17. Mai 2022 Annette Schuster
Auch die Archäologie, die über historische Dingüberlieferungen das Leben von Menschen aus der Vergangenheit erforscht, bezieht wichtige Impulse aus der Geschlechterforschung. Der folgende Blogartikel gibt einen kurzen Überblick zur Entwicklung der archäologischen Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum und stellt einige archäologisch arbeitende Pionierinnen sowie das Projekt AktArcha vor.
Archäologie als wissenschaftliche Disziplin
Die Archäologie hat ihren Ursprung im ausgehenden 18. Jahrhundert und kann je nach geografischem und chronologischem Raum in unterschiedliche archäologische Fächer ausdifferenziert werden. Die verschiedenen Archäologien versuchen, die Lebensrealitäten vergangener Menschen zu rekonstruieren, indem sie z. B. Siedlungen, Gräber, Werkzeuge, Waffen, Keramikgefäße und Kunstgegenstände ebenso wie bildliche und figürliche Darstellungen analysieren. Sie arbeiten mit unterschiedlichen natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern zusammen, wie der Chemie, den Sprachwissenschaften, aber auch der Ethnologie (Eggert/Samida 2013). Die physische Anthropologie und die Humangenetik kommen speziell bei der Interpretation archäologischer Befunde hinsichtlich ihrer Aussagekraft über soziale Strukturen und Kategorien wie Geschlecht zum Einsatz (Hofmann 2009).
Archäologische Geschlechterforschung – Ein kurzer Überblick
Als Startschuss für eine intensivere Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht in der Archäologie kann die Tagung Were they all men? betrachtet werden (Arnold 2006). Noch bevor deren Tagungsergebnisse publiziert werden konnten, forderten zudem die amerikanischen Archäologinnen Margaret Conkey und Janet Spector 1984 in einem wegweisenden Artikel erstmalig explizit, gender als soziale Kategorie in den archäologischen Diskurs einzuführen (Conkey/Spector 1984). Um dem male bias, der auch in den archäologischen Wissenschaften dominiert(e), entgegenzuwirken, wurde in den 1990er-Jahren im deutschsprachigen Raum eine archäologische Frauenforschung etabliert (Brandt/Owen/Röder 1998). Diese begann einerseits, die Lebensrealitäten prähistorischer Frauen in den Blick zu nehmen: Beispielsweise wurde die Rolle von Frauen in der Landwirtschaft oder anderweitigen Produktionsprozessen wie der Nahrungsmittel-, Keramik-, oder Textilherstellung untersucht (Kirleis 2019). Andererseits beschäftigte sich die archäologische Frauenforschung aber auch mit der Situation von archäologisch arbeitenden Frauen in Forschungsgeschichte und Gegenwart und analysierte kritisch deren Lebens- und Arbeitsbedingungen (Fries/Gutsmiedl-Schümann 2021).
Von der Frauen- zur Geschlechterforschung – von sex zu gender
Im Laufe der Forschungsgeschichte rückten allgemeinere Fragen nach dem Geschlecht sowie seiner Bedeutung in vergangenen Gesellschaften in den Fokus. Hierbei wurde zu Beginn, genau wie in der Geschlechterforschung außerhalb der Archäologie, von einer Dichotomie der Geschlechter ausgegangen. Neben der Unterscheidung zwischen sex als biologisches und gender als kulturbedingtes Geschlecht, wurden vorgeschichtliche Gesellschaften unter der Vorannahme, es gebe eine weibliche und eine männliche Sphäre, unterteilt und untersucht (Fries/Gutsmiedl-Schümann 2021).
Diese Unterteilung kann beispielsweise in der Erforschung von Gräbern, die von jeher eine besonders wichtige Quelle in der archäologischen Geschlechterforschung spielen, erfolgen. Hier spiegeln sich Elemente von Geschlecht sehr deutlich wider, und es können sowohl sex als auch gender untersucht werden. Dies geschieht nicht nur durch eine anthropologische Analyse der sterblichen Überreste, sondern auch anhand von Bestattungsform, Grabbau und -topographie sowie des Grabinventars der bestatteten Person (Hofmann 2009).
Gräber im Fokus der Geschlechterforschung
Die archäologische Interpretation der Grabbeigaben konzentriert sich auf das soziokulturelle Geschlecht, das sich in der materiellen Kultur niederschlagen kann, während sich die Anthropologie dem morphologischen Geschlecht nähert. Kommen molekulargenetische Verfahren zum Einsatz, lassen sich unter Umständen Aussagen zum chromosomalen Geschlecht einer Person, einer Dimension des biologischen Geschlechts, treffen (Alt/Röder 2009). Die Analyse von Gräbern in Kombination mit den Methoden der Humangenetik ermöglicht mitunter auch die Frage, ob die jeweils untersuchten, prähistorischen Gesellschaften ein Geschlechtersystem aufwiesen, das von binären Vorstellungen abwich und ob nichtbinäre Geschlechtsidentitäten, Trans- und Intergeschlechtlichkeit im archäologischen Befund sichtbar gemacht werden können (Moilanen et al. 2021).
Die Entwicklung der verschiedenen Forschungsströmungen innerhalb der archäologischen Frauen- und Geschlechterforschung ist nach wie vor im Fluss. Der Bereich wird von den unterschiedlichsten archäologischen Traditionen geprägt ebenso wie vom forschenden Subjekt und dem damit einhergehenden gender bias, also dem Verzerrungseffekt, der durch unsere geschlechtsbezogenen Stereotype und Vorurteile geprägt ist und unser Handeln und Wahrnehmen beeinflusst (Hofmann 2014).
Frühe Akteurinnen archäologischer Forschung und ihre Sichtbarkeit
Im Projekt AktArcha spielt die Frage nach den Forschenden eine zentrale Rolle. Vor allem das mediale Bild der verschiedenen Archäologien ist von männlichen Forschern und damit einhergehenden Stereotypen und Narrativen geprägt. Doch dass Frauen nicht nur heute eine ebenso wichtige Rolle in der Forschung spielen, sondern auch in der frühen Fachgeschichte bereits vertreten waren, wird in der Regel nicht sichtbar. Dieser Umstand liegt – wie in vielen anderen Wissenschaften auch – in einer sehr männlich dominierten Fachgeschichte begründet. Die Altertumswissenschaften entwickelten sich bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts, und 1802 wurde in Deutschland der erste Lehrstuhl für Archäologie eingerichtet (Gramsch 2006). Erst ab 1909 wurden Frauen an allen deutschen Universitäten zum Studium zugelassen (Fries/Gutsmiedl-Schümann 2013).
Numismatikerin, Kustodin, Honorarprofessorin
Doch die Tatsache, dass es Frauen lange verwehrt war, an Universitäten archäologische Fächer zu studieren, hat sie nicht davon abgehalten, archäologisch zu arbeiten. Bereits im beginnenden 19. Jahrhundert hat sich mit Sibylle Mertens-Schaaffhausen, eine Mäzenin und Archäologin, in den Salongesellschaften des Rheinlands und Italien etablieren können (Fries 2021). Zur gleichen Zeit wirkte Amalie Buchheim spätestens ab 1860 als Kustodin der Altertümlichen Sammlung des Großherzogs von Mecklenburg-Schwerin (Koch 2013). Ebenfalls in der Mitte des 19. Jahrhunderts übersetzte Johanna Mestorf wegweisende skandinavische archäologische Literatur ins Deutsche, stellte ihre Expertise auf internationalen Kongressen vor und arbeitete ab 1899 als Honorarprofessorin an der Universität Kiel (Unverhau 2015). Nach dem Zugang zu den Universitäten erfolgte bei den für uns heute greifbaren archäologisch arbeitenden Frauen zwar eine Professionalisierung, doch die strukturellen Benachteiligungen führten weiterhin zu einem geringen Anteil an Frauen in akademischen Führungspositionen der Archäologien (Fries/Gutsmiedl-Schümann 2014).
AktArcha – für eine größere Sichtbarkeit von Frauen in der Fachgeschichte
Das Forschungsprojekt AktArcha hat es sich zum Ziel gesetzt, die Sichtbarkeit von Frauen zu verbessern und erforscht die Biografien früher archäologisch arbeitender Frauen ebenso wie deren mögliche Netzwerke und ihre Bedeutung für die Fachgeschichte. Geschlecht und dessen soziokulturelle Implikationen im 18. bis 21. Jahrhundert stellen hierbei eine maßgebliche Untersuchungskategorie dar. Zentraler Output des Projektes ist eine Wanderausstellung mit acht ausgewählten Frauenbiografien, die 2023 an verschiedenen Orten gezeigt wird. Ziel des Forschungsprojektes ist es, das Bild der archäologischen Fachgeschichte nachhaltig zu verändern und um viele Akteur*innen zu erweitern.
Literatur
K. W. Alt/B. Röder (2009), Das biologische Geschlecht ist nur die halbe Wahrheit. Der steinige Weg zu einer anthropologischen Geschlechterforschung. In: U. Rambuschek (Hrsg.), Zwischen Diskursanalyse und Isotopenforschung. Methoden der archäologischen Geschlechterforschung. Bericht der 3. Sitzung der AG Geschlechteforschung auf der 78. Tagung des Nordwestdeutschen Verbandes für Altertumsforschung e. V. in Schleswig 2007. Frauen – Forschung – Archäologie, 8, Münster u. a., 85–129.
B. Arnold (2006), Gender and Archaeological Mortuary Analysis. In: S. M. Nelson (Hrsg.), Handbook of gender in archaeology, Oxford, 137–170.
H. Brandt/L. R. Owen/B. Röder (1998), Frauen- und Geschlechterforschung in der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie. In: B. Auffermann/G.-Ch. Weniger (Hrsg.), Frauen – Zeiten – Spuren, Mettmann, 15–42.
M. W. Conkey/J. D. Spector (1984), Archaeology and the Study of Gender. In: Advances in Archaeological Method and Theory, Vol. 7 (1984), 1–38, https://www.jstor.org/stable/20170176.
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J. E. Fries (2021), Vom Anfangen und Ankommen. Frauen in der deutschsprachigen Archäologie, von den Anfängen bis zu #MeToo. In: S. Kahlow/J. Schachtmann /C. Hähn (Hrsg.), Grenzen überwinden. Archäologie zwischen Disziplin und Disziplinen. Festschrift für Uta Halle zum 65. Geburtstag. Internationale Archäologie. Studia honoraria – Bd. 40, Rahden/Westf., 49–58.
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J. E. Fries/D. Gutsmiedl-Schümann (2021), Vielfalt und Gemeinsamkeiten: ein Überblick über Forschungsgeschichte und Richtungen der archäologischen Geschlechterforschung. In: D. Gutsmiedl-Schümann/M. Helmbrecht/J. Kranzbühler (Hrsg.), Feministische Perspektiven auf Gender und Archäologie. Beiträge der Tagung zum 25-jährigen Bestehen von FemArc-Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen e. V., Münster, New York, 19–40.
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D. Gutsmiedl-Schümann/M. Helmbrecht/J. Kranzbühler (Hrsg.) (2021), Feministische Perspektiven auf Gender und Archäologie. Beiträge der Tagung zum 25-jährigen Bestehen von FemArc-Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen e.V., Münster, New York.
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J. K. Koch (2013), Frauen in der Archäologie – eine lexikalisch-biografische Übersicht. In: J. E. Fries/D. Gutsmiedl-Schümann (Hrsg.), Ausgräberinnen, Forscherinnen, Pionierinnen. Ausgewählte Porträts früher Archäologinnen im Kontext ihrer Zeit. Frauen – Forschung – Archäologie, Bd. 10, Münster u. a., 259–280.
U. Moilanen/T. Kirkinen/N.-J. Saari/A. D. Rohrlach/J. Krause/P. Onkamo/E. Salmela (2021), A Woman with a Sword? – Weapon Grave at Suontaka Vesitorninmäki, Finland. European Journal of Archaeology, 25 (1), 42-60. https://doi.org/10.1017/eaa.2021.30
D. Unverhau (2015), Ein anderes Frauenleben. Johanna Mestorf (1828–1909) und „ihr“ Museum vaterländischer Altertümer bei der Universität Kiel. Teilband 1 & 2. Schriften des Archäologischen Landesmuseums, Bd.13. Teilband 1 – Biographie Kapitel 1–4, Kiel, Hamburg.
Zitation: Annette Schuster: Mit archäologischer Geschlechterforschung zu einer diverseren Fachgeschichte, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 17.05.2022, www.gender-blog.de/beitrag/archaeologische-geschlechterforschung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220517
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