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Themenwochen , Pandemie

Corona, postkolonialer Feminismus und Necropolitics in Indien

08. Oktober 2020 Christine Löw

Mangelernährung, Hunger und gravierende Einkommensausfälle durch die Corona-Pandemie-Maßnahmen der indischen Regierung betreffen vor allem arme Frauen*, die durch intersektionale Geschlechter-, Klassen- und Kastenverhältnisse benachteiligt sind. Am 23. März 2020 hat der indische Premierminister Narendra Modi zur Bekämpfung der Coronapandemie nicht nur die Schließung aller Unternehmen, Schulen und Universitäten, sondern auch eine 21-tägige strikte Ausgangssperre für die 1,3 Milliarden Inder*innen erlassen.

Bereits am 26. März 2020 prognostizierte die feministische Entwicklungsforscherin Nitya Rao, dass Frauen* und Arbeitsmigrant*innen die Hauptlast der Pandemiefolgen tragen werden. Erstens müssten insbesondere Frauen* mehrheitlich die Verantwortlichkeiten für Einkauf und Zubereitung von Lebensmitteln schultern – sie sind es, die an Geschäften anstehen, um rationierte Grundnahrungsmittel wie Reis, Dal, Öl und Zucker zu besorgen. Zweitens wirke sich das fehlende Einkommen aufgrund geschlossener Märkte, unterbrochener Lieferketten, verschobener Aussaat und Ernten sowie des Einbruchs landwirtschaftlicher Beschäftigungen hauptsächlich negativ auf die Ernährungssouveränität ländlicher Bevölkerungen aus und darunter nochmals in hohem Maße auf Frauen*. Dies sei umso bedrohlicher, da schon vor dem Ausbruch des Coronaviruses die Hälfte der indischen Bevölkerung nicht über Nahrungssicherheit verfügte und zudem laut dem „National Family Health Survey 2015–16“ mehr als 60 Prozent der Ärmsten, vor allem Dalitfrauen und Frauen* indigener Gemeinschaften (Adivasi) sowie deren Kinder, anämisch sind.

Überlebenschancen und Sterberisiken – der Staat entscheidet mit

Angelehnt an Michel Foucaults Biopolitik (Foucault 2006) entwickelte Achille Mbembe den Begriff necropolitics für soziale und politische Macht, die darüber verfügt, wer in postkolonialen Kontexten lebt und wer sterben muss (Mbembe 2003). Während der gegenwärtigen Krise treten bereits existierende gesellschaftliche Konfliktlinien in Indien und die Auswirkungen der bestehenden Machtverhältnisse noch stärker als zuvor zutage: Wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet, offenbaren sich in der Coronapandemie die verflochtenen strukturellen Benachteiligungen mehrfach diskriminierter Frauen im ländlichen Raum hinsichtlich Ernährung, Gesundheit und Einkünften und bestimmen damit letztlich deren Überlebenschancen und Sterberisiken.

Dabei sind die Zusammenhänge zwischen ländlicher Armut, Hunger, schlechtem Gesundheitszustand und niedriger Lebenserwartung in Indien seit langem bekannt. 2005 wurde das Beschäftigungsprogramm Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act (MNREGA) eingeführt, das für ländliche Haushalte (die in der Statistik dreiviertel der Armen Indiens ausmachen) 100 Tage Arbeit zu staatlichen Mindestlöhnen zahlt, um den Teufelskreis aus geringem Einkommen, Mangelernährung und frühem Tod zu durchbrechen. MNREGA ist insbesondere für landwirtschaftlich tätige Frauen*, die ohne wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme und finanzielle Reserven für ihr Überleben von einem Tag zum nächsten auf Arbeit angewiesen sind, zu einer zentralen Existenzgrundlage geworden (Khera/Najak 2009; Pellissery/Kumar Jalan 2011).

Social distancing nicht möglich

Die sozial-ökologische Bewegung Food Sovereignty Alliance India (FSA), in der mehrheitlich ländliche Dalit- und Adivasi-Frauen* organisiert sind, hat erstmalig am 27. April 2020 berichtet, dass in einem Dorf im südindischen Bundestaat Telangana das MNREGA-Beschäftigungsprogramm ungeachtet der verlängerten Ausgangssperre sowie der Abstandsregeln von zwei Metern zwischen Personen am 20. April 2020 wiederaufgenommen wurde. Auch in einem weiteren Distrikt waren Adivasi-Frauen* der Chenchu genötigt, während des Lockdowns Steinmauern in Gruppen von 20 Personen zu errichten. Da sich MNREGA vor allem auf schwere körperliche Arbeiten erstreckt, ist es unmöglich, social bzw. physical distancing einzuhalten. Darüber hinaus arbeiteten Frauen* aus verschiedenen Haushalten in einem Team zusammen – auch dies ist eigentlich verboten. Damit steigt das Risiko für eine Corona-Infektion nicht nur für die unter MNREGA arbeitenden Frauen*, sondern auch für deren Familienangehörige enorm. Von weiteren Dörfern wurden ähnliche Berichte an FSA gemeldet. Als einige Dorfversammlungen (gram panchayats) von der Kreisverwaltung einklagten, die Tätigkeiten (z. B. Schlammentfernen aus Teichen), bei denen physische Nähe unvermeidbar ist, zumindest im Lockdown zu unterbrechen, wurde ihnen mitgeteilt, dass sie keine Mitsprache bei dem landesweiten Sozialprogramm hätten.

Mangelernährung und Einkommenseinbußen

Zudem hat der indische Staat im Rahmen des Hilfsprogramms zur freien Getreideverteilung Pradhan Mantri Gareeb Kalyan Ann Yojna zugesagt, ländliche Bevölkerungen mit Grundnahrungsmitteln (5 kg Reis oder 5kg Weizen und 1 kg Hülsenfrüchte pro Person monatlich) von April bis November 2020 zu versorgen. Die Mitglieder von FSA erhielten jedoch bisher nur Reis, es fehlten z.B. Zwiebeln, Dal, Öl, Hirse – somit alle nahrhaften Lebensmittel, die zu einem guten Gesundheitszustand beitragen und zur Abwehr gegen Viren hilfreich sind. Hinzu kommt die Bedrohung von Kleinbäuer*innen infolge des durch die Corona-Maßnahmen ausgelösten Preisverfalls für Milch: Durch die Schließungen von Molkereien, Schulen, Unternehmen waren Viehzüchterinnen nicht mehr imstande, ihre Milch kostendeckend zu verkaufen; auch Gemüsebäuer*innen mussten aufgrund geschlossener lokaler Märkte und Regierungsvorgaben ihr Gemüse an Supermärkte für ein Drittel des festgesetzten Mindestpreises verkaufen. Auch diese Einkommenseinbußen nötigten überwiegend Adivasi- und Dalit-Frauen* gesundheitsgefährdende Arbeiten im Rahmen von MNREGA durchzuführen.

Nur formal gleiche Staatsbürger*innen

Am Beispiel der geschilderten Vorfälle wird erkennbar, dass die Vorgaben der indischen Regierung während der Corona-Krise Logiken von necropolitics folgen: Es verschlimmerten sich nicht bloß die prekären Lebensbedingungen ländlicher Frauen* weiter; vielmehr werden sie bedrängt, sich zwischen zwei möglichen (Über-)Lebens- bzw. Todesarten zu entscheiden: Schutz vor Corona-Ansteckung oder sozial-ökonomisches Überleben. Die verdeckt vorhandene necropolitische Tendenz in Indien offenbart sich somit in der Corona-Krise ganz unverhohlen, indem subalterne Frauen* vor die ‚Entscheidung‘ zwischen ‚Leben‘ (life) und ‚Existenzgrundlagen‘ (livelihoods) gestellt werden. Es zeigen sich deutlich unterschiedliche Bewertungen des Lebens der formal gleichen Staatsbürger*innen. Die necropolitische Ausrichtung der staatlichen Verordnungen und Gesetze über den vergeschlechtlichten Körper reduziert Subjekte nicht bloß auf ihre prekären Existenzkonditionen, sondern verteilt hierarchisch angeordnete Bevölkerungsgruppen auf einem Kontinuum zwischen Leben und Tod. In der Konsequenz heißt das nichts anderes, als dass der indische Staat das Sterben von armen Frauen* auf dem Land  billigend in Kauf nimmt.

Forderungen an die Regierung

Zu Recht stellen daher Mitglieder von FSA die elementare biopolitische Frage, ob das Leben ländlicher Frauen* weniger ‚Wert‘ hat.  Die vorhandenen Verflechtungen intersektionaler Ungleichheitsverhältnisse entlang Geschlecht, Klasse, Kaste, Einkommen, Bildung, die schon vor dem Covid 19-Ausbruch u. a. Ernährungssituation, Gesundheitsrisiken und letztlich die Lebenserwartungen benachteiligter ländlicher Frauen* signifikant beeinflusst haben, spitzen sich in dem jetzigen Ausnahmezustand zu. Schonungslos und unverhüllt tritt die vom indischen Staat reg(ul)ierte machtvolle Grenzlinie zwischen ‚Leben lassen‘ und ‚Sterben machen‘ für weibliche Subjekte zutage, die aufgefordert sind, selbst zwischen Pandemie und Armut zu ‚entscheiden‘. Diese offen gewaltvolle necropolitische Tendenz ist auch den im Netzwerk FSA organisierten Gruppierungen bewusst. Sie beanspruchen deshalb, dass MNREGA-Löhne auch und gerade dann gezahlt werden, wenn marginalisierte Frauen* während der Geltung der vom Staat erlassenen Corona-Maßnahmen nicht arbeiten können. Darüber hinaus muss die indische Regierung dafür Sorge tragen, dass gerade die auf dem Land lebenden Nahrungsproduzent*innen tatsächlich Zugang zu kalorisch ausreichenden und gesunden Lebensmitteln erhalten, um Unterernährung, verborgenen Hunger, Blutarmut und vorzeitigem Tod systematisch entgegenzuwirken.

Der Staat steigert die Ernährungsunsicherheit weiter

Aktuellen Berichten zufolge hält die indische Regierung jedoch unbeirrt an ihrem necropolitischen Kurs fest. Soeben wurde ein Landwirtschaftsplan verabschiedet, der u.a. staatliche Zahlungen an Bäuer*innen für das Anpflanzen von für den Export bestimmter Baumwolle anstelle von eigenen Nahrungsmitteln wie Reis vorsieht und damit die Ernährungsunsicherheit großer Bevölkerungsgruppen auf dem Land noch steigern wird. Zugleich wurden qua Verordnung am 22. September 2020 Hülsenfrüchte, Ölsaaten, Zwiebeln und Kartoffeln aus dem Gesetz über ‚essentielle Waren‘ herausgenommen, diese Grundnahrungsmittel waren bisher vor dem ‚Horten‘ geschützt und mussten allen Personen zugänglich sein. Dadurch öffnet der Staat inmitten der Coronapandemie den Ernährungsbereich noch weiter für transnationale Agribusinessunternehmen.

Food Sovereignty Alliance India hat am 30. Juli 2020 bei dem Komitee der Nationalen Menschenrechtskommission Indiens einen Bericht zu den Auswirkungen der COVID-Epidemie auf die Menschenrechte eingereicht. Schon jetzt hat die Organisation autonom entschieden, durch die Ausdehnung kollektiver Nahrungsproduktion zwischen Viehhalter*innen, Hirt*innen, Fischer*innen und Kleinbäuer*innen und durch den Vorrang lokaler Märkte für den Verkauf von Milch, Fleisch und weiteren landwirtschaftlichen Produkten ihre Resilienz zu erhöhen und zu erproben, ob diese beiden Strategien ein gangbarer Weg für kleinbäuerliche, nachhaltige und geschlechtergerechte Ernährungssysteme in einer Post-Covid19-Zeit sein können.

Dieser Beitrag wurde in Kooperation mit der Sektion Politik und Geschlecht der DVPW im Rahmen der Themenwoche „Pandemie“ erstellt. Wir danken Dorothee Beck und Miao-Ling Hasenkamp für die editorische Betreuung.

Literatur

Foucault, Michel (2006). Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978/1979. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Khera, Reetika & Nayak, Nandini (2009). Women Workers and perceptions of the National rural employment Guarantee act. Economic & Political Weekly (xliv)43, 49–57.

Mbembe, Achille (2003). Necropolitics. Public Culture, 15(1), 11–40.

Pellissery, Sony & Kumar Jalan, Sumit (2011). Towards transformative social protection: a gendered analysis of the Employment Guarantee Act of India (MGNREGA). Gender & Development, (19)2, 283–294. https://doi.org/10.1080/13552074.2011.592639

Zitation: Christine Löw: Corona, postkolonialer Feminismus und Necropolitics in Indien, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 08.10.2020, www.gender-blog.de/beitrag/corona-und-necropolitics/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20201008

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Dr. Christine Löw

Christine Löw ist assoziierte Postdoktorandin in Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt/Main. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Post-/Dekoloniale Feminismen; Entwicklung; Klima-, Umwelt- und Ressourcenpolitik; Neue soziale Bewegungen und globalisierte Ungleichheiten; Finanzialisierung und New Materialism sowie Kritische Gesellschaftstheorie.

Kontakt: Loew [at] em.uni-frankfurt.de

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