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Forschung

„Damals Zuckerwatte, heute Stein“
Emotionale Abwehr als Bedingung männlicher Zugehörigkeit

04. November 2025 Anna Lena Winkler

Beim ersten Feueralarm in der Grundschule brach er als einziger in Tränen aus. Seine Freund*innen lachten, die Lektion war klar: Gefühle zeigen ist gefährlich. So lernte er früh, die eigene Sensibilität zugunsten von sicherer Einbindung und Zugehörigkeit zurückzustellen, um in seinen Peergroups akzeptiert zu werden.

In meiner längsschnittlich angelegten Dissertation untersuche ich Verletzungserfahrungen von männlichen Jugendlichen. Der Fokus richtet sich weniger auf die Ursachen von Verletzungen, sondern vielmehr darauf, wie Jungen diese Erfahrungen erzählen und erinnern. Dabei lässt sich nachzeichnen, dass sie vor allem die fehlende bzw. brüchige Zugehörigkeit als stark verletzend erleben und dabei unterschiedliche Strategien entwickeln, um Zugehörigkeit abzusichern. In diesem Beitrag wird beispielhaft ein Einblick in die Analyse eines biografischen Interviews mit einem 15-jährigen Jungen gegeben.

Verletzlichkeit von Jungen im Spiegel theoretischer Perspektiven auf Männlichkeit(en)

In gesellschaftlichen Diskursen wird die Verletzlichkeit von Jungen oft übersehen. Traditionell werden Attribute wie Stärke und emotionale Kontrolle an Männlichkeit angelegt, sodass wenig Raum für Trauer oder Schmerz bleibt. Einzig Wut und Aggression werden als männliche Gefühle anerkannt (Stuve und Debus 2012, 50). Lange Zeit wurde Männlichkeit weitgehend undifferenziert betrachtet und mit dem Bild des dominanten, machtvollen Mannes gleichgesetzt (ebd., 319). Erst das Konzept der hegemonialen Männlichkeit von Connell (1999) machte verletzliche Männer und damit Positionen von Dominanz und Unterordnung im Feld der Männlichkeit(en) sichtbar. Auch wenn die Position der hegemonialen Männlichkeit überwiegend von erwachsenen Männern besetzt wird, dient sie Jungen als Maßstab. Beim Ausprobieren und „Üben“ ihrer eigenen Männlichkeit orientieren sie sich daran und werden zudem an dieser gemessen (Stuve und Debus 2012, 52).

Bourdieu (2005) ergänzt diese Sichtweise, indem er betont, dass Männlichkeit stark durch die Anerkennung anderer Männer geprägt wird. Jungen und Männer müssen ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der „wahren Männer“ (Bourdieu 2005, 94) ständig unter Beweis stellen, sodass auch Männer als dominante Akteure den Zwängen und Mechanismen der Herrschaft unterworfen sind. Verletzlichkeit von Jungen bleibt auch im Fachdiskurs weitgehend unsichtbar – trotz bzw. gerade wegen einer Priorisierung dieser hegemonie- und habitustheoretischen Perspektiven. Untersuchungen zu Männlichkeit(en) konzentrieren sich zumeist auf Gewalt und Risikohandeln (Budde und Rieske 2022, 7), während Erfahrungen von Trauer, Einsamkeit und Verlust randständig bleiben (Winkler 2025; Scholz et al. 2024; Way 2013). Verletzungserfahrungen von Jungen eröffnen somit einen Zugang zu einer bislang wenig beachteten Facette von Männlichkeit.

Empirisches Design

Die Studie verortet sich in der praxeologischen Wissenssoziologie, die mit der dokumentarischen Methode als „praxeologische Methodologie“ (Bohnsack 2021, 207) einen Zugang zu den in der Handlungspraxis eingelassenen Wissensformen eröffnet. Im Zentrum steht die Rekonstruktion des impliziten, habitualisierten Wissens in den Erzählungen der Jungen dokumentiert. Gerade über jene Wissensformen, die den Jungen habituell verfügbar sind, lässt sich das handlungspraktische Wissen und damit der Umgang mit Verletzungserfahrungen nachzeichnen. Verletzungserfahrungen, die häufig schwer sprachlich zu fassen und nur begrenzt kommunikativ explizierbar sind, dokumentieren sich in diesen atheoretischen bzw. konjunktiven Wissensformen (Mannheim 1980).

Meine These ist, dass Verletzungen dort auftreten, wo handlungsleitende Orientierungen nicht enaktiert werden können. Die empirische Grundlage bilden biografische Interviews mit 12- bis 16-jährigen Jungen. Im Folgenden wird ein Interview mit John (15 Jahre) vorgestellt, der aufgrund chronischer Erkrankungen und sozialer Ausgrenzung vielfältige Verletzungserfahrungen gemacht hat und an Einbindung und Zugehörigkeit orientiert ist.

John – wenn Zugehörigkeit brüchig ist

John beginnt seine biografische Erzählung mit Erinnerungen aus dem Kindergarten, einem Ort, der für ihn eng mit Erfahrungen des Andersseins und des Ausschlusses verbunden ist. Schon damals, so erzählt er, sei er „meistens so der Außenseiter“ gewesen. Er beschreibt, dass sein Körper – „kräftiger als die anderen“ – der Grund dafür gewesen sei, dass er von Gleichaltrigen abgelehnt wurde. Rückblickend erinnert er sich daran, dass „mehr Wert auf Aussehen gelegt wurde als auf Charakter“, eine Beobachtung, die aufzeigt, wie stark soziale Normen von Körperlichkeiten bereits in frühen Kindheitskontexten wirken.

In seiner Erzählung dokumentiert sich, dass Körper und Zugehörigkeit eng miteinander verknüpft sind. Das Empfinden, nicht zu genügen oder ‚anders‘ zu sein, prägt Johns Selbstwahrnehmung: „Ich war immer der Außenseiter“. Das Wort immer lässt die Erfahrung zu einer dauerhaften und unveränderlichen Position werden. Auch dort, wo sich kurzzeitig Nähe anbahnt, bleibt sie fragil. Von seinem damaligen Freund Aron berichtet John zunächst, sie hätten „viel gesprochen und viel gespielt“, bis dieser sich schließlich „auf die Seite der anderen so gestellt“ habe. Mit dieser Formulierung suggeriert John eine Art ‚Frontenbildung‘, bei der die Gruppe der ‚Anderen‘ und die eigene Person als konträre Lager beschrieben werden. Die Erfahrung des Verlustes seines Freundes Aron verstärkt dabei das Gefühl der Isolation und bestätigt rückblickend die eigene Außenseiterrolle.

Emotionalität als Risiko

Die Erzählung des Feueralarms aus dem Interview mit John verdeutlicht eindrücklich, wie brüchig Zugehörigkeit erlebt werden kann und inwieweit John bereit ist, persönliche Grenzen zu verschieben, um Teil einer Gruppe zu bleiben.

„[U]nd ich weiß auch noch den ersten Feueralarm in der Sch- in der Schule also Probealarm in der Schule da ((kurzes Lachen)) […] war der einzigste gewesen der angefangen hat zu weinen […] so bin ich in Tränen ausgebrochen  […] auch so so Erinnerungen wo ich heute noch dann von meinen Freunden dann konfrontiert werde und so was wo wir heute noch drüber lachen“ (Ausschnitt Interview John)

John erinnert sich an den Probealarm als Moment intensiver Emotionalität. Rückblickend verbindet er diese Situation mit einer Art gemeinsamer Humorpraxis: Seine Freund*innen „konfrontieren“ ihn damit, sie lachen zusammen. Doch hinter diesem Lachen steckt mehr als nur eine geteilte Erinnerung. Die Szene zeigt, wie sich Machtverhältnisse auch in Freundschaften einschreiben: Wer weint, verliert an Status und hält sich durch Selbstironie und Spott in der Gruppe. So dokumentiert sich ein subtiler Aushandlungsprozess zwischen Nähe und Distanz, Akzeptanz und Selbstverleugnung. John wird nicht ausgeschlossen, wie früher im Kindergarten, doch Zugehörigkeit verlangt nun emotionale Selbstkontrolle. Sein Weinen wird zum Anlass einer ritualisierten Konfrontation und zugleich zu einem Prüfstein seiner Anpassungsfähigkeit. Um Teil (s)einer Peergroup zu bleiben, muss John seine emotionalen Anteile entwerten.

Emotionale Härte als Schutzschild?

Im weiteren Verlauf des Interviews beschreibt John einen Prozess des Verhärtens:

„[…] bin einfach jetzt he- harter geworden so härter damals war ich so weich und gebrechlich gewesen da- daher und also […] ich bin halt sehr ein emotionaler Mensch jetzt so wenn irgendwas traurig ist dann wein ich halt viel auch und damals war ich halt so Zuckerwatte ((kurzes Lachen)) und jetzt bin ich […] Stein“ und „ich jetzt einfach männlicher geworden bin damals war ich immer der Kleine gewesen“

Der Versuch, Zugehörigkeit zu sichern, geht mit einer schleichenden Verhärtung einher. John beschreibt, wie er seine „Zuckerwatte“ und damit seine Empfindsamkeit gegen etwas eintauscht, das Schutz verspricht: den „Stein“. Dieser Stein steht nicht nur für emotionale Abwehr, sondern auch für Anpassung an eine männliche Norm, in der Verletzlichkeit als Schwäche gilt. Wer dazugehören will, darf nicht zu weich sein. Die Fähigkeit zu fühlen bleibt, doch sie wird kontrolliert und in den „Stein“ eingeschlossen. Hier dokumentiert sich die Orientierung an und die Bedeutung von Zugehörigkeit und Einbindung, die es für John unbedingt zu bewahren gilt.

Verletzlichkeit im Abwehrmodus

Aus Johns Erzählungen wird nachvollziehbar, wie Jungen im Rahmen von Peer-Interaktionen gezwungen sind, ihre Emotionalität zu unterdrücken oder abzuwerten, um den Erwartungen männlicher Stärke zu entsprechen und ihre soziale Position in der Gruppe zu sichern (Stuve und Debus 2012). Sensible Anteile zu verbergen und gemeinsam über eigene Schwächen zu lachen erscheinen dabei als Strategien, um Ausschluss zu vermeiden und Zugehörigkeit abzusichern. In dieser Dynamik zeigt sich, wie tief die „Binnenrelationalität von Männlichkeit“ (ebd., 54) wirkt und sich auch intersektional überlagern kann. Anerkennung unter Jungen wird an die Fähigkeit geknüpft, verletzliche Emotionen zu kontrollieren und Härte zu zeigen. Die Stärke, die hier durch emotionale und verletzliche Distanznahme markiert wird, ist jedoch weniger Ausdruck emotionaler Abhärtung als vielmehr eine Praxis, die Schutz und Zugehörigkeit versprechen soll, die für John zentral ist.

Literatur

Bohnsack, Ralf. 2021. Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, 10. Aufl. Opladen, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Bourdieu, Pierre. 2005. Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Budde, Jürgen und Thomas Viola Rieske. 2022. Erziehungswissenschaftliche Jungenforschung – eine Einleitung. In Jungen in Bildungskontexten. Männlichkeit, Geschlecht und Pädagogik in Kindheit und Jugend, herausgegeben von Jürgen Budde und Thomas Viola Rieske, S. 53–63. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich. https://doi.org/10.3224/84742534 

Connell, Raewyn. 1999. Der gemachte Mann: Männlichkeitskonstruktionen und Krise der Männlichkeit. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19973-3 

Mannheim, Karl. 1980. Strukturen des Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Scholz, Sylka, Iris Schwarzenbacher, Kevin Leja und Nadine N. Başer. 2024. Caring Boyhood? A Qualitative Study of the Complex Relation Between Care, Adolescence, and Masculinity. Men and Masculinities 28 (1): 44–64. https://doi.org/10.1177/1097184X241256357 

Stuve, Olaf und Katharina Debus. 2012. Männlichkeitsanforderungen. Impulse kritischer Männlichkeitstheorie für eine geschlechterreflektierte Pädagogik mit Jungen. In Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen in der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung, herausgegeben von Dissens e. V., S. 44–60. Berlin: Dissens. Online verfügbar unter: https://jus.dissens.de/fileadmin/JuS/Redaktion/Dokumente/Buch/Stuve%20Debus%20-%20M%C3%A4nnlichkeitsanforderungen.pdf (letzter Zugriff: 24.10.2025).

Way Niobe. 2013. Boys’ Friendships During Adolescence: Intimacy, Desire, and Loss. Journal of Research on Adolescence 23 (2): 201–213. https://doi.org/10.1111/jora.12047 

Winkler, Anna Lena. 2025. „Und war halt ne traurige Zeit für mich weil ich halt niemanden hatte“ – Verletzungserfahrungen von Jungen in Peerbeziehungen. In Sorge und Solidarität, herausgegeben von Saskia Schuppener et al., S. 129–141. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Zitation: Anna Lena Winkler: „Damals Zuckerwatte, heute Stein“ Emotionale Abwehr als Bedingung männlicher Zugehörigkeit, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 04.11.2025, www.gender-blog.de/beitrag/damals-zuckerwatte-heute-stein/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20251104

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Anna Lena Winkler

Anna Lena Winkler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Schulforschung mit dem Schwerpunkt Jugend an der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind schulische und außerschulische Peer- und Freundschaftsbeziehungen im Jugendalter, Männlichkeit(en) sowie rekonstruktive Längsschnittforschung.

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Kommentare

Winfried Winkler | 04.11.2025

Auch wenn ich bei meiner Tochter sicher nicht unbefangen bin, ist das ein großartiger Artikel, wissenschaftlich aber dennoch gut verständlich und praxisnah. Beschreibt er doch 1 zu 1 die Erlebnisse meiner Kindheit und frühen Jugend in einem Viertel, dass man heute als sozialen Brennpunkt beschreiben würde. Dass ich darüber hinaus sehr stolz bin, muss ich nicht extra betonen.

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