Skip to main content
Headergrafik: Sergiy Serdyuk/Adobe-Stock

Interview

Anthropology of Sex, Gender and Bodies – Nachlese zu einem studentischen Projekt

16. Mai 2023 Manuel Bolz Sandra Beaufaÿs

„Sex.Sex.Sex. Kulturwissenschaftliche Höhepunkte & Abgründe“ – unter diesem provokanten Titel gestaltete und koordinierte eine Gruppe von Bachelor- und Masterstudierenden vom Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Hamburg gemeinsam die 33. Studierendentagung der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (DGEKW). Sandra Beaufays sprach mit Manuel Bolz aus dem Veranstaltungsteam, das im Dezember 2022 auch einen umfangreichen Tagungsband veröffentlichte.

Um was ging es in Ihrem Tagungsprojekt? Der Titel lässt der Fantasie ja freien Lauf. Was war die Idee dahinter?

Die letzte Studierendentagung im deutschsprachigen Raum zu den Themenfeldern Geschlechter, Sexualität und Körper fand Anfang der 1990er-Jahre unter dem Motto „Macho, Mietze, Mumpitz: zur kulturellen Konstruktion von Geschlecht“ statt. Wir wollten die Themen neu auf die Agenda setzen und die Perspektive darauf aktualisieren.

Die volkskundlich-kulturanthropologische Geschlechter- und Frauenforschung hat sich seit den 1980er-Jahren entwickelt und sich dank einer bis heute aktiven Kommission über die Vernetzung innerhalb des Fachs, mit Buchpublikationen und durch Tagungen institutionalisiert. Die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung, die Forschungsgegenstände und Forschungsfelder selbst, auch die akademische Wissensproduktion und die Forschungspraxis hat sich seither verändert, weg von essentialistischen und verkürzten Zuschreibungen und hin zu dekonstruktivistischen Ansätzen einer dekolonialen, intersektionalen und queerfeministischen Kulturanalyse.

Um ein breites Spektrum an Forschungszugängen zu erlauben, wurde der Call for Papers durch sieben Schwerpunktsetzungen gerahmt, welche die Themenfelder Sexualitäten, Körper und Geschlechter unserer Meinung nach auf verschiedene Art und Weisen durchdringen und ein Mapping erlauben: Geschlecht/Identität, Moral/Ethik, Gesundheit und Wissensregime, Arbeit, Politik, Technologie/Digitalität und Ästhetik. Diese Schwerpunkte wurden von uns in verschiedene thematische Panel übersetzt. Mit 50 Präsentierenden und über 450 Teilnehmenden stellt die Studierendentagung die größte Nachwuchstagung der DGEKW dar, die es bis dato gegeben hat.

Wie sah das Tagungsprogramm aus, sind alle Präsentationen von Studierenden?

Nicht nur. Das Programm setzte sich einerseits zusammen aus Präsentationen, die auf Prüfungsleistungen wie Hausarbeiten und Qualifikationsarbeiten bis hin zu Promotionsprojekten von Nachwuchswissenschaftler:innen basierten, es beteiligten sich aber auch bereits etablierte Forschende. Hinzu kamen Grußworte, Einordnungen und Kommentare von Professor:innen, auch von Gleichstellungsbeauftragten verschiedener Hochschulen. Daneben gab es künstlerische und musikalische Performances, zum Beispiel von einem Stripper:innen-Kollektiv und einer Hamburger Band sowie queerfeministische Workshops.

Erwähnenswert ist auch das breite Spektrum an Forschungsfeldern und Disziplinen: historisch-kulturwissenschaftliche, gegenwartsorientierte ethnographische sowie sozial- und kulturtheoretische Perspektivierungen aus der Empirischen Kulturwissenschaft, Soziologie, Sozial- und Kulturanthropologie, Medienwissenschaften, Literatur- und Geschichtswissenschaften (siehe Programm).

Was kann die Empirische Kulturwissenschaft bzw. Kulturanthropologie zu den Themenfeldern Sexualitäten, Körper, Geschlecht beitragen?

Empirische Kulturwissenschaft und Kulturanthropologie nähern sich diesen Themenfeldern mit einem verstehenden und dekonstruktivistischen Ansatz an. Die kulturanalytische Arbeitsweise und induktive Fachlogik legt Praxen, Prozesse und Personen der Herstellung, Distribution, Transformation und Rezeption von Geschlechter-, Sexualitäts- und Körperwissen offen. Die quellenbasierten und theoriegeleiteten Analysen arbeiten Wechselwirkungen, Korrespondenzen und Spannungsfelder in Bezug auf historische und gegenwärtige Alltage heraus. Unsere Disziplin antwortet damit auf komplexe soziale und kulturelle Phänomene und versucht sie einzuordnen, das spiegelt sich auch in der Tagung und dem Sammelband wider.

Das klingt jetzt sehr theoretisch, können Sie ein paar Themenbeispiele geben?

Untersucht wurden beispielsweise Beziehungsnetze der Polyamorie, geschlechtliche Vielfalt und Nichtbinarität in textlichen Repräsentationen sowie Diskriminierungen innerhalb vulnerabler Gruppen. Es gab Beiträge zu Utopie-Festivals und anderen Vergnügungskulturen wie Cruising, Tanzlieder, Pup-Play sowie kinky Sexualitäten, aber auch zu Wissensregimen und Biopolitiken von Abtreibung, Sexarbeit und Migration. Ergänzt wurden diese Themen und Forschungsfelder durch Perspektivierungen auf Gender, Körper und Sexualität und ihre Rolle in der urbanen und ruralen Raumproduktion, -konstruktion und -aneignung. Auch soziale Bewegungen gegen sexualisierte Gewalt, Repräsentationsformen und Körperbilder in digitalen Räumen sowie künstlerisch-ästhetische Produktionen und Rezeptionen u. a. in Schriftartefakten wie Zines, Grundschulbüchern oder Liedtexten werden untersucht.

Was war das Ziel der gesamten Veranstaltung?

Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung ging es uns auch um eine vielstimmige Art und Weise der gemeinsamen kritischen Wissensproduktion. Wir blicken aus der Perspektive einer engaged/applied/public Anthropology auf das Thema, um eigene Positionalitäten der Sprechenden sowie Ein- und Ausschlussmechanismen, die dadurch produziert werden, sichtbar zu machen. Das heißt auch, das generierte Wissen in andere Kontexte zu übersetzen und dieses Wissen einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Denn auch wenn wir versucht haben, konzeptionell die Grenzen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeiten zu verwischen, existieren nach wie vor Barrieren wie z. B. persönliche oder zeitliche Ressourcen oder das fehlende Wissen über die Logiken in universitären Kontexten.

Welche Bedeutung hat der Aspekt, dass es sich um eine „Studierendentagung“ mit daran angeschlossenem Publikationsprojekt handelt?

Es soll Forschung von Nachwuchswissenschaftler:innen innerhalb und außerhalb der Disziplin sichtbar gemacht werden, anderseits können sich Themen auf den wissenschaftlichen Agenden der jeweiligen Fächer aktualisieren. Die Publikation stellt natürlich für die Nachwuchswissenschaftler:innen auch eine „wissenschaftliche Währung“ bzw. ein spezifisches Qualifikationsmerkmal in der eigenen Karriereplanung in der Wissenschaft oder im wissenschaftsnahen Bereich dar. Die „Genre-Zwänge“ von wissenschaftlichen Publikationen haben wir in dem Kontext aber auch kritisch eingeordnet: Wir waren daran interessiert, künstlerisch-didaktischen Repräsentationsformen Raum zu geben, gleichzeitig mussten diese für die Reputation unseres Tagungsbandes wissenschaftlich vermittelbar sein – auch zum Nachteil einiger künstlerisch-wissenschaftlicher Beiträge. Wir konnten aus den vorgegebenen Konventionen nur bedingt ausbrechen, und das produzierte Ausschlüsse. Das war teilweise auch darin begründet, dass wir uns als primär studentisches Herausgeber:innenteam und mit einem Tagungsband von und für Nachwuchswissenschaftler:innen besonders positionieren müssen.

Der Tagungsband der 33. Studierendentagung der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (DGEKW) „Anthropology of Sex, Gender and Bodies. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Alltägliches“ im Hamburger Journal für Kulturanthropologie (HJK) ist 2022 erschienen. Der 550-seitige, bebilderte Sammelband mit 33 Beiträgen ist als Open Access- und Printversion erhältlich.

Literatur

Manuel Bolz, Kim Chanel Winterhalter, Maren Sacherer, Konstantin Mack, Laura Völz, Kyra Hardt, Karoline Kaiser, Stefanie Mallon (Hg.): Anthropology of Sex, Gender and Bodies. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Alltägliches. Hamburger Journal für Kulturanthropologie (HJK), Nr. 15 (2022). Abrufbar unter https://journals.sub.uni-hamburg.de/hjk/issue/view/101.

Zitation: Manuel Bolz im Interview mit Sandra Beaufaÿs: Anthropology of Sex, Gender and Bodies – Nachlese zu einem studentischen Projekt, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 16.05.2023, www.gender-blog.de/beitrag/anthropology-sex-gender-bodies/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230516

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Sergiy Serdyuk/Adobe-Stock

Manuel Bolz

Manuel Bolz, M.A., ist Kulturwissenschaftler/Kulturanthropologe aus Hamburg. Seine Forschungsinteressen umfassen die Historische Anthropologie, die Ethnografie von Emotionen, intersektionale Ansätze auf Gender, Sexualität und Körper, die Stadt-, Raum- und Vergnügungsforschung sowie die Medizinanthropologie.

Zeige alle Beiträge

Dr. Sandra Beaufaÿs

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

Zeige alle Beiträge
Netzwerk-Profil Dr. Sandra Beaufaÿs

Schreibe einen Kommentar (max. 2000 Zeichen)

Es sind max. 2000 Zeichen erlaubt.
Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.
Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Kommentare werden von der Redaktion geprüft und freigegeben.