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Headergrafik: Uta C. Schmidt

Interview

„Wir haben feministische Zusammenhänge hergestellt.“ Archivarbeit als politische Praxis

31. Oktober 2023 Rita Kronauer Uta C. Schmidt

Das ausZeiten. Feministisches Archiv für Frauen, Lesben, Mädchen ist ein zentraler Ort frauenbewegter Erinnerungskultur. Kopf und Herz dieses Archivs ist Rita Kronauer. Im Gespräch zwischen ihr und Uta C. Schmidt geht es um Archivarbeit als politische Praxis, die Frauen- und Lesbenbewegung im Ruhrgebiet und radikal-feministische Diskurse. Uta C. Schmidt und Rita Kronauer kennen sich aus einer Frauenband im Ruhrgebiet.

Uta: Es wird gegenwärtig viel über machtbesetzte Effekte des Archivierens und alternative Formen der Wissensproduktion diskutiert. Für dich gilt eine Konzeption des Archivs als Ort politischer Praxis. Was heißt das?

Rita: Seit 1974 gehörte ich zur Bochumer Frauengruppe. Ein ganz zentrales Thema war der §218, der für das patriarchale, staatliche Gewaltverhältnis gegenüber den Körpern von Frauen stand – und immer noch steht. Im Rahmen unserer politischen Arbeit als §218-Gruppe haben wir Zeitungsausschnitte gesammelt, weil wir damit Politik gemacht haben – in Zeiten vor dem Internet. Wir haben die Medien verfolgt. Wie berichten sie zum Beispiel über Gewalt gegen Frauen, über den Paragraphen 218? Wir waren überzeugt: Wenn wir über diese Fragen sachlich und kompetent informieren und uns mit den Interessen und Argumenten der Gegenseite befassen, dann wird sich auch etwas verändern. Aufklärung bildete eine Grundlage unserer Politik. Am Anfang stand deshalb eine Zeitungsausschnittsammlung.

Das war die angesagte Informationstechnologie zu Beginn der 1970er-Jahre!

Ja, zuerst waren es Aktenordner im eigenen WG-Zimmer, diese wanderten in den Bochumer Frauenbuchladen. 1995 wurde dann das feministische Archiv ausZeiten gegründet, das sich bis heute aus Spendengeldern und durch unbezahlte Arbeit finanziert. Aber die Systematik des ausZeiten, die geht auf die allerersten Aktenordner zurück. Jedes Archiv hat ja eine eigene Systematik, weil jedes Archiv aus einer eigenen Geschichte heraus entstanden ist.

Der §218 war seit Beginn der 1970er-Jahre ein zentrales Thema nicht nur in der frauenbewegten Öffentlichkeit. Im März 1972 führte die Deutsche Demokratische Republik (DDR) mit dem „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ eine Fristenregelung ein. 1974 verabschiedete die sozialliberale Koalition in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) eine Reform des §218. Die hier formulierte Fristenregelung wurde jedoch am 25. Februar 1975 vom Bundesverfassungsgericht kassiert.

Auch wir in Bochum veranstalteten Aktionen auf der Straße, Flugblätter wurden vor Frauenbetrieben und auf Wochenmärkten verteilt, Veranstaltungen durchgeführt und regionale und überregionale Vernetzungen aufgebaut. Wir sammelten – wie andere Gruppen in der Frauenbewegung – Informationen zu Ärztinnen und Ärzten, die Abtreibungen durchführten, und gaben die Informationen im Rahmen unserer Abtreibungsberatung im Frauenzentrum an betroffene Frauen weiter. Für mich war die Abtreibungsfrage eine zentrale politische Frage nach körperlicher Selbstbestimmung. Ich verband damit eine grundsätzliche Kritik an der heterosexistischen Gewalt gegen Frauen und am gewaltsamen Zusammenspiel von Staat und Recht beim Zugriff auf den Frauenkörper.

Frauen aus der autonomen feministisch-lesbischen Bewegung nahmen in diesen gesellschaftlichen Debatten radikale Positionen ein. Was heißt das?

Sie grenzten sich von jenen Frauen ab, die die Frauenfrage im Sinne marxistischer Interpretation als Nebenwiderspruch behandelten. Sie positionierten sich gegen die Frauenpolitik in der DDR, die sie als Staatspatriarchat kritisierten. Und sie setzten sich ab vom westdeutschen Partei- und Gewerkschaftssystem, das mit Forderungen nach Reformen und Gleichberechtigung nur innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems agierten.

1983 hast du mit weiteren Bewegungsfrauen die Gruppe Frauen gegen Bevölkerungspolitik in Bochum gegründet. Wie kamt ihr vom § 218 zur Bevölkerungspolitik?

Wir haben feministische Zusammenhänge hergestellt, zwischen dem § 218, zwischen medizinischen Experimenten mit Verhütungsmitteln an Frauen im Globalen Süden, zwischen internationalen Bevölkerungspolitiken, den neu geschaffenen Reproduktions- und Gentechnologien, pro- und antinatalistisch zugleich.

1978 wurde das erste Baby geboren, das durch In-vitro-Fertilisation gezeugt worden war...

Ja, und dann gab es noch die Pränataldiagnostik – die Berichte darüber hatten wir in unserer Zeitungsausschnittsammlung dokumentiert: Frauen mit Behinderungen wurden damals abgehalten, schwanger zu werden bzw. angehalten abzutreiben. Das war die Fortsetzung eines Denkens, das seinen Höhepunkt in den eugenischen Theorien des Nationalsozialismus fand.

Ihr habt Ableismus, Sexismus, Rassismus und Patriarchat in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus diskutiert?

Auf einer Demonstration von sogenannten ‚Lebensschützern‘ auf dem Bonner Münsterplatz 1984 wollten wir ein Transparent zu den Verflechtungen unser gesellschaftlichen Entwicklungen mit denen im Globalen Süden entrollen: „In der Dritten Welt Völkermord, hier pflanzt sich die deutsche Rasse fort!“ Das Transparent mit dieser Botschaft wurde sofort beschlagnahmt, Frauen erhielten eine Anzeige, doch wurden wir letztendlich freigesprochen, weil die Zeugenaussagen der Polizisten sich als unhaltbar erwiesen. Für mich war die Kundgebung in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn, die nach einem sogenannten ‚Sühnegottesdienst‘ stattfand, absolut unerträglich und fürchterlich. Nach dem Nationalsozialismus stellt sich auf offener Straße eine Vereinigung hin und erklärt, die deutsche Frau solle deutsche Kinder gebären. Das durfte da gesagt werden von rechten, wirklich ultrarechten sogenannten Lebensschützern, die offen eine frauenfeindliche, rassistische Politik vertraten!

Das heißt, dass es 1945 keine so genannte ‚Stunde Null‘ gegeben hat, sondern dass Vorstellungen von ‚reinen Volkskörpern‘ kontinuierlich artikuliert werden und strukturell zur Geschichte der Bundesrepublik gehören...

Es folgte eine Antwort auf diesen und andere Kriminalisierungsversuche der Frauen gegen Bevölkerungspolitik und andere Gruppen in der Bundesrepublik, die das Thema bearbeiteten. Vom 28. bis 30. Oktober 1988 organisierten Gruppen aus dem Bochumer Frauenzentrum, das Gen-Archiv aus Essen, das Feministische Frauengesundheitszentrum FFGZ Frankfurt, die FINRRAGE-Koordination BRD sowie Frauen aus Köln und Marburg den Kongress „Frauen gegen Gen-und Reproduktionstechnologien“ in Frankfurt am Main. Über 2.000 Frauen kamen hier zusammen und diskutierten, denn Gen- und Reproduktionstechnologien sind auch Technologien der Auslese und Ausmerze.

Dieser Kongress aus den 1980er-Jahren ist gut dokumentiert (Bradish/Feyerabend/Winkler 1989). Die Texte sind an zahlreichen Stellen intersektionaler angelegt, als es die Anrufung von Intersektionalität heute vielfach einzulösen vermag.

Also man wundert sich, was bereits angesprochen wurde: Diskriminierungserfahrungen werden in mehrfacher, verschränkter Perspektive analysiert. Mit dem Bewusstsein für gegenwärtige Problemlagen gelesen, spannen die Texte der Dokumentation zeitliche Dimensionen auf, die feministische Bewegungen im Denken und Sprechen, in Normen und Werten, in Recht, Politik und gesellschaftlichen Verhältnissen, aber vor allem auch die machtvollen Gegenbewegungen nachvollziehbar machen. Die hier überlieferten Positionen zu Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus und Patriarchat als staatlicher Gewaltform mögen nicht exakt der heutigen Herangehensweise an diese Gewaltverhältnisse entsprechen, doch sind sie in ihrer Machtkritik keineswegs überholt und sie sind feministische Gesellschaftskritik.

In den 1980er-Jahren habt ihr, hast du, auch bereits den Begriff des Heterosexismus ausformuliert, der heute in queeren Diskursen als Bezugspunkt gilt.

Heterosexismus, so haben wir damals geschrieben, ist ähnlich wie der Rassismus und andere patriarchale Unterdrückungsstrukturen einerseits institutionell in diesem System verankert, z. B. durch das Primat von Ehe und sogenannter Partnerschaft, andererseits durchdringen heterosexistische, ähnlich wie rassistische Strukturen all unsere Lebensbereiche, bestimmen unsere Wertmaßstäbe, besetzen unseren Verstand und vor allem auch unsere Gefühle. Wenn wir wirksamen Widerstand leisten wollen gegen männliche Machtstrukturen, die Macht der Männer, die Reproduktions- und Gentechnologien, dann müssen wir hier ansetzen.

Dieser Widerstand der Frauen- und Lesbenbewegung gegen Reproduktions- und Gentechnologien ist heute nicht mehr bekannt, obwohl er sogar in Ausgestaltungen gesetzlicher Regelungen für Genforschung und Reproduktionstechnologien mündete.

Ich hoffe, dass diese Bewegungen – und die Diskurse, die wir geführt haben –, auch durch zunehmende wissenschaftlich-historische Beschäftigung mit dem Thema wieder ins Bewusstsein dringen. So gibt es jetzt zur Geschichte des Widerstands gegen die Technologien einen Beitrag von Linda Unger, der auf den Beständen des ausZeiten beruht (Unger 2023). Für unser Archiv bildet Bevölkerungspolitik noch immer einen zentralen Schwerpunkt, weil sich in ihr Frauenkörper und staatliche Machtverhältnisse kreuzen. Der Ursprung des Archivs liegt letztlich im selbstorganisierten Aufbau eines umfänglichen Wissensspeichers, um die eigene, die autonome radikal-feministische Politik faktenbasiert im aufklärerischen Sinne zu untermauern. Als Gegenüberlieferung zu den Mainstreammedien wurden und werden Zeitschriften, Broschüren, Graue Literatur und sonstige Materialien aus der Bewegung gesammelt, die wichtige Quellen darstellen, um die Aktivitäten ins Bewusstsein zu holen. Zunehmend kommen Bücher hinzu. Viele Nutzerinnen müssen heute lernen, historische Bücher im Zeitkontext einzuschätzen und als historische Quellen zu lesen, wenn sie ein bestimmtes Thema bearbeiten. So empfehle ich mittlerweile manchmal Bücher – als Zeitzeugin (Kronauer/Schmidt 2022) gewissermaßen.

Zum Weiterlesen und -schreiben:

Literatur

Bradish, Paula/ Feyerabend, Erika/ Winkler, Ute im Auftrag der Kongreßvorbereitungsgruppe (Hg.)(1989), Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien. Beiträge vom 2. Bundesweiten Kongreß Frankfurt, 28.-30.10.1988, München.

Schmidt, Uta C./ Kronauer, Rita (2022), "Wer erinnert, wer bringt die Dinge ins kollektive kulturelle Gedächtnis? Das können nur wir hier.", Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/rita-kronauer/ (abgerufen am 26.10.2023)

Unger, Linda (2023), Die Grenzen der Selbstbestimmung – Feministische Kritik an Bevölkerungspolitik, Reproduktions- und Gentechnologien in den 1980er Jahren, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-grenzen-der-selbstbestimmung (abgerufen am 26.10.2023)

Zitation: Rita Kronauer im Interview mit Uta C. Schmidt: „Wir haben feministische Zusammenhänge hergestellt.“ Archivarbeit als politische Praxis, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 31.10.2023, www.gender-blog.de/beitrag/archivarbeit-als-politische-praxis/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231031

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© Headergrafik: Uta C. Schmidt

Rita Kronauer

Rita Kronauer, Dipl.-Psychologin, *1953, Mitarbeiterin und Gründerin des feministischen Archivs ausZeiten, Bochum, aktiv in der Frauen- und Lesbenbewegung seit den 1970er-Jahren und in der Redaktion der Lesbenzeitschrift IHRSINN.

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Dr. Uta C. Schmidt

Historikerin und Kunsthistorikerin; Forschungen an den Schnittstellen von Raum, Wissen, Geschlecht und Macht; Publikationen zu Klöstern, Klanggeschichte und Geschichtskultur; wiss. Mitarbeiterin im Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW; Kuratorin im DA. Kunsthaus Kloster Gravenhorst; Mitherausgeberin von www.frauenruhrgeschichte.de.

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