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Headergrafik: Stickbild, Lotte Marx-Colsman-Stiftung, Museum Katharinenhof, Kranenburg. Foto (beschnitten): Maurice Dorren, Nijmegen

Forschung

Bauhausbiographien. Die Künstlerin Lotte Marx-Colsman

05. Februar 2019 Ulrike Laufer

Im Jahr 1971 befand sich die Künstlerin Lotte Marx-Colsman im 64. Lebensjahr und endlich in einer Phase selbstbestimmten und freien Künstlerinnenlebens. Im selben Jahr legte die amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin mit ihrem Essay Why have there been no great women artists? den Grundstein zu einer neuen, auch und gerade die Frauen in den Fokus nehmenden Kunstgeschichte. Es folgte ein intensiver Diskurs um Kunst und Geschlecht. Seit den frühen 2000er-Jahren erlebt die Forschung über Frauen in künstlerischen Feldern einen Boom. Allerdings konzentriert sie sich noch größtenteils auf diejenigen Künstlerinnen, die Aufnahme in die großen Museen gefunden haben und damit für die Kunstgeschichte besonders interessant sind (Hassler 2017).

Vergessene Namen der Kunstgeschichte

Biographien spiegeln und brechen zugleich wie Prismen das von der Geschichtsschreibung auf die Vergangenheit geworfene Licht. Dadurch entstehen neue Facetten und Erkenntnisse. Künstlerinnenbiographien bieten einen mehrfachen Reiz, da sie nicht nur die Geschichte der Frau und Künstlerin, sondern auch unser Bild vom Kunstschaffen und von der Kunstrezeption in Frage stellen. Kulturgeschichtlich und aus der Gender-Perspektive ist jedoch der Blick gerade auf diejenigen Frauen faszinierend, deren Namen fast vergessen sind und die ihren Weg als Kunstschaffende aus privaten, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder auch politischen Gründen weniger konsequent und erfolgreich verfolgten. Zu ihnen gehört die Bauhauskünstlerin Lotte Marx-Colsmann.

Traditionelle Töchtererziehung

1907 in eine bergische Seidenunternehmerfamilie geboren, bekam sie viel künstlerisches Bildungskapital mit auf den Weg. Zu nennen ist hier in erster Linie ihre Mutter Lili Colsman (1871–1947), eine an der Düsseldorfer Kunstakademie ausgebildete, hoch talentierte spätimpressionistische Malerin, deren Schaffen jedoch fast ausschließlich „en famille“ blieb. Eine weitere Verwandte, Gertrud Colsman, verheiratete Osthaus, war Kunstsammlerin, Mitbegründerin des Folkwang-Museums und Illustratorin (Stamm 2009). Doch Lotte Colsman wurde die künstlerische Ausbildung zunächst verwehrt, obwohl ihr Wollen und Können sich früh offenbart hatten. Nach ihrem Schulabschluss 1924 folgten Jahre traditioneller Töchtererziehung: Haustochter bei einem Pfarrer, Landfrauenschule, Klavierunterricht. Erst nach langem Drängen, Lotte ist inzwischen 21, setzte sie sich mit ihrem Wunsch durch: Sie wollte die dem Deutschen Werkbund nahestehende und dem Bauhaus nachempfundene Kölner Werkschule besuchen. Der Düsseldorfer Maler Otto Marx (1887–1963) sollte sie auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten.

Brüche und Anknüpfungspunkte

Schon nach dreimonatiger Ausbildung brach Lotte Colsman auf Wunsch der Familie ihre künstlerische Ausbildung ab und begann eine sechsjährige Kranken- und Säuglingspflege-Ausbildung in Bielefeld. Ob man in der Familie eine praktische Ausbildung für die jüngste Tochter bevorzugte oder eine zu enge Bindung an den verheirateten Otto Marx fürchtete, ist nicht bekannt. 27-jährig entschied sich Lotte Colsman erneut für eine künstlerische Laufbahn. An der Berliner Kunstschule lernte sie den ehemaligen Bauhauslehrer und Künstler Johannes Itten (1888–1967) kennen. Kurze Zeit später baute Itten die Höhere Fachschule für textile Flächenkunst an der Krefelder Webschule auf. Lotte Colsman folgte ihm. Die Nationalsozialisten hatten das Bauhaus aufgelöst, doch durch Itten lernte Lotte Colsman die Prinzipien und Denkweisen des frühen Bauhauses kennen. Auf Empfehlung von Alexander Mitscherlich ging Lotte Colsman schon ein Jahr später nach Düsseldorf, um bei dem Maler Oskar Moll (1875–1947) ihre Begabung in der Flächen-, Farb- und Mustergestaltung zu vervollkommnen. Moll war Schüler und begeisterter Anhänger von Matisse, vor allem seiner Ornamentik. Die rheinische Seidenindustrie war an seinen Fortbildungskursen sehr interessiert. 1933 war Moll von der Düsseldorfer Kunstakademie verwiesen worden, blieb aber noch bis 1936 in Düsseldorf. Lotte Colsman nutzte die eineinhalbjährige Studienzeit bei Moll, um von ihm neue Impulse für den Umgang mit Farben und Formen anzunehmen. Im Anschluss betätigte sie sich als Musterzeichnerin für verschiedene Textilfirmen.

Lotte Marx-Colsman 1957 bei der Arbeit an einem Mosaik bei der Firma Derix in Kaiserswerth, Privatbesitz

 Lotte Marx-Colsman 1957 bei der Arbeit an einem Mosaik bei der Firma Derix in Kaiserswerth (Foto aus Privatbesitz).

Sticken gegen den Krieg

Da sie sich dem NS verweigerte, war es ihr unmöglich, als Meisterin eine eigene Stickwerkstatt zu gründen. Stattdessen ging sie zunächst an die Kunstgewerbeschule Stuttgart mit ihren schon vor dem Ersten Weltkrieg eingerichteten Versuchswerkstätten, darunter eine für Teppichknüpferei und eine für textile Arbeiten. Im Sommer 1939 und im Sommer 1940 besuchte sie die recht fortschrittliche Textilklasse der Städelschule in Frankfurt. Diese stand unter der Leitung von Professor Margarethe Klimt (1892–1987), die zugleich Leiterin des international renommierten städtischen Modeamts in Frankfurt war. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte Lotte Colsman einen Stellungsbefehl als Hilfsschwester im Krankenhaus Wuppertal-Barmen erhalten. Noch im gleichen Jahr begann sie mit der Arbeit an einer Tischdecke, in deren rundum laufenden Fries sie die Namen wichtiger Gefechtsorte des Zweiten Weltkriegs verbunden mit Kreuzen für die Kriegsopfer stickte. Das letzte eingestickte Datum ist das des Bombenabwurfs von Hiroshima. Mit diesem äußerst eigenständigen und allen bürgerlichen Sticktraditionen gegenläufigen Werk bewies sie künstlerische Selbstständigkeit und leistete zugleich einen stummen, in der Zeit des NS nicht ungefährlichen Protest gegen die verheerenden Schlachten in dieser Zeit, über deren Opfer sie eine Mitteilung in die Decke stickte: „6,5 Millionen Tote, Vermisste, Zivilvermisste.“ Das waren die Zahlen nach damaliger Erkenntnis.

Zwischen bürgerlicher Existenz und künstlerischem „Egoismus“

1940 heiratete Lotte Colsman ihren ehemaligen Lehrer Otto Marx, inzwischen ein vielleicht ein bisschen aus der Zeit gefallener, aber etablierter niederrheinischer Landschaftsmaler. 1945 ließ sich das Ehepaar in Vynen auf einem alten Gehöft nieder. Lottes textile Arbeiten, vor allem ihre Webarbeiten, trugen zum Lebensunterhalt bei. Von 1965 bis 1969 war Lotte Colsman ein zweites Mal verheiratet. In dieser Zeit stellte sie nur kleinere Arbeiten her, Stickarbeiten und Musterentwürfe, ein Teil davon als Kartoffeldrucke, die an die Studienzeit in Krefeld und Düsseldorf anknüpften. Lotte Marx-Colsman blieb in Vynen. Endlich nahm sie sich das Recht einer Künstlerin auf Egoismus und Zurückgezogenheit, so wie es Virginia Woolf schon 1931 gefordert hatte. Es entstanden ausdrucksstarke textile Werke: kostbare Stickereien, zum Teil mit Bildmotiven, zum Teil als subtile geometrische Abstraktionen, daneben auch Gobelins und große Teppiche, manche von ihnen eigens für Kapellen im Niederrhein gefertigt. Sie begann, mit Fotocollagen zu experimentieren, so wie es Johannes Itten gelehrt hatte. Aus den mehrmals gespiegelten Collagen entstanden Muster für ihre textilen Bildwerke. Bei der Herstellung der großen Teppiche war ihr der Kranenburger Künstler Johann Peter Heek (1934–1994) eine große Unterstützung. Er webte Ihre Teppiche und stellte wohl auch den Kontakt zu den Brüdern van der Grinten, den großen Kunstmäzenen des Niederrheins, her.

Stickbild, Lotte Marx-Colsman-Stiftung, Museum Katharinenhof, Kranenburg. Aus: Elisabeth Wynhoff, Lotte Marx-Colsman – Eine Textilkünstlerin in der Bauhausnachfolge, Kranenburg 2002, Foto: Maurice Dorren, Nijmegen.
Stickbild, Lotte Marx-Colsman-Stiftung, Museum Katharinenhof, Kranenburg. Aus: Elisabeth Wynhoff, Lotte Marx-Colsman – Eine Textilkünstlerin in der Bauhausnachfolge, Kranenburg 2002. Foto: Maurice Dorren, Nijmegen.

Die künstlerische Arbeit war nur eine Seite im Leben von Lotte Marx-Colsman. Seit ihrer Konfirmation und dem gleichzeitigen Tod des Vaters hatte sie ein tiefes religiöses Empfinden entwickelt. Sie gehörte zum Meisenheimer Freundeskreis, den der im NS verfolgte Pfarrer Hellmut von Schweinitz (1901–1960) von 1950 bis 1958 unterhielt. Einmal im Jahr reiste Marx-Colsman zur „Dichterwoche“ nach Meisenheim. Sie befand sich in diesen Jahren in einem seelischen Tief. 1957 erhielt sie ihren ersten öffentlichen Auftrag. Der Heimatverein Vynen beauftragte sie mit einem Ehrenmal für die Gefallenen. In der Mosaikwerkstatt Derix in Kaiserswerth legte sie ein sieben Quadratmeter großes Mosaik, das am Volkstrauertag 1958 eingeweiht wurde und unter dem Motto „Anbruch neuer Zeit“ stand. Noch im gleichen Jahr erhielt die Künstlerin einen ähnlichen Auftrag für die Nachbargemeinde Appeldorn. Die Verbindung von Kunst und Religion bestimmte fortan ihr Werk. In dieser Lebensphase veröffentlichte sie einen Band mit Gedichten, illustriert mit Bleistiftzeichnungen christlicher Symbolik. Zudem entstand der Entwurf für einen Teppich in der Kirche in Xanten. Die kreative Eigenständigkeit und der religiöse Gehalt ihrer Werke machten ihr Werk für das Museum Katharinenhof in Kranenburg so wertvoll. Hans van der Grinten und Josef van Bebber hatten dieses auf eine umfangreiche Sammlung religiöser Volkskunst basierende Museum seit den 1950er-Jahren als deponia pia und als Sammlungsort für moderne Kunst aufgebaut. Es war ein Anliegen von Lotte Marx-Colsman, dass ihr Nachlass dem Museum und damit ihrer Wahlheimat Niederrhein erhalten blieb. Sie starb 1996.

Literatur

Hassler, Katrin (2017). Kunst und Gender. Zur Bedeutung von Geschlecht für die Einnahme von Spitzenpositionen im Kunstfeld. Bielefeld: transcript Verlag. DOI: https://doi.org/10.14361/9783839439906

Stamm, Rainer (2009). Im „Strömen und Wollen unserer Zeit“. Die Sammlerin Gertrud Osthaus. In Wimmer, Dorothee u. a. (Hrsg.), Kunstsammlerinnen: Peggy Guggenheim bis Ingvild Goetz (S. 85–97). Berlin.

Zitation: Ulrike Laufer: Bauhausbiographien. Die Künstlerin Lotte Marx-Colsman, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 05.02.2019, www.gender-blog.de/beitrag/bauhausbiographien-die-kuenstlerin-lotte-marx-colsman/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20190205

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© Headergrafik: Stickbild, Lotte Marx-Colsman-Stiftung, Museum Katharinenhof, Kranenburg. Foto (beschnitten): Maurice Dorren, Nijmegen

Dr. Ulrike Laufer

Museumsfachfrau, Kuratorin, Publizistin, Kulturhistorikerin (von Technik bis Kunst), seit mehr als 35 Jahren beruflich aktiv, von München über Mannheim, Berlin schließlich in Essen als Wohnort mit diversen Arbeitsorten in der Republik. Gerne bin ich aber auch in NRW aktiv, z. B. als Mitglied des Arbeitskreises "Moderne im Rheinland".

Die Geschichte der Frauenemanzipation gehört zu mir, war auch ein Promotionsthema. Der Weg zur Gendergerechtigkeit und Gleichstellung ist noch lang.

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Kommentare

Esther Zimmer | 17.03.2022

Ich danke für diesen wunderbaren Artikel über eine wunderbare Frau, die in unserem schönen Vynen leider in Vergessenheit gerät. "Tante Schuchmann" (sie war ein weiteres Mal verheiratet mit einem Reeder aus Norddeutschland), wie wir Kinder sie nannten, war unserer Familie stets freundschaftlich verbunden. Unser Ehrenmal, aus bunten Mosaiksteinen von ihr gefertigt, steht unübersehbar als Mahnung dorfeinwärts. Erinnerungen an eine liebenswerte Dame, die immer noch unterschätzt wird.

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