04. Oktober 2021 Jadranka Rebeka Anić
Nach den demokratischen Veränderungen (1989/1990) wurde in Kroatien eine Vielzahl von institutionellen Maßnahmen zum Schutz der Gleichberechtigung von Mann und Frau ergriffen. All dies geschah ohne öffentliche Aufregung oder Widerstand. Erst mit dem 2008 beschlossenen Antidiskriminierungsgesetz wurde die Öffentlichkeit erstmals mit dem Begriff Gender konfrontiert. Im speziellen historisch-politischen Kontext Kroatiens formierte sich international vernetzt eine Anti-Gender-Bewegung.
Gleichberechtigung
Bereits in der sozialistischen Zeit war Gleichberechtigung rechtlich garantiert und sie gehörte somit nicht zu den Errungenschaften der neuen demokratischen Gesellschaft. Dass der kroatische Begriff rod, der für den englischen Ausdruck gender steht, keine Aufmerksamkeit auf sich zog, erklärt sich womöglich dadurch, dass in kroatischen Gesetzen und Übersetzungen internationaler Dokumente nicht der Ausdruck rod (für das englische gender), sondern das herkömmliche Wort spol (für das englische sex) gebraucht wurde. Erst mit dem 2008 beschlossenen Antidiskriminierungsgesetz wurde in Kroatien erstmals der Begriff Gender diskutiert. Dieses Gesetz schuf die Voraussetzungen für Chancengleichheit und für den Schutz vor Diskriminierung, insbesondere bezüglich Genderidentität und sexueller Orientierung. Es trug die Frage nach der Bedeutung des Wortes rod (gender) verstärkt in die kroatische Öffentlichkeit.
Genderkonzept
Die fehlerhafte und verspätete Aufmerksamkeit für das Genderkonzept lässt sich besser nachvollziehen, wenn man schaut, in welchem Umfang sich kroatische wissenschaftliche Zeitschriften der Genderdebatte von 1960 bis 2000 stellten, d. h. in jener Zeitspanne, in der international wichtige Entwicklungen, Debatten und Diskurse stattfanden: die intensiven Diskussionen während und nach der vierten UN-Weltfrauenkonferenz in Peking und die Stellungnahme der Katholischen Kirche (1995); die Entwicklung der Gendertheorien und die Debatten insbesondere nach der Übersetzung von Judith Butlers Buch Gender Trouble (Möser 2007, 2009). Selbst die Übersetzung des Butler’schen Gender Trouble ins Kroatische – Nevolje s rodom: feminizam i subverzija identiteta – im Jahr 2000 wurde von kroatischen Wissenschaftler*innen kaum registriert.
Die internationalen Genderdebatten fanden keinen Widerhall in der kroatischen Wissenschaft. Dieser Umstand überrascht nicht, berücksichtigt man die negative Einstellung gegenüber dem Feminismus in der sozialistischen Zeit (1945–1990), zumal sich sowohl die Soziologie als auch die Philosophie in den vom System vorgegebenen, erlaubten Denkrahmen bewegten (Tomić-Koludrović 2009: 155–157).
Misstrauen gegenüber dem Feminismus
Diskussionen in Kroatien über Gender waren und sind noch immer bestimmt durch das traditionell hohe Misstrauen gegenüber dem Feminismus. In Kroatien ist der Begriff Feminismus weitgehend negativ besetzt. Das trifft besonders auf meinungsstarke kirchliche Kreise zu. Für diese galt schon der Feminismus der vorsozialistischen Ära, also vor dem Zweiten Weltkrieg, als ideologisches Instrument der Kommunisten, Liberalen und Freimaurer zur Zerstörung von Familie, Volk und Kirche. In der sozialistischen Phase sah man seitens der Kirche im Feminismus ausschließlich eine kommunistische „Keule“ gegen Familie, Nation und Kirche. Dabei wurde stets übersehen, dass auch von der Kommunistischen Partei der Feminismus abgelehnt und als westliche, bourgeoise Ideologie denunziert wurde. Nach der demokratischen Wende im Jahr 1990, besonders während des kroatischen Verteidigungskrieges (1991–1995), wurden feministische Organisationen wegen ihrer angeblichen anti-nationalen Einstellung angegriffen. Die kroatische Literatur zum Begriff Gender ist überwiegend feministischer Provenienz. Diese Konstellation führte zu einer starken Ablehnung des Genderkonzepts, über dessen theoretische Grundlagen jedoch zugleich große Unkenntnis besteht.
Die konservative Revolution
Die kroatische Gesellschaft war nach dem demokratischen Wandel ein fruchtbarer Boden für die Einführung der „konservativen Revolution“. Der Diskurs über die Gefahren der „Genderideologie“ wurde zum wichtigen Instrument im Rahmen des Versuches, die Gesellschaft neu auszurichten. Denn nach dem demokratischen Wandel kam es zu einer Revitalisierung der Religion (Vrcan 1999), die zum einen als Reaktion auf die Verfolgung von Religionsgemeinschaften im Sozialismus, zum anderen im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen vorangetrieben wurde und die die Religionszugehörigkeit als Bestandteil der nationalen Identität fasste. Die Revitalisierung der Religion zeigt sich insbesondere in der engen Verbundenheit des Staates mit der katholischen Kirche als mehrheitlicher Religionsgemeinschaft und der großen Anzahl der Kroatinnen und Kroaten, die sich als katholische Gläubige definieren.
Kirchliche Hierarchie und die Aktivist*innen der Anti-Gender-Bewegung argumentieren mit dem Katholizismus als führender Religion, wenn sie propagieren, dass bei Fragen der Verhütung, des Schutzes menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod, bei künstlicher Befruchtung, bei Sexualkunde in der Schule, bei der juristischen Definition von Ehe und Familie usw. die christlichen Verhaltensnormen berücksichtigt werden müssen. Diese Forderung weist direkt zu den Vatikan-Verträgen, die 1997 und 1998 zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Kroatien unterzeichnet wurden. Auf Grundlage dieser Verträge erlangte die katholische Kirche Einfluss in vielen Bereichen des staatlichen Systems, besonders in der Bildung, der Armee und dem Gesundheitswesen. Diese Verträge stellen das grundlegende Verfassungspostulat der Säkularität infrage (Marinović 2017) – so, wenn eine Verordnung festschreibt, dass in Kindergärten, Schulen und Universitäten „die Werte der christlichen Ethik“ beachtet werden sollen (Vertrag über die Zusammenarbeit, Artikel 1, Absatz 2). Darunter wird u. a. die traditionelle katholische Sexualmoral verstanden. Alle Positionen, die diese Sexualmoral zurückweisen oder infrage stellen, werden seitdem unter dem gemeinsamen Nenner „Genderideologie“ (Anić 2012) subsumiert.
Marxismus gegen Katholizismus
Um die gesellschaftlichen Prozesse in Kroatien zu verstehen, muss man an den Konflikt erinnern, den es im Sozialismus zwischen den zwei „Religionen“ Christentum und Marxismus gab. Er war durch „strenge Ausschließlichkeit, völlige Gegensätzlichkeit und äußerste Unverträglichkeit“ (Jukić 1994: 365) definiert. Dieser Konflikt, der auf beiden Seiten die Identität festigte und den Kollektivismus förderte, wurde in die Demokratie übertragen und von der kirchlichen Hierarchie und den sogenannten „politischen Katholiken“ (vgl. Jukić 1994: 366) gefördert. Der Hierarchie kam die kollektivistische Mentalität zupass, denn diese befreite sie von den Mühen des Dialogs in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft. Gleichzeitig erstickt der Kollektivismus den Dialog innerhalb der Glaubensgemeinschaften selbst, denn jedes Hinterfragen der Tradition oder der Aussagen der religiösen Führer wurde und wird als Schwächung der Position im öffentlichen Diskurs und als Verrat am eigenen Glauben verstanden.
Dem politischen Katholizismus diente die Religion in der sozialistischen Zeit als Mittel des politischen Protests gegen das damalige repressive System (Jukić 1994: 366). Nach dem demokratischen Wandel rekrutierte er sich aus den Reihen ehemaliger Kommunist*innen und aus Gläubigen, die das Zweite Vatikanische Konzil nie ganz akzeptiert hatten (Mardešić 2003: 24). Ihr Ziel war, der ganzen Gesellschaft per Gesetz „christliche“ Werte aufzuzwingen. Sie leben ihren Glauben nach dem dualistischen Prinzip, wonach der politische Gegner das wahrhafte und gefährlichste Übel ist, sie zweifeln an der Demokratie, dämonisieren Moderne und Säkularität, sind besessen von der Vergangenheit und dem Hass auf alles, was nicht katholisch ist (Mardešić 2003: 22–23).
Die Anti-Gender-Bewegung in Kroatien
Diese traditionsreiche Position des politischen Katholizismus bildete einen geeigneten Boden für die Einführung der „konservativen Revolution“, die eine Gruppe von Rückkehrer*innen (Hodžić/Štuhlhofer 2017: 68) aus Australien, Südamerika und den USA seit 2006 in Kroatien durchzuführen versucht. Gemeinsam mit Gruppen in Kroatien baute sie ein Netz von zivilgesellschaftlichen Vereinen auf, die Hauptträger der Anti-Gender-Bewegung wurden. Ihr Ziel ist es, auf die politischen Prozesse und die Gesetzgebung Einfluss zu nehmen. Auch wenn sie als Vereine der Zivilgesellschaft agieren, präsentieren sie sich als glaubwürdige Deuter der katholischen Doktrin. Kirchliche Dokumente, Äußerungen des Papstes, Positionen der Bischofskonferenzen und einzelner Bischöfe, in denen die „Genderideologie“ und der „Genderismus“ verurteilt wurden, kamen ihnen gelegen. Die große Unterstützung des Vatikans für den Anti-Gender-Diskurs machte und macht die Thesen von der „Genderideologie“ so gut wie unhinterfragbar.
Die aktuelle Situation
Der Mangel an wissenschaftlichen Debatten über Gendertheorien erleichterte es der katholischen Kirche, den Begriff Gender und alle seine Ableitungen (Gleichstellung der Geschlechter, Gender Mainstreaming usw.) als „Genderideologie“ und „Genderismus“ darzustellen (Anić 2021). Obwohl auch im internationalen Anti-Gender-Diskurs eine inhaltliche Verknüpfung von „Genderideologie“ mit Marxismus vorgenommen wird, hat sie im kroatischen Kontext aus den hier aufgezeigten historischen Gründen spezifische politische Konnotationen und eine besondere, mobilisierende Kraft. Er wird nämlich zur Abrechnung mit sozialdemokratischen Regierungen benutzt (mehr dazu Anić/Brnčić 2015). Theologische Arbeiten, in denen versucht wurde, auf die falsche und manipulative Deutung des Genderkonzepts in der Anti-Gender-Bewegung hinzuweisen (z. B. Anić 2011), wurden in der katholischen Kirche verurteilt. Auf Seiten der Frauenforschung und Gender Studies wurden diese ideologiekritischen Arbeiten hingegen ignoriert. Es herrscht die falsche Einschätzung vor, dass die von der katholischen Kirche mobilisierte Anti-Gender-Bewegung für die säkulare Gesellschaft keine Bedeutung hat.
Literatur
Anić, Jadranka Rebeka (2011): Kako razumjeti rod? Povijest rasprave i različita razumijevanja u Crkvi. Zagreb: Institut društvenih znanosti Ivo Pilar.
Anić, Jadranka Rebeka (2012): „Gender, Politik und die katholische Kirche. Ein Beitrag zum Abbau der alten Geschlechterstereotypen.“ Concilium 48 (4), 373–382.
Anić, Jadranka Rebeka (2021): „Anti-Genderismus in Kroatien – Kontextbezogene Besonderheiten.“ In Sonja A. Strube, Rita Perintfalvi, Raphaela Hemet, Miriam Metze & Cicek Sahbaz (Hg.): Anti-Genderismus in Europa. Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus. Mobilisierung – Vernetzung – Transformation. Bielefeld: transcript Verlag, S. 161–172.
Anić, Jadranka Rebeka & Brnčić, Jadranka (2015): „Gender and the Croatian Bishops’ Conference.“ Concilium 51 (1): 153–159.
Hodžić, Amir & Štulhofer, Aleksandar (2017): „Embryo, teddy bear-centaur and the constitution: Mobilizations against ‘gender ideology’ and sexual permissiveness in Croatia.“ In Roman Kuhar & David Paternotte (Hg.): Anti-Gender Campaigns in Europe. Mobilizing against Equality. London/New York: Rowman & Littlefield Publishers, S. 59–77.
Jukić, Jakov (1994): „Hrvatski katolici u vremenu postkomunizma.“ Crkva u svijetu 29 (4): 363–378.
Mardešić, Željko (2003): „Politički dualizam i koncilsko kršćanstvo.“ Nova prisutnost 1 (1): 5–26.
Marinović, Ankica (2017): „Neugodni mirisi ateizma: jedan aspekt hrvatske obrazovne stvarnosti.“ In Tvrtko Jakovina (Hg.): Dvadeset pet godina hrvatske neovisnosti – kako dalje? Zagreb: Centar za demokraciju i pravo Miko Tripalo, S. 397–414.
Möser, Cornelia (2007): „Aspekte der Gender-Debatte in Frankreich und Deutschland.“ Trijectoires 1: 12–23. doi.org/10.4000/trajectoires.99.
Möser, Cornelia (2009): French Gender? Die feministischen Gender-Debatten in Frankreich. Saarbrücken: Verlag Dr. Müller.
Tomić-Koludrović, Inga (2009): „Pogled u budućnost.“ Revija za sociologiju 40 (3–4): 139–181.
Vrcan, Srđan (2001): Vjera u vrtlozima tranzicije. Split: Dalmatinska akcija.
Zitation: Jadranka Rebeka Anić: Anti-Gender-Bewegung in Kroatien. Kontexte und Konflikte, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 04.10.2021, www.gender-blog.de/beitrag/antigender_kroatien/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20211004
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