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Interview

Blutslinien – Interview mit Christina von Braun

09. Juli 2019 Uta C. Schmidt

Es lässt sich nicht mehr leugnen: Sowohl auf der Ebene von biologischem Geschlecht als auch von sozialem Geschlecht ist gegenwärtig einiges in Bewegung. Das war für die Berliner Kulturwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin Christina von Braun Anlass, sich in einem weiten zeitlichen Bogen und anhand dichter historischer Momente mit dem abendländischen Konzept von Blutsverwandtschaft zu befassen. Ihr Buch „Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte“ erschien 2018. Uta C. Schmidt sprach mit der Autorin über Geistigkeit als männliches Prinzip und das Ende des Patriarchats.

Sie haben in Ihrem Buch „Blutsbande“ langjährige Forschungen zu Blut, Geld, Schrift, Religion, Geschlecht zusammen- und fortgeführt. Was waren neue Erkenntnisse?

Als mir plötzlich klar wurde, dass mit dem genetischen Fingerabdruck 1984 erstmals in der Menschheitsgeschichte der biologische Vaterschaftsnachweis möglich wurde. Das erscheint wie eine einfache Tatsache, ist aber umwälzend. Rückblickend wurde klar, dass das Patriarchat immer auf der Unkenntnis der Vaterschaft beruht hatte. „Pater semper incertus est“ lautete die römische Rechtsformel. Es ist das Paradox des Patriarchats, dass die Vaterschaft einerseits als etwas Geistiges, also gerade nicht biologisch, gedacht wird, andererseits aber immer von Blutslinien, Stammbäumen und Blut die Rede war. Damit sollte verschleiert werden, dass die Vaterschaft auf einer Vermutung, Annahme, ja einer Fiktion beruht.

Ist das Blut eine kulturelle Konstruktion, um Macht zu sichern?

Eine nicht nachweisbare Vaterschaft ist ermächtigend, weil sie den Vater zu einer geistigen Instanz macht. Für ein solches Konzept von ‚Vater‘ gibt es keine Begrenzung – sie wird durch keine Naturfakten begrenzt, kann jederzeit ausgeweitet werden. Das reichte hinein in die traditionsreichen Diskurse der Theologie und der Philosophie: Ihnen blieb lange Zeit die Definitionsmacht über Geschichte, Kultur und Wissenschaft vorbehalten. Indem sie den Vater über die Geistigkeit festschrieben, ermächtigten sie auch die Männlichkeit. Die Arbeit am Buch bestand darin, diese lange historische Linie einer männlich-geistigen Genealogie, die als Blutslinie daherkommt, nachzuzeichnen.

Sie hatten bis dahin die Ermächtigung von Männlichkeit mit der Männern zugewiesenen Schriftlichkeit und der Abwertung der mit Weiblichkeit verbundenen Mündlichkeit in Verbindung gebracht …

In allen monotheistischen Kulturen wird Schrift mit Männlichkeit und Oralität mit Weiblichkeit gleichgesetzt. Daraus ergab sich eine Geschlechterhierarchie zwischen dem bleibenden Wort der Schrift und der flüchtigen vergänglichen Mündlichkeit. Bis zum sicheren Vaterschaftsnachweis funktionierte die Institution Vaterschaft nur über geschriebene Dokumente: Stammbäume, Gesetze, Archive, gesicherte Rechte – sie wurde verbrieft. Als die Vaterschaft nachweisbar wurde, stieg sie in die Niederungen der Biologie herab (wo sich die Mutter immer schon befand), und damit stand plötzlich das bisherige Legitimationsgerüst des Patriarchats auf schwankendem Boden. Schon die Zeugungsforschung des 19. Jahrhunderts hatte den Beweis erbracht, dass in jedem Kind das biologische Erbe beider Eltern steckt. Das schuf ganz andere Voraussetzungen für die weibliche Erbberechtigung. Der Begriff des Erbes nahm eine doppelte Bedeutung an – eine biologische und eine ökonomische. Meiner Ansicht nach sind die Einsichten in diese biologischen Gegebenheiten die Hintergrundfolie, auf der sich die Gleichberechtigung der Geschlechter in dieser – historisch gesehen: atemberaubenden – Geschwindigkeit vollziehen konnte. Das Datum 1984 – durch George Orwells Dystopie ohnehin mythisch hoch aufgeladen – war nur der Endpunkt dieses Prozesses.

Wenn Sie von Vaterschaft als geistigem Prinzip sprechen, über das sich Männlichkeit ermächtigte, dann muss ich an das Prinzip der „geistigen Mütterlichkeit“ denken, mit dem die Frauenbewegungen des Kaiserreichs ihren Anspruch auf Deutungsmacht, auf Berufsethos, auf Wirken in der Öffentlichkeit legitimierten.

Wir haben dieses Prinzip der „geistigen Mütterlichkeit“ bei unserer Betrachtung der alten Frauenbewegung oft kritisiert. Aber man kann es auch anders sehen: Diese Frauen reklamierten damit ein Prinzip für sich, das über Jahrhunderte als ‚männlich‘ codiert worden war und männliche Definitionsmacht legitimierte. Sie erhoben Anspruch auf die Geistigkeit, die solange den Männern vorbehalten geblieben war: auf eine neue weibliche Genealogie, in der Mütter ihren Töchtern nicht nur das alte weibliche Prinzip Natur, sondern auch Kultur weitergeben. 

Die bürgerlichen Frauen kämpften ja auch um die Zulassung zu geistiger Bildung an Universitäten, die sich bis dahin nur männlich fortgeschrieben hatten.

Das ist untrennbar von den Entwicklungen auf dem Gebiet der Zeugungsforschung. Schon ab 1830 waren mit der Entdeckung des Eisprungs erste Grundlagen für eine andere Sicht auf das „Erbe“ gelegt worden. 1875 sah man zum ersten Mal unter dem Mikroskop die Verschmelzung von Sperma und Eikern. Das war der Wendepunkt für die Anerkennung der Frauenrechte und schlug sich sofort auch auf anderen gesellschaftlichen Feldern nieder – der Diskussion um das Stimmrecht, um Gleichberechtigung, um die Zulassung von Frauen zum Studium. Es war der Anstoß zu einer Ermächtigung von Frauen – und paradoxerweise wurde dieser Anstoß von männlichen Forschern gegeben, die ganz bestimmt nicht die Frauenemanzipation im Auge hatten, eher eine bessere männliche Ermächtigung über die Natur.

Es werden hier Zusammenhänge hergestellt, die erst einmal nicht auf der Hand liegen.

Manchmal wird dir ein Zusammenhang im Halbschlaf klar und dann sagst du dir: „Mensch, das ist es.“ Mich interessieren ja Zusammenhänge, die unterschwellig die Gesellschaft durchziehen. Da kommt man nicht über Aktenmaterial heran, wer wem was wann wie angetan hat.

Der Weg vom Eisprung zum Stimmrecht …

Schon die Entdeckung des Eisprungs war eine Revolution, dann die Verschmelzung von Sperma und Eikern unter dem Mikroskop sehen zu können – von diesem Moment an beginnt die Reproduktion ins Labor abzuwandern. Es entwickelte sich die Eugenik, man phantasierte eine geplante Reproduktion, die ohne die Zufälle der Sexualität auskommt. Zugleich entstanden die Sexualwissenschaften. Sie behaupteten einen von der Reproduktion unabhängigen Sexualtrieb und konnten dies auch gut am Beispiel der Homosexualität festmachen. Das führte im 20. und 21. Jahrhundert zur Entkriminalisierung und schließlich zur Legalisierung der Homosexualität. Bei diesem Prozess wurden Geschlechterdefinitionen flexibler, man musste die alte Polarität, die Männlichkeit und Weiblichkeit als Gegensätze betrachtete, aufgeben. Insofern hat die biologische Forschung, aus der dann schließlich auch die moderne Reproduktionsmedizin hervorging, dazu beigetragen, dass wir nun mehrere Definitionen von Vater und Mutter haben  – genetische Mutter, Tragemutter, soziale Mutter, mitochondrische Mutter, Eizellspenderin usw. –  und verschiedene Definitionen von Vaterschaft, den sozialen Vater, den juristischen Vater, den Samenspender. Natürlich gibt es auch weiterhin Männer, die sowohl genetische als auch soziale und juristische Väter sind.

Gleich zu Beginn ihres Buches über Verwandtschaft als Kulturgeschichte sehen wir das Transparent von einer Demonstration in Paris 2013. Darauf steht: „Jesus hatte zwei Väter und eine Tragemutter“. Irre – stimmt eigentlich.

Ja, diese Botschaft fasst eine Erkenntnis zusammen, die im Buch immer wieder auftaucht: Die biologische Revolution, die heute neue Formen von Mutterschaft und Vaterschaft ermöglicht, war als Phantasie schon lange vorher in den Lehren der christlichen Kirche angelegt. Heute bekämpft die Kirche – zumindest die katholische – die Verwirklichung dieser Phantasien. Doch die moderne Wissenschaft verdankt den theologischen Lehren der Kirche viel mehr als beide zugeben: Die Vorherrschaft des Sehens in der modernen Wissenschaft ist eine Weiterführung der christlichen Lehren, dass die ‚Wahrheit‘ Gottes – die in Christus Gestalt annahm – zu sehen ist. Das theologische Dogma der Jungfrauengeburt – eine Frau gebiert, ohne Geschlechtsverkehr gehabt zu haben – ist heute medizinische Praxis. Das Transparent mit den zwei Vätern und der Tragemutter macht auf solche unbewussten Traditionslinien aufmerksam.

Sie führen alle Kapitel mit Bildern ein, andere Ihrer Bücher sind reich bebildert. Sie haben lange Zeit als Filmemacherin mit bewegten Bildern gearbeitet. Welche Bedeutung hat das Filmische mit seiner spezifischen Narrativität für ihre Arbeit als Kulturwissenschaftlerin?

Ich interessiere mich ja grundsätzlich für Projektionen, für Projektionen auf weibliche und männliche Körper. Dieses Interesse hat viel zu tun mit filmischer Arbeit, mit der Erkenntnis, dass es eine Sprache gibt, die nicht in Worte, sondern in Bilder gefasst ist. Ich hatte schon beim Filmemachen gemerkt, dass es so etwas wie Unterströmungen von Geschichte gibt. Sie werden mitbestimmt von den Wunschbildern, die in einer Gesellschaft kursieren und die oft von neuen Kulturtechniken bestimmt werden – etwa der Erfindung der Schrift, der Einführung des Geldes. Ich würde auch den Monotheismus, der selber ein Effekt des Alphabets ist, zu diesen Kulturtechniken zählen. Solche Dinge lassen sich sowohl filmisch auch als in Texten erfassen.

Gab es eine bewusste Entscheidung gegen den Film und für den Text?

Aus der filmischen Arbeit heraus fand ich zum Thema meines ersten Buchs: der Hysterie als „Frauenkrankheit“. Sie hat eine sehr lange Geschichte. Hysterie ist der älteste Begriff unseres medizinischen Vokabulars. An dieser „Frauenkrankheit“ kann man sehen, welche Phantasien jedes Zeitalter auf den weiblichen Körper projiziert und auf welche Weise der weibliche Körper darauf reagiert. Hier stieß ich aber auch an die Grenzen des  Films. Die großen hysterischen Anfälle lassen sich zwar visualisieren – das war ja auch ihr Sinn – aber das galt nicht für die historischen Prozesse, die dazu geführt hatten. Das kann eher der Text. Deshalb begann ich zu schreiben.

Lesen Sie auch die Rezension von Uta C. Schmidt zu Christina von Brauns Buch Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte in der neuesten GENDER-Ausgabe mit dem Schwerpunkt Verwandtschaftsverhältnisse – Geschlechterverhältnisse im 21. Jahrhundert“. GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft (Heft 2/2019).

Literatur

Christina von Braun (2018). Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte. Berlin: Aufbau Verlag.

Christina von Braun (2016). Sekundäre Religionen. Fundamentalismus und Medien. Wien: Picus Verlag.

Christina von Braun (2012). Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte. Berlin: Aufbau Verlag.

Christina von Braun (2001). Versuch über den Schwindel: Religion, Schrift, Bild, Geschlecht. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Christina von Braun (1985). Nicht ich. Logik Lüge Libido. Frankfurt a. M.: Neue Kritik. 8 Auflagen, Neuauflage: Berlin (Aufbau Verlag) 2009.

Zitation: im Interview mit Uta C. Schmidt: Blutslinien – Interview mit Christina von Braun, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 09.07.2019, www.gender-blog.de/beitrag/blutslinien-interview/

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Dr. Uta C. Schmidt

Historikerin und Kunsthistorikerin; Forschungen an den Schnittstellen von Raum, Wissen, Geschlecht und Macht; Publikationen zu Klöstern, Klanggeschichte und Geschichtskultur; wiss. Mitarbeiterin im Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW; Kuratorin im DA. Kunsthaus Kloster Gravenhorst; Mitherausgeberin von www.frauenruhrgeschichte.de.

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