06. September 2022 Martin J. Gössl
Wenn ein trans Mann in Münster bei der CSD Feier für sein schlichtendes Verhalten von einem Unbekannten verprügelt wird und an den Folgen stirbt, so ist dies eine unfassbare Tragödie. Machtkonflikte und die daraus resultierende Gewalt sind Momente, die traurig machen und uns als Gesellschaft auf eine Belastungsprobe stellen. Diese Situationen dürfen nicht einfach im Alltag untergehen. Daher ist es nun wichtig, sich an das Opfer als ein gesamtheitliches Menschenwesen zu erinnern sowie den Täter für seine Tat zur Verantwortung zu ziehen. Doch gleichsam dürfen wir als Gesellschaft nicht vergessen, der Frage ausreichend Zeit zu gewähren, wie so etwas sein konnte? Warum heteronormative Machtkonflikte unsere aktuelle Zeit so stark bestimmen? Die folgenden Gedanken werden keine detaillierte Antwort auf das Gewaltverbrechen in Münster liefern – das können und sollen sie auch nicht –, vielmehr wird eine theoretische Sichtweise eingenommen, die jedoch helfen kann, hintergründige Parameter von heteronormativen Machtkonflikten zu verstehen.
Welche Traditionen?
Die soziale Mobilisierung in modernen Gesellschaften gegen Gender Mainstreaming und die damit verbundenen Politiken der Gleichstellung machen zunehmend deutlich, dass eine queere Anerkennung in Bedrängnis gerät:
„The ‘anti-gender movement’ has successfully mobilized this rhetoric in Europe, Latin America and Africa, to push back against progress on women’s rights, LGBT inclusion, and in particular the notion of gender self-determination for trans people.“ (Reid 2021)
Eine Berufung auf die Menschenrechte reicht daher längst nicht mehr aus, um Mindeststandards der persönlichen Freiheit und Unversehrtheit von Frauen und queeren Personen aufrecht zu erhalten. Ganz im Gegenteil: Manche Erfolge der Gleichstellung sind sogar in Gefahr, ausgehöhlt oder wieder abgeschafft zu werden. Die politische Machtverteilung spielt hierbei eine elementare Rolle, denn nie zuvor war die Frage, wie man denn eigentlich zu LGBTIQ+ Themen steht, so bedeutend, wie in der aktuellen Zeit. Das zeigt sich unter anderem auch in der bis heute stark in Aufarbeitung befindlichen Präsidentschaft von Donald Trump:
„As president, Mr. Trump has not demagogued L.G.B.T.Q. issues the way he has with immigrants, Muslims and Black people protesting systemic police brutality. But Mr. Trump’s embrace of initiatives promoting religious freedom has been used by people inside and outside his government to justify discrimination against gay and transgender people.“ (Haberman 2021)
Die politische Spielart, wie heteronormative Macht erhalten, bestärkt oder ausgebaut wird, hat sich zunehmend differenziert: Vollmundige Worthülsen, mit denen diffuse Abgrenzungen vorgenommen werden, sind neben expliziten Gegenpositionen beliebte Mittel, um politische Mehrheiten zu generieren. Die Essenz liegt in der Konstruktion des ‚Anderen‘, die sich z. B. im Phantasma des promiskuitiven, schwulen Mannes oder der vermeintlichen Zerstörungsmacht der LGBTIQ+-Community als Antithese zu einem normalen Familienmodell kristallisiert. Hier wird auf das Unverständnis der einschlägigen Wähler*innenschaft gebaut.
Welche Menschenrechte?
Die Frage, wo die Menschenrechte in einem demokratischen System zu verorten sind und ob diese Systeme auch über menschenrechtliche Belange individuell entscheiden können, beschäftigt Intellektuelle schon seit Jahrzehnten (vgl. Martinsen 2019, 198ff.). Solange der gesellschaftspolitische Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter und LGBTIQ+-Menschen stetige Erfolge aufweisen konnte, blieben viele dieser theoretischen Erörterungen Teil akademischer Diskussionen. Doch nun, da eine politische Gegenmobilisierung nicht nur spürbar und sichtbar wird, sondern auch wahlentscheidend, bekommt die Frage realpolitische Relevanz. Die steinernen heteronormativen Machtstrukturen, an denen sich bislang abgearbeitet wurde, sind changierenden heteronormativen Machtformationen gewichen, erkennbar an wechselnden Gesichtern von Politiker*innen oder sogar ganzer Parteien.
Es sind eben keine statischen Institutionen oder Persönlichkeiten mehr, die langanhaltenden Widerstand bilden, sondern zunehmend flexible Initiativen und kalkulierende Politiker*innen, die, wenn es passend erscheint, ethische Überlegungen wie die Gleichstellung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ad acta legen, um die Erfolgschancen ihrer politischen Agenda nicht zu minimieren. Die Menschenrechte sind dabei nicht mehr unantastbar, sondern implizit Gegenstand dieser erfolgsversprechenden Auseinandersetzungen, in denen archaische Motive von richtig, ehrlich, wahr und echt Anwendung finden, z. B. in normativen Vorstellungen von richtiger Sexualität, ehrlichen Beziehungen, wahrer Männlichkeit oder echter Familie.
Welche Konflikte?
Kompromisse und Dehnungen erscheinen in dieser Debatte zunehmend unmöglich.
„Ausflüsse queerer Anerkennungen kristallisieren sich gern an Linien der Auseinandersetzung, wo extreme und polarisierende Positionen für gemäßigte Kompromisse eingewechselt werden. Oder entlang tiefgreifender Konfliktlinien eines heteronormativen Ordnungssystems, wodurch sich Gegenangebote einer Subkultur in Form von Dehnungen der gesellschaftlichen Norm ergeben. […] Zuspitzungen sind strategisch und diskursiv für eine queere Gemeinschaft prägend und beeinflussen ebenso die gesamte Öffentlichkeit. Sie polarisieren und fordern die Auseinandersetzung mit alten Strukturen, bequemen Traditionen und unüberlegten Mustern.“ (Gössl 2022, 118)
Der jahrzehntelange Prozess einer sich zumindest zögerlich vollziehenden Integration von machtlosen Personengruppen und deren Anliegen wird im Zuge des Narratives der eigenen Gefährdung – als Mann, Weißer, Gläubiger, etc. – ad acta gelegt. Die neuen Konflikte mit heteronormativen Formationen sind deshalb anders als bisher, da sowohl die marginalisierte als auch die hegemoniale Position von einem Gefährdungsprinzip ausgehen kann, das die Identitäten im Zusammenleben destabilisiert: So gefährdet die Öffnung der Ehe beispielsweise die verschiedengeschlechtliche Partnerschaft in ihrer Rechtspraxis nicht, dennoch wird die gleichgeschlechtliche Beziehung und eine mögliche Rechtsform von konservativen und rechtsideologischen Standpunkten als Gefahr für die traditionelle Familienform dargestellt. Diese Erzählung kann für beide Seiten – non-queer und queer – sinnstiftend sein, wenn man das Faktische außer Acht lässt, und genau das ist bei vielen aktuellen Auseinandersetzung der Fall.
Fakten und Erkenntnisse
Gender und Queer Studies, Black Studies und Postcolonial Studies sind nur einige Beispiele für wissenschaftliche Fachgebiete, die sich diesen fundierten Erkenntnisprozessen verschrieben haben. Vertreter*innen dieser und vieler weiterer Wissenschaftsgebiete sind es, die heteronormative Machtformationen analysieren und das Gefälle zwischen Macht und Ohnmacht beschreiben. Sie entlarven damit die vorgespiegelte Gefährdung konservativer Ideale und Lebensformen als willkürlichen Ausdruck eines heteronormativen Machthabitus. Diese Erkenntnisse folgen keinem demokratischen Mehrheitsprinzip, sondern bauen auf Fakten auf, die im Sinne menschenrechtlicher Überlegungen eine ausgleichende Position im gesellschaftspolitischen Konflikt begründen können. Es werden ethische Orientierungen formuliert, um in der Mitte liegende Positionen auszuloten, die ihrerseits entsprechende Handlungsmomente – wie den tragfähigen Kompromiss – ermöglichen (vgl. Illhardt 1999, 263ff.).
Welche Lösungen?
In der Beobachtung der aktuellen Situation in den USA bereiten mir brennende Regenbogenflaggen außerordentlich viel Sorge: Sie avancieren für manche Menschen zu einem Symbol der Ablehnung, das weit mehr umfasst als die eigentlichen LGBTIQ+-Inhalte selbst. Die Entfernung zwischen den unterschiedlichen ideologischen Standpunkten wird immer größer und die globale Unterteilung in „gay and non-gay territories“ (Bailey 2001, 231) spürbarer. Mögen es Krisen der Männlichkeit, Wirtschaftsflauten, Pandemie, Wohlstandsängste, Rassismen oder mediale Übersättigungen sein – die Konflikte mit heteronormativen Formationen sind allgegenwärtig und das altgediente Bewusstsein für nachhaltige Kompromisse schwindet. Sich auf eine menschenrechtliche Position zurückzuziehen, mag zwar moralisch passend erscheinen, ist jedoch ebenso wenig zielführend wie eine Entsolidarisierung oder Hinwendung zu rechtspopulistischen Phantasien.
Dieser Rückzug führt vielmehr dazu, dass Entscheidungen an die Gerichte delegiert werden, statt gesellschaftspolitische Fragestellungen in soliden Debatten in die Parlamente einzubringen. Die Lösung – und dies ist in der aktuellen Zeit nicht sonderlich populär – kann ein gesamtgesellschaftliches Zugehen aufeinander sein, ohne dabei in die Angst zu verfallen, den eigenen Standpunkt im politischen Alltagsgeschäft zu verlieren. Kompromisse sollten dabei nicht als Niederlagen gewertet, sondern als Mittelweg genutzt werden, um ein gemeinsames Wachsen zu ermöglichen.
Respektvoller Dialog als Weg
Die soliden Kompromisse der letzten Jahrzehnte, welche über zehrende Auseinandersetzungen im politischen und öffentlichen Diskurs zustande gekommen sind, drohen nun vielerorts in der Radikalität der aktuellen Zeit abhanden zu kommen und somit den Spalt zwischen einer offenen Gesellschaft und ihren Feinden (vgl. Popper 2003) zu vergrößern. Helfen kann hier eine wertschätzende Haltung, die den Dialog fördert.
Als im Mai diesen Jahres ein lieber Freund und exzellenter Wissenschaftler der Queer Studies, Jeffrey Escoffier (Genzlinger 2022), verstarb, kam mir sofort eine seiner beeindruckendsten Eigenschaften in den Sinn: Als Kind der 1968er-Bewegung, politisch und wissenschaftlich zeitlebens hochaktiv und anerkannt, war Jeffrey stets in der Lage, vielfältigste Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Verwaltung und der Pornoindustrie mit politisch-gegensätzlichen Positionen als Freunde um sich zu scharen (Ring 2022). Statt sich abzuwenden oder abzugrenzen, blieb er fortwährend im respektvollen Dialog. Und genau das ist es, was wir brauchen: einen von Verständnis getragenen Dialog über heteronormative Machtformationen mit jenen, die verstehen wollen, und auch mit jenen, die meinen zu wissen, was richtig, ehrlich, wahr und echt ist.
Denn es ist wichtig, dass die Regeln unseres Zusammenlebens von einer Mehrheit getragen werden und dabei die menschenrechtlichen Grundzüge erhalten bleiben. Wir brauchen fortlaufend das kollektive Zugeständnis an uns alle, dass eine Gewalttat – wie die Gewalttat gegenüber einem Menschen der queeren Community – Unrecht ist und nicht bagatellisiert oder gar akzeptiert werden darf.
In Memoriam: Jeffrey Escoffier
Literatur
Bailey, Robert W. (2001): Sexual Identity and Urban Space. Economic Structure and Political Action. In Mark Blasius (Hrsg.), Sexual Identities. Queer Politics. New Jersey: Princeton University Press.
Genzlinger, Neil (2022): Jeffrey Escoffier, Health Official and Scholar of Gay Theory, Dies at 79. Zugriff am 5.9.2022 unter https://www.nytimes.com/2022/06/25/nyregion/jeffrey-escoffier-dead.html?searchResultPosition=1.
Gössl, Martin J. (2022): Unbehaglich Queer. Das ernste Spiel mit der Anerkennung. Bielefeld: transcript Verlag.
Haberman, Maggie (2021): After Three Years of Attacking L.G.B.T.Q. Rights, Trump Suddenly Tries Outreach. Zugriff am 5.9.2022 unter https://www.nytimes.com/2020/08/26/us/politics/trump-lgbtq-rights.html.
Illhardt, Franz-Joseph (1999): Der Kompromiss. Ethik-Beratung gegen moralischen Rigorismus (Ethik in der Medizin Bd. 11). Berlin: Springer Medizin.
Martinsen, Franziska (2019): Grenzen der Menschenrechte. Bielefeld: transcript Verlag.
MyNorthwest (2022): Pride flags torn down and burned in front of Seattle restaurant. Zugriff am 5.9.2022 unter https://mynorthwest.com/3520507/pride-flags-torn-down-burned-seattle-restaurant.
Reid, Graeme (2021): Political Homophobia Ramps Up. Zugriff am 5.9.2022 unter https://www.hrw.org/news/2021/08/13/political-homophobia-ramps.
Ring, Trude (2022): Gay Activist and Writer Jeffrey Escoffier Dead at 79. Zugriff am 5.9.2022 unter https://www.advocate.com/news/2022/6/26/gay-activist-and-writer-jeffrey-escoffier-dead-79.
Popper, Karl R. (2003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen: Mohr Siebeck.
Westfälische Nachrichten (2022): Bestürzung und große Anteilnahme nach Tod des 25-Jährigen. Zugriff am 5.9.2022 unter https://www.wn.de/muenster/christopher-street-day-csd-angriff-polizei-2622855.
Zitation: Martin J. Gössl: Brennender Regenbogen: Heteronormative Machtkonflikte in modernen Gesellschaften, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 06.09.2022, www.gender-blog.de/beitrag/brennender-regenbogen-heteronormative-machtkonflikte/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220906
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