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Forschung

Arbeit 4.0 aus Geschlechterperspektive

23. November 2021 Edelgard Kutzner

Mit Arbeit 4.0 wird allgemein ein digitaler Transformationsprozess beschrieben, der neue Arbeitsformen erforderlich macht. In solchen Prozessen entstehen Möglichkeiten für eine geschlechtergerechte Gestaltung der Arbeit. Wie wir in unserer empirischen Untersuchung zeigen, geschieht dies jedoch nicht zwangsläufig (Kutzner et al. 2021). In welche Richtung sich Arbeit 4.0 aus einer Geschlechterperspektive entwickelt, hängt von etlichen Faktoren ab. In diesem Beitrag werden verallgemeinerbare Entwicklungen und Interventionsmöglichkeiten anhand der Auswirkungen der Digitalisierung im ‚frauentypischen‘ Bereich der Sachbearbeitung vorgestellt.

Arbeit, Technik und Geschlecht: verkannte und verwobene Beziehungen

Bei der Frage, ob und wie Geschlechterverhältnisse durch Technik beeinflusst werden, dominiert häufig eine technikdeterministische Sichtweise, wonach bestimmte Technologien in der Lage seien, Geschlechterstereotype zu überwinden. So einfach ist es allerdings nicht. Wenn z. B. gestaltbare Software eher an männerdominierten Arbeitsplätzen eingesetzt wird, standardisierte Software eher an frauendominierten Arbeitsplätzen, dann ist in Technikgestaltung und -einsatz ein Geschlechterbias enthalten.

Die feministische Techniksoziologie und -forschung hat in etlichen Studien analysiert, dass und wie Geschlecht in die Technikentwicklung und -nutzung einfließt (Aulenbacher 1993; Cockburn 1988; Wajcman 1994). Geschlecht spielt in technischen Artefakten nicht nur in deren Entwicklung, sondern auch in deren Nutzung eine Rolle (Lengersdorf 2011). Männern wird dabei eine andere Nutzungskompetenz zugeschrieben als Frauen (Kutzner 2020). Zunächst wird aber in der sozialen Praxis ausgehandelt, was als ‚weiblich‘ bzw. ‚männlich‘ oder auch ‚technisch‘ bzw. ‚nicht-technisch‘ gilt. Erst das Zusammenspiel der technischen und sozialen Elemente entscheidet über die tatsächliche Umsetzung und die Folgen für die jeweils betroffenen Beschäftigtengruppen.

Wandel der Arbeit durch Digitalisierung

Digitalisierung ist, kurz gesagt, die Umwandlung analoger Werte oder Daten in ein maschinenlesbares digitales Format. Von der zunehmenden Transformation in computer-automatisierte und cyber-physische Prozesse ist nicht nur die industrielle Produktion betroffen. Gerade in der Welt der Angestellten – von der Verwaltung bis hin zu Forschung und Entwicklung – zeichnen sich etliche Umbrüche ab. So gibt es Tätigkeiten, die einfacher werden und dadurch an Wertigkeit verlieren können. Es gibt auch Automatisierungstendenzen von Arbeit, die mit einem Wegfall von Tätigkeiten verbunden sind. Auf der anderen Seite werden Tätigkeiten anspruchsvoller und sind mit höheren Qualifikationsanforderungen verbunden, die auch zu einer Aufwertung von Arbeit führen können.

Beschäftigte in Büros haben bereits enorme Veränderungsprozesse mitgemacht (Kutzner 2018). Auch frühe technische Hilfsmittel wie Schreibmaschinen oder Lochkarten beinhalteten Rationalisierungsmöglichkeiten und hatten Folgen für die Erwerbsarbeit – und damit vor allem für die Arbeit von Frauen, denn ihr Anteil in der Sachbearbeitung ist seit jeher hoch. Viele Unternehmen sehen heute die Notwendigkeit, ihre Büro- und Verwaltungsprozesse zu digitalisieren. Die Technisierung der Sachbearbeitung steht dabei in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite werden Tätigkeiten standardisiert, auf der anderen aber auch angereichert. In unseren Studien konnten wir grob drei Entwicklungsmuster erkennen, die durchaus übertragbar auf andere Arbeitsbereiche sind, und die mit Auf- und Abwertungen sowie mit geschlechterbezogener Stereotypisierung von Tätigkeiten einhergehen.

Aufwertung von Tätigkeiten

Frauen und Männer in der Sachbearbeitung durchlaufen die gleiche Ausbildung und bilden sich oft gleichermaßen durch ein berufsbegleitendes Studium weiter. Damit wird eine (Re-)Produktion geschlechterbezogener Strukturen zwar nicht unmöglich gemacht, aber die neu entstandene Ordnung weist auf eine geschlechtergerechtere Arbeitsteilung hin. Der ganzheitliche Zuschnitt bestimmter Tätigkeiten in den untersuchten Unternehmen erfordert, dass alle Mitarbeiter*innen gleichermaßen Zugang zu den notwendigen Programmen haben und in deren Nutzung so versiert sind, dass sie ihren Arbeitsalltag bewältigen können. Allerdings bleiben auch hier bestimmte Bereiche nach wie vor eher Männern vorbehalten, z. B. der Investmentbereich in der Immobilienwirtschaft.

Digitalisierung vermindert so Geschlechterdifferenzierungen durch Veränderungen in den Tätigkeiten, die zu einer Aufwertung der Arbeit von Frauen führen können. Neue Softwaresysteme haben z. B. – in Kombination mit einer neuen Form der Organisation der Arbeit (Matrixorganisation) – die Abspaltung von Routinetätigkeiten und stärker standardisierbaren Tätigkeiten möglich gemacht. Diese Tätigkeiten sind dadurch anspruchsvoller geworden, was mit erweiterten beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten für Frauen verbunden ist.

Abwertung von Tätigkeiten

Digitalisierung kann bestehende Geschlechterdifferenzierungen aber auch verstärken und zu einer Abwertung der Arbeit von Frauen führen. Die im Rahmen der Digitalisierung eingeführte Matrixorganisation in einem Bereich wie dem Vertrieb kann zur Ausdifferenzierung von Tätigkeiten führen, z. B. in ‚Order-Management‘ und ‚Key-Accounting‘. Die Tätigkeit im ‚Order Management‘ ist einseitiger und weniger vielfältig geworden. Sie ist geprägt durch die digitale Erfassung und Bearbeitung von Aufträgen. Die einzelnen Arbeitsschritte werden dazu vereinheitlicht und standardisiert. Diese Tätigkeiten werden vielfach von Frauen ausgeführt. Zu den Aufgaben eines ‚Key Accounters‘ gehört der Vertrieb der Produkte bzw. Dienstleistungen des Unternehmens ebenso wie die Beobachtung von Entwicklungen und Veränderungen auf den Märkten. Mitarbeiter*innen dieses Bereiches werden von Routinetätigkeiten entlastet. Aufgrund seiner strategischen Bedeutung ist der ‚Key Account‘ traditionell ein Sprungbrett für eine weitere Karriere im Unternehmen und eher ‚männlich‘ geprägt.

Stereotypisierung von Tätigkeiten

Die Verwobenheit von Arbeit und Digitalisierung mit Geschlecht ist am deutlichsten bei unterstützenden Assistenztätigkeiten z. B. für Vorgesetzte oder Werksleitungen oder auch in Teilbereichen der Personalverwaltung zu beobachten. Diese Arbeiten werden überwiegend bzw. nahezu ausschließlich von Frauen erledigt und verharren in ihren traditionellen geschlechterbezogenen Zuschreibungen. Was als ‚Frauenarbeit‘ bezeichnet wird, wird mit herkömmlichen Geschlechterstereotypen begründet (z. B. das vermeintliche Interesse von Frauen an Teilzeitarbeit, welches mit anspruchsvollen Arbeiten nicht zu verbinden sei) und damit stabilisiert. Die traditionelle geschlechterbezogene Arbeitsteilung wird hier nur selten in Frage gestellt. Die Arbeit der Mitarbeiter*innen in diesem Entwicklungsmuster kann bezogen auf geschlechterbezogene Aspekte eher als strukturkonservativ und stabilisierend bezeichnet werden.

Chancen der Strukturveränderung

In Prozessen der Digitalisierung ergibt sich die Chance, dass über bestehende Strukturen nachgedacht, gesprochen und neu verhandelt wird. Die eingespielten Routinen funktionieren nicht mehr reibungslos, die Lage muss neu interpretiert und definiert werden. Wie unsere Ergebnisse zeigen, kann Digitalisierung dazu beitragen, Geschlechterverhältnisse neu zu verhandeln und Machtverhältnisse, Stereotypisierungen, Arbeitsteilungen und -bewertungen zumindest zu hinterfragen. Neue Techniken können somit unter bestimmten Bedingungen eingefahrene geschlechterbezogene Muster stören und damit Möglichkeiten eröffnen, Strukturen zu verändern. Die Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis variieren dabei stark nach dem Einsatzbereich: Frauen sind nicht nur laut unserer Studie eher auf den unteren Stufen betrieblicher Hierarchien zu finden, Männer dagegen eher auf Arbeitsplätzen mit Handlungs- und Entscheidungsspielraum oder in Vorgesetztenpositionen. Die dargestellten Spannungen und Dynamiken in den Entwicklungen können zum jetzigen Zeitpunkt zu einer gewissen Un-Ordnung in den Geschlechterverhältnissen führen. Damit ist gemeint, dass die herkömmliche Ordnung der Geschlechter in betrieblichen Aushandlungsprozessen irritiert und verändert werden kann (Kutzner 2021).

Für eine geschlechtergerechte Arbeit 4.0

Der erste Ansatzpunkt für Interventionen zur geschlechtergerechten Digitalisierung der Arbeit liegt in der mit technischen Veränderungen notwendigen Umorganisation und Neueinteilung der Tätigkeiten. Der Einsatz von Assistenzsystemen und Robotern beispielsweise verändert die Arbeitsinhalte, aber nicht unbedingt die Wahrnehmung der betreffenden Tätigkeiten als traditionelle und höher bewertete ‚Männerarbeit‘. Auf einer konkreten betrieblichen Ebene wäre zu prüfen, ob benachteiligender geschlechterbezogener Arbeitsteilung die Argumentationsgrundlage entzogen werden kann. Ein zweiter Ansatzpunkt liegt darin, die Bewertung der Arbeit zu überprüfen. Neue Tätigkeiten entstehen, andere Tätigkeiten fallen weg. Die Digitalisierung kann Arbeit anspruchsvoller machen oder auch zu ganz neuen Tätigkeiten führen. Damit verbunden sind aus der Geschlechterperspektive vor allem drei Fragen: Auf welche Arbeiten trifft das zu? Wer übernimmt diese Arbeiten? Für wen verändert sich auch die Bewertung der Arbeit und was führt zu einer Höhergruppierung? Geschlechtergerechte Arbeit benötigt zudem partizipative Ansätze der Arbeitsgestaltung, also die Beteiligung der Beschäftigten an der Gestaltung von Arbeit und Technik. Dabei ist es wichtig, die Beteiligten für Geschlechterfragen zu sensibilisieren, aber auch Machtressourcen zu mobilisieren und mit solidarischem Handeln und Konfliktkompetenz zu verbinden.

Literatur

Aulenbacher, Brigitte (1993): Technologieentwicklung und Geschlechterverhältnis. In: Aulenbacher, Brigitte/Goldmann, Monika (Hrsg.): Transformationen im Geschlechterverhältnis. Beiträge zur industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung. Frankfurt am Main, S. 17–47.

Cockburn, Cynthia (1988): Die Herrschaftsmaschine. Geschlechterverhältnisse und technisches Know-how. Berlin, Hamburg.

Kutzner, Edelgard (2018): Digitalisierung von Arbeit als „Baustelle“ einer geschlechterbezogenen Arbeitsforschung. Transformationsprozesse in der Büroarbeit. Arbeits- und Industriesoziologische Studien 11(2): 211–228. Zugriff am 18.11.2021 unter https://www.arbsoz.de/ais-studien-leser/64-digitalisierung-von-arbeit-als-baustelle.

Kutzner, Edelgard (2020): Wandel der Arbeit durch Digitalisierung – Wirkungen auf Geschlechterverhältnisse in Betrieb und Verwaltung. In: Berghahn, Sabine/Schultz, Ulrike (Hrsg.): Rechtshandbuch für Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte. Recht von A–Z für Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte in der Öffentlichen Verwaltung, Unternehmen und Beratungsstellen. Hamburg.

Kutzner, Edelgard (2021): Digitalisierung als Katalysator für Um_Ordnungen im Geschlechterverhältnis? In: Birgit Blättel-Mink (Hrsg.): Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020. Zugriff am 18.11.2021 unter https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2020/article/view/1369/1632.

Kutzner, Edelgard; Roski, Melanie; Kaun, Lena; Ulland, Ninja (2021): Digitalisierung, Arbeit und Geschlechterverhältnisse. Eine empirische Untersuchung am Beispiel der digitalisierten Sachbearbeitung in Dienstleistung und Industrie. Noch unveröffentlichter Abschlussbericht.

Lengersdorf, Diana (2011): Arbeitsalltag ordnen. Soziale Praktiken in einer Internetagentur. Wiesbaden.

Wajcman, Judy (1994): Technik und Geschlecht. Die feministische Technikdebatte. Frankfurt am Main.

Zitation: Edelgard Kutzner: Arbeit 4.0 aus Geschlechterperspektive, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 23.11.2021, www.gender-blog.de/beitrag/arbeit-digital-geschlechterperspektive/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20211123

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Dr. Edelgard Kutzner

Edelgard Kutzner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Sozialforschungsstelle der TU Dortmund.

Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich von Arbeit, Organisation und Geschlecht, besondere

Forschungsinteressen gelten der Arbeitsforschung und Arbeitsgestaltung.

 

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