60). München: Beck.

Bridenthal, Renate (1973). Beyond Kinder, Küche, Kirche: Weimar Women at Work. Central European History, 6(2), 148–166.

Frevert, Ute (1979). Vom Klavier zur Schreibmaschine. Weiblicher Arbeitsmarkt und Rollenzuweisungen am Beispiel der weiblichen Angestellten in der Weimarer Republik. In Annette Kuhn & Gerhard Schneider (Hg.), Frauenrechte und die gesellschaftliche Arbeit der Frauen im Wandel: fachwissenschaftliche und fachdidaktische Studien zur Geschichte der Frauen (S. 82–112). Düsseldorf: Schwann.

Frevert, Ute (1981). Traditionale Weiblichkeit und moderne Interessenorganisation: Frauen im Angestelltenberuf 1918–1933. Geschichte und Gesellschaft, 7(3/4), 507–533.

Frevert, Ute (1986). Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Haupt, Heinz-Gerhard (2003). Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Kleinschmidt, Christian & Logemann, Jan (Hg.). (2021). Konsum im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg.

Seyffert, Rudolf (Hg.). (1932). Handbuch des Einzelhandels. Stuttgart: Poeschel.

Rühle-Gerstel, Alice (1932). Das Frauenproblem der Gegenwart. Eine psychologische Bilanz. Leipzig: Hirzel.

Rüther, Daniela (2020). Als Massenfilialbetrieb im Dritten Reich. Handlungsräume und Praxis eines führenden Großbetriebs im Lebensmittelhandel. In Lutz Niethammer (Hg.), Tengelmann im Dritten Reich. Ein Familienunternehmen des Lebensmittelhandels und der Nationalsozialismus (S. 87–159). Essen: Klartext.

Rüther, Daniela (2014). Die unsichtbare Mehrheit: Frauen als mithelfende Familienangehörige in der Weimarer Republik. In Sandra Maß & Xenia von Tippelskirch (Hg.), Faltenwürfe der Geschichte. Entdecken, entziffern, erzählen S. 481–494. Frankfurt/New York: Campus.

Schulz, Günther (2000). Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert. München: Oldenbourg.

Zitation: Daniela Rüther: Die andere Seite der Ladentheke, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 06.12.2022, www.gender-blog.de/beitrag/andere_seite_ladentheke/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20221206

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Dr. Daniela Rüther

Dr. Daniela Rüther, Historikerin, Projektleiterin des DFG-Projektes „Die andere Seite der Ladentheke. Verkäuferinnen in den Großfilialbetrieben des Lebensmitteleinzelhandels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ am Lehrstuhl von Prof. Dr. Maren Lorenz (Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte) an der Ruhr-Universität Bochum.

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