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Ist nur die Wut von weißen Männern gerecht? Ciani-Sophia Hoeders „Wut und Böse“

18. Januar 2022 Katharina Tolle

Wut ist nicht gleich Wut. Dieses Fazit zieht Ciani-Sophia Hoeder in ihrem Buch Wut und Böse und zeigt, dass die Wut bestimmter Personengruppen als legitim betrachtet wird, während vor allem die Wut von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen als unrechtmäßig abgetan wird. Dagegen will sie sich wehren. Ihr Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung. Obwohl die Autorin mit Quellen arbeitet und diese im Anhang nach Kapiteln geordnet übersichtlich auflistet, ist ihr Buch eher eine Mischung aus Anekdotensammlung, persönlicher Erfahrung und Aufruf zur Tat. Sie will mit ihrer Analyse nicht paralysieren, sondern aktivieren.

Warum Wut nicht gleich Wut ist

Hoeder fasst in ihrem Buch die Ergebnisse der Forschung zusammen: Wut sei, obwohl sich die Emotion körperlich gleich ausdrücke, gesellschaftlich betrachtet nicht gleich Wut. Vielmehr stellten Menschen diese Emotion, genau wie andere Emotionen, in den Kontext ihrer individuellen und gesellschaftlichen Lebenserfahrung. Bestimmte Emotionen würden demnach manchen Bevölkerungsgruppen eher zugeordnet als anderen.

So sei Furcht in vielen Kulturkreisen zum Beispiel weiblich konnotiert. Das würde evolutionsbiologisch damit begründet, dass sich Frauen um den Nachwuchs kümmerten und entsprechend für dessen Sicherheit Sorge trügen – beziehungsweise Angst um dessen Sicherheit hätten. Wut dagegen sei eine männlich gelesene Emotion. Je mehr die Person einem männlich gelesenen Stereotyp entspreche, desto eher werde Wut als eine „normale“ Emotion für diese Person anerkannt. Hoeder erläutert, dass sich diese Unterschiede zu gesellschaftlichen Strukturen ausweiteten, die problematisch seien: „Wut und Diskriminierung verstärken einander“ (S. 96). Die Gesellschaft sei „wie ein Koordinatensystem, in dessen Zentrum ein weißer Mann steht“ (S. 96, Hervorh. im Original). Gerade denjenigen Personen, die wegen struktureller Benachteiligungen die meisten Gründe hätten, wütend zu sein, würde die Rechtmäßigkeit ihrer Emotion aberkannt. Vielmehr werde hier der Anspruch erhoben, sich möglichst unauffällig zu benehmen.

Wut als Kraft zur Veränderung

Wut sei, so die Autorin, eine Emotion, die eine Aktion hervorrufe. Angst und Scham führten eher zu Rückzug. Wut dagegen befähige Menschen, für sich selbst (oder andere) einzutreten und Ungerechtigkeiten anzuprangern. Somit habe Wut das Potenzial zu persönlicher und gesellschaftlicher Veränderung. „Wer wütend sein darf, hat Macht. Wer es nicht sein darf, wird kontrolliert“ (S. 184).

Ein wütender Mann (zumindest dann, wenn er zusätzlich den Mehrheitskategorien bezüglich Hautfarbe, sexueller Orientierung, körperlicher Fitness etc. zugeordnet wird) vertrete dann berechtigte Interessen. Er sei zum Beispiel wütend, wenn er nach eigenem Empfinden für seinen Job nicht angemessen bezahlt werde oder wenn die Gesetzgebung ihn in seinem Lebensstil beeinflusse und er sich dadurch eingeschränkt fühle. Diese berechtigte Wut dürfe er entsprechend ausdrücken, denn er kämpfe für eine gerechte Sache.

Vielen anderen Gruppen würde Wut dagegen nicht als legitime Emotion zugestanden. Im Gegenteil würden diese Menschen häufig zurechtgewiesen: Sie sollten ihre Argumente sachlich vorbringen statt wütend zu argumentieren. Denn sachliche Argumente würden viel eher zu einem Umdenken der anderen führen als ein wütender Ausbruch. Dabei werde, so Hoeder, unterschlagen, dass der Grund der Wut häufig in strukturellen Ungleichbehandlungen liege. Diese seien von denjenigen, gegen die sich die Wut richte, bisher nicht beseitigt worden. Aus dieser Nichtbeachtung entstehe erst die Wut, die dann wiederum von den machtvollen Menschen als Hindernis bei der Beseitigung von Ungleichbehandlung dargestellt werde.

Die Wut von machtlosen Gruppen

Ciani-Sophia Hoeder macht deutlich, dass die Erwartung an eine sachliche Argumentation ohne Gefühlsausbrüche in Deutschland (aber auch international) größer werde, je weiter die Person vom Bild des heterosexuellen, weißen Mannes ohne körperliche Einschränkungen entfernt sei. Daraus folge, dass besonders Women of Color, die sich nicht heteronormativ verhielten, schnell als „wütende, irrationale Furien“ verschrien seien – unabhängig von der Rechtmäßigkeit ihres Anliegens.

Hoeder nennt viele Beispiele sowohl aus ihrem persönlichen Umfeld als auch aus der öffentlichen Debatte, in denen wütenden weiblich gelesenen Personen die Rechtmäßigkeit ihrer Wut abgesprochen würde. Besonders die Rede von Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen dürfte in diesem Zusammenhang vielen Leser*innen bekannt sein. Thunberg sprach in New York vor den Vertreter*innen der Nationalstaaten davon, wie diese es wagen könnten, Thunbergs Zukunft zu zerstören. Viele Menschen reagierten im Anschluss nur auf Thunbergs Wut und Verzweiflung, anstatt auf den Inhalt ihrer Rede.

Die einzige Wut, die Frauen zugestanden werde, sei, so Hoeder, stellvertretende Wut für andere. Eine Frau dürfe wütend sein, wenn ihre Kinder betroffen seien. Hier werde die Wut wiederum evolutionsbiologisch mit einem angeblichen „Fürsorge-Gen“ der weiblichen Bevölkerung verknüpft. In einem Interview, das die Autorin mit drei Frauen (Großmutter, Mutter, Tochter) über deren Einstellungen zur Wut geführt hat, wird jedoch deutlich, dass Frauen heutzutage bereits mehr Wut zugestanden wird als in früheren Generationen.

Wie gehen wir mit Wut um?

Es stellt sich die Frage, wie mit dieser Sachlage umzugehen ist. Wie eingangs erwähnt, will Hoeder keinesfalls paralysieren, sondern Mut machen, die eigene Wut zu nutzen und auch andere darin zu unterstützen. Folgende Ideen werden im Buch vorgestellt:

* Erzieht eure Töchter dazu, laut ihre Meinung zu sagen, für sich und andere einzustehen und Wut nicht als männliche Emotion wahrzunehmen.

* Erzählt wütenden Frauen nicht, dass sie sachlich sein sollen, sondern akzeptiert ihre Wut.

* Erkennt an, dass die Forderungen bestimmter Bevölkerungsgruppen nicht umgesetzt wurden, wenn diese emotionslos und sachlich vorgetragen wurden.

* Akzeptiert das Potenzial von Wut, positive gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen.

* Löst Emotionen aus dem Kontext bestimmter Personengruppen.

Der Wunsch nach Veränderung

Ciani-Sophia Hoeder spannt in ihrem Buch Wut und Böse den Bogen von der wissenschaftlichen Forschung und eigenen persönlichen Anekdoten hin zu einer „Anleitung zum Wütendsein“ (S. 9, Überschrift). Dabei geht es ihr nicht darum, dass alle Menschen ständig wütend sein sollten. Und sie will auch nicht Gewalt oder Hass durch Wut legitimieren. Doch sie erkennt das Veränderungspotenzial an, das in der Wut steckt. Deshalb wünscht sie sich, dass die Wut aller Menschen als Wunsch nach Veränderung anerkannt wird. Natürlich wäre es schön, wenn sachliche Argumentationen zu ähnlichen Ergebnissen führen würden. So lange das allerdings nicht der Fall ist, so Hoeder, sollten wir die Wut nutzen, um persönliche und gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen: „Wütend zu sein und mithilfe dieser Emotion eine Ungerechtigkeit zu ändern, ist ein betörendes Gefühl. Es ist die Erkenntnis, dass eine eigene Handlung wirksam ist“ (S. 186).

Wut und Böse von Ciani-Sophia Hoeder ist 2021 bei Hanserblau erschienen.

Literatur

Hoeder, Ciani-Sophia (2021). Wut und Böse. München: Hanserblau.

Zitation: Katharina Tolle: Ist nur die Wut von weißen Männern gerecht? Ciani-Sophia Hoeders „Wut und Böse“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 18.01.2022, www.gender-blog.de/beitrag/ciani-sophia-hoeder-wut-und-boese/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220118

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

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Katharina Tolle

Katharina Tolle ist Aktivistin für eine frauen*zentrierte Geburtshilfe und bloggt auf Ich Gebäre über die Zusammenhänge von Feminismus und Geburten. In ihrer Freizeit plündert sie die umliegenden Bibliotheken auf der Suche nach feministischer Literatur.

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Kommentare

Uta C. Schmidt | 20.01.2022

Lieben Dank für die Besprechung. Ich werde das Buch wohl lesen müssen, um herauszufinden, ob die Rezensentin die Wutproblematik ein wenig zu schlicht wiedergegeben hat, oder ob die Autorin selber aus einer individualistischen Perspektive in struktureller Benachteiligung auffordert, wütend zu sein. Gut, dass wir heute das Gegenüber des „heterosexuellen weißen Mannes ohne körperliche Einschränkungen“ haben, um politisches Bewusstsein auszurichten. Früher diskutierten wir Sexismus und Patriarchat als komplexe gesellschaftliche Machtverhältnisse (in die auch Frauen* verstrickt sind), um Unterdrückungsverhältnisse zu erkennen und politisch anzugehen. Wut war ein Medium, um individuell und kollektiv eine feministische Bewusstwerdung zu initiieren, zu lernen, sich zusammenzutun und gemeinsam als Bewegung gesellschaftliche Veränderungen zu erkämpfen, die Sexismus und Unterdrückung beenden. Sie war eine Erfahrungskategorie und eine politische Kategorie. Dass Wut bei weißen Männern ohne körperlichen Einschränkungen – auch bei „dem“ rumänischen Schlachthofarbeiter? – gerecht sei, während er für Frauen als „unschicklich“ gilt, hat etwas mit einer historisch und kulturell lang tradierten und naturalisierten Zuweisung von Logos auf das Männliche und Emotionalität auf das Weibliche zu tun. In diesem Zuordnungssystem gelte auch ich als weiße Frau mit Wutausbruch noch immer als rasende Furie und gesellschaftlich inakzeptabel, ich kann allerdings nicht beurteilen, inwieweit eine woman of colour in der Verstrickung von Geschlecht und race besondere gesellschaftliche Zumutungen erfährt und antizipiert, ihre Emotionalität und Wut „im Zaum“ halten zu müssen.

Kann Wut „gerecht“ sein? Wann ist sie für wen „ungerecht“? Gibt es „gerechte“ und „gerechtere“ Wut? Und wer setzt dazu die Maßstäbe? Lassen sich wirklich mit Wut – so steht es hier – gesellschaftliche Veränderungen „erreichen“ oder braucht es dazu nicht auch die Mühen der Ebene, sich zusammenzutun, Argumente zu formulieren, sachlich vorzutragen und so in Macht- und Deutungsstrukturen hineinzuwirken?

 

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