27. April 2021 Jessica Albrecht
Müssen sich Religion und Feminismus ausschließen? Das Beispiel buddhistischer Mädchenschulen auf Sri Lanka zeigt, dass diese Trennung eine Geschichte des Feminismus verschleiert, deren Erinnerung notwendig ist, um moderne, intersektionale Formen von Feminismus zu verstehen und umzusetzen.
Religion scheint aus feministischer, gepaart mit einer europäischen, säkularen Sicht oft wie ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten. Dabei ist und bleibt sie konstitutiv und identitätsstiftend für unsere Gegenwart und Zukunft (vgl. Bergunder 2020, Asad 2018). Sich selbst als säkular verstehende Feminismen kritisieren Religion für die Art und Weise, wie diese vermeintlich binäre und unverrückbare Geschlechtsidentitäten bestimmt (Mahmood 2005, Scott 2017). Doch wird mit europäischer Brille meist übersehen, dass es weltweit religiöse Gruppierungen gibt, innerhalb derer Frauen für Rechte und Veränderungen kämpfen und dabei ihre religiösen Vorstellungen für und nicht gegen ihren Feminismus verwenden.
Der Frauenorden der Bhikkhunis
Ein solches Beispiel sind buddhistische Bewegungen auf Sri Lanka. Frauen kämpfen innerhalb dieser Bewegung seit über 100 Jahren dafür, den im 11. Jahrhundert ausgestorbenen Frauenorden der Bhikkhunis wieder einzuführen. Der Theravada-Buddhismus (Pali „Schule der Ältesten“) ist die älteste noch erhaltene Schule des Buddhismus und ist vor allem in den Ländern Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Kambodscha und Laos, aber auch anderen asiatischen Ländern vorzufinden. Laut Theravada soll die Gesellschaft in vier Bereiche aufgeteilt sein: Die Bhikkhus („Mönche“), die Bhikkhunis („Nonnen“) sowie männliche und weibliche Laien („Householder“). Die Bestrebungen, den Bhikkhuni-Orden wiedereinzusetzen, werden vonseiten der Bhikkhus verhindert mit dem Argument, dass Bhikkhunis nur von der ununterbrochenen Theravada-Tradition des singhalesischen Ordens ordiniert werden könnten. Dabei wird allerdings ausgeklammert, dass auch der Orden der Bhikkhus erst 1753 von thailändischen Bhikkhus selbst wiederbelebt wurde und auch sie sich somit durch keine ununterbrochene Tradition legitimieren können.
Weitere Beispiele sind esoterische Gruppen und Bewegungen, die für eine spezifisch weibliche Spiritualität und die Wertschätzung des weiblichen Körpers eintreten, wie beispielsweise das Goddess Movement und die Red-Tent-Bewegung. Diese sind in Europa und Nordamerika besonders bekannt, allerdings finden sich verschiedene esoterische Bewegungen weltweit.
So weit geografisch entfernt diese beiden Beispiele liegen, so haben sie doch gemeinsame Wurzeln. Diese liegen bereits im 19. Jahrhundert und stehen in Verbindung mit einer Zeit, die heute als die „erste Welle des Feminismus“ bezeichnet wird. Damals kämpften Frauen und andere Mitglieder der Frauenrechtsbewegung an vielen Orten der Welt nicht nur für das Frauenwahlrecht, sondern vor allem gegen verschiedene Formen der Ungleichbehandlung, insbesondere die vorherrschende Doppelmoral in Bezug auf Sexualität sowie das Ehe- und Familienrecht.
Konstruktionen von Mütterlichkeit
Zu dieser Zeit wurde sowohl von antifeministischer als auch feministischer Seite in den kolonisierenden, aber auch kolonisierten Ländern die Identität "der" Frau, ihre Fähigkeiten und Beschränkungen mit der Idee der Mutterschaft begründet. Antifeministisch wurde argumentiert, dass Frauen in der privaten Sphäre bleiben sollten und dass ihre sogenannte „Reinheit“ nicht durch politische oder weltliche Aktivitäten „verschmutzt“ werden sollte (Bland 2001, Jayawardena 2016). Von feministischer Seite wurde konstatiert, dass gerade Frauen in ihrer Rolle als Mutter für die Entwicklung und Bildung der kommenden Generation verantwortlich seien. In Bezug auf Frauenbildung spielte diese Argumentation eine entscheidende Rolle. Die Überschneidung im Konzept der Mutter – verbunden mit dem der Ehefrau – eröffnete Strategien, Frauen Bildung zukommen zu lassen. Neu gefordert wurde dabei vor allem die flächendeckende Bildung der unteren Gesellschaftsschichten und -klassen. Diese Bildung unterschied sich jedoch von der der Jungen. Mädchen sollten neben Grundkenntnissen in Literatur, Geschichte, Geografie und Mathematik, mithilfe derer sie "gesprächstaugliche" Partnerinnen sein konnten, ebenso Handarbeit, Hauswirtschaft und Musik lernen. Da es für die auf Erwerbsarbeit angewiesenen Mädchen und Frauen der höheren Schichten kaum „adäquate“ Berufe gab, die sie ausüben konnten, diente diese Argumentation auch strategisch dazu, spezielle Berufe wie die der Lehrerin, Ärztin, Krankenschwester als spezielle Frauenberufe zu legitimieren und darauf in einem geschlechterspezifischen Unterricht vorzubereiten.
Religiöse Gruppierungen spielten eine besondere Rolle in dieser Ausgestaltung geschlechterspezifischer Bildung. Dies betraf nicht nur christliche Bewegungen, die sich „zu Hause“ für die Bildung der Armen und sozial Benachteiligten engagierten oder in „Übersee“ im Zuge von Missionsbewegungen Schulen errichteten. Auch die zu dieser Zeit gerade entstehende moderne Esoterik hatte einen großen Einfluss darauf.
Veränderungen innerhalb der religiösen Landschaft
Im 19. Jahrhundert fand eine große Veränderung innerhalb der religiösen Landschaft statt. Unter anderem bildete sich die Vorstellung von „Weltreligionen“ heraus, die nun im Zuge einer global durch den Kolonialismus miteinander verwachsenen Welt zu Konkurrentinnen der eigenen Geschichte und Alleinstellung in Sinn- und Deutungsfragen wurden. Das bis heute geltende Verständnis von Religion als eine spezifische gesellschaftliche Sphäre, die sich von anderen, wie beispielsweise der Politik, abgrenzen lasse und Teil des Privaten sei, entstand zu dieser Zeit. Gleichzeitig formierte sich, quasi als Gegenbewegung zur Trennung von Religion und (Natur-)Wissenschaft, die Esoterik.
Als Begründerin der Esoterik, wie wir sie heute kennen, innerhalb derer religiöse und spirituelle Elemente verschiedener Regionen und Zeiten miteinander verbunden werden, kann die Theosophische Gesellschaft gesehen werden. Diese wurde 1875 in New York von der deutsch-russischen Spiritistin Helena Petrowna Blavatsky (1831–1891) und dem amerikanischen Anwalt Colonel Henry Steel Olcott (1832–1907) sowie anderen Spiritisten und Okkultistinnen gegründet. 1881 richtete die Gesellschaft sich neu aus und verlegte ihr Hauptquartier nach Südindien. Durch die Theosophische Gesellschaft wurde die populäre Rezeption „asiatischer“ oder „orientalischer“ Religionen stark angetrieben. Dies wurde wiederum vonseiten hinduistischer und buddhistischer Reformbewegungen für eigene, auch antikoloniale und nationalistische Bestrebungen genutzt (Bergunder 2020).
Hinduistische und buddhistische Bildung
Auch die Theosophische Gesellschaft hatte sich Bildung zur Aufgabe gemacht. Dies bedeutete insbesondere, dass sie sich für hinduistische und buddhistische Bildung einsetzte, um eine Alternative zu den christlichen Missionsschulen zu bieten. Auf Sri Lanka wurden deshalb bereits 1882 die ersten buddhistischen Schulen für Jungen und 1891 die erste buddhistische Schule für Mädchen gegründet. Diese wurde benannt nach Sangamitta, der ältesten Tochter des Königs Ashoka, die im 2. Jahrhundert v. u. Z. den Buddhismus zusammen mit ihrem Bruder Mahinda nach Sri Lanka gebracht hatte. Sie pflanzte damals den Maha-Bodhi-Baum aus einem Setzling des Baumes in Nordindien, unter dem Buddha der Erzählung nach die Erleuchtung erhalten haben soll, in Anuradhapura, Sri Lanka. Dieser steht als wahrscheinlich ältester, von Menschen gepflanzter Baum der Welt bis heute dort. Die Sangamitta Girl’s School wurde zunächst von der deutsch-amerikanischen Theosophin Marie Musaeus Higgins und später von der Theosophin Countess Miranda de Souza Canavarro geleitet. Diese arbeiteten mit singhalesischen Lehrerinnen zusammen, um eine englischsprachige und singhalesische buddhistische Bildung für Mädchen zu ermöglichen (Bartholomeusz 1994, Jayawardena 2007).
Marie Musaeus Higgins gründete 1894 ihre eigene Schule, die Musaeus School and Orphanage, welche noch heute unter dem Namen Musaeus College als eine der größten privaten Mädchenschulen des Landes existiert. Sie gründete außerdem weitere Schulen für Mädchen und zudem eine Ausbildungsstätte für Lehrerinnen, die ebenso in veränderter Form bis heute als staatliche Lehrerinnenausbildungsstätte besteht. Marie Musaeus Higgins wird deshalb auch als Begründerin der Mädchenbildung auf Sri Lanka gesehen und gefeiert (Daily News 2012). Obwohl die beiden Pionierinnen der Mädchenbildung, Higgins und Canavarro, in ihren feministischen und religiösen Ansichten nicht immer einer Meinung waren, so haben sie doch einige Gemeinsamkeiten: Beide wurden als „weiße Mütter“ von ihren Schülerinnen akzeptiert und verehrt und beide setzten sich für die Wiedereinführung des Bhikkhuni-Ordens mit dem Verweis auf Schwester Sangamitta ein.
Verbindungen transnationaler und transreligiöser Akteurinnen
Beide Schulleiterinnen folgten hierbei und mit ihren Unterrichtsformen sowohl der eingangs beschriebenen Konzeption von Mutterschaft als auch der Mädchenbildung. Die Mutterschaft, die von ihnen als „weiße“ Mütter ausgeführt wird, und die Mutterschaft, zu der die Mädchen erzogen werden, arbeiten jeweils mit dem Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ im Sinne der Frauenrechtsbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Allen 1996). Diese Mutterschaft bezog sich nicht auf eine biologische Fähigkeit der Frau, sondern auf eine spezifische soziale Eigenschaft, die zu dieser Zeit, mit und durch den Feminismus, erst konstruiert wurde. Diese Idee der Mutterschaft wurde zwar auch in paternalistischer Weise von sogenannten imperialen Feministinnen in kolonisierten Ländern für ihre eigenen Zwecke genutzt, indem sie über „Religion“ und „Rasse“ Hierarchisierungen vornahmen. Doch theosophische Feministinnen drehten diese Hierarchisierung oftmals um und argumentierten für die Unabhängigkeit und religiöse Überlegenheit der kolonisierten Länder.
So verschwesterten sich Canavarro und Higgins mit buddhistischen Frauen in Sri Lanka. Sie begannen, mit diesen neue Formen von monastischer weiblicher Teilnahme am Buddhismus zu entwickeln und für die komplette Wiedereinsetzung des Bhikkhuni-Ordens zu kämpfen. Beide verfassten hierzu auch international verbreitete Artikel, in denen sie auf die Notwendigkeit eines weiblichen Ordens auf Sri Lanka hinwiesen und hierbei auf die Figur der Sangamitta verwiesen.
Diese frühen Verbindungen transnationaler und transreligiöser Akteurinnen zeigen, dass Feminismus keine alleinige westliche Erfindung war und dass Feminismus und Religion einander nicht ausschließen müssen. Gerade ein intersektionaler Feminismus muss Entscheidungen und Ausrichtungen verschiedenster Frauen* in Raum und Zeit aufnehmen und sollte diese nicht im Zuge der Vorstellung eines säkularen Feminismus ausblenden. Gerade das binäre Konstrukt von Kolonisierenden und Kolonisierten kann so hinterfragt werden und neue Möglichkeiten internationaler Frauenbewegungen eröffnen.
Literatur
Allen, Taylor (1996), „‚Geistige Mütterlichkeit‘ als Bildungsprinzip: Die Kindergartenbewegung 1840–1870“, in: Kleinau, Elke/ Opitz, Claudia (Hrsg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag, 19–34.
Asad, Talal (2018), Secular Translations. Nation-State, Modern Self, and Calculative Reason. New York: Columbia University Press, Doi: 10.7312/asad18968.
Bartholomeusz, Tessa J. (1994), Women Under the Bo Tree. Cambridge: Cambridge University Press.
Bergunder, Michael (2020), „Umkämpfte Historisierung. Die Zwillingsgeburt von ‚Religion‘ und ‚Esoterik‘ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das Programm einer globalen Religionsgeschichte“, in: Klaus Hock (Hrsg.), Wissen um Religion. Erkenntnis – Interesse. Epistemologie und Episteme in Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 47–132.
Bland, Lucy (2001), Banishing the Beast: Feminism, Sex and Morality. London: Tauris.
Jayawardena, Kumari (2007), „White Women, Arrack Fortunes and Buddhist Girls‘ Education“, in: Jayadeva Uyangoda, Religion in Context: Buddhism and Socio-Political Change in Sri Lanka. Social Scientist’s Association, 45–55.
Jayawardena, Kumari (2003), Feminism and Nationalism in the Third World. Colombo: Sanjiva Books.Mahmood,
Saba (2005), Politics of Piety. The Islamic Revival and the Feminist Subject. Princeton: Princeton University Press.
Scott, Joan Wallach (2017), Sex and Secularism. Princeton: Princeton University Press.
Zitation: Jessica Albrecht: Sri Lanka – Bildung, Religion, Feminismus, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 27.04.2021, www.gender-blog.de/beitrag/bildung-religion-feminismus-sri-lanka/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210427
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Kommentare
Sandra Beaufays | 10.05.2021
Wir freuen uns sehr, dass dieser Blogpost von Jessica Albrecht zu den ausgewählten Top 5 für den seventeen goals Blog Award März/April 2021 gehört.
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findet sich die Berichterstattung zum Award.
Herzlichen Glückwunsch an Jessica Albrecht!