Skip to main content
Headergrafik: juefraphoto/AdobeStock

Gesehen Gehört Gelesen

Decent Care Work – gute Sorge ohne gute Arbeit?

06. Juli 2021 Michaela Feichtl Katharina C. Gruber Marlene Hofer

Die durch die COVID-19-Pandemie induzierten Verwerfungen wirkten und wirken wie ein Brennglas, das vormals unsichtbare Care-Arbeit nun einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit sichtbar gemacht hat. Von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wurden Care-Arbeiter*innen besonders hart getroffen. Insbesondere Live-in-Care-Arrangements [1] fußten bereits vor der Pandemie auf der Ausbeutung weiblicher, migrantischer Arbeitskräfte, die in den kapitalistischen Zentren unterbezahlte Betreuungsarbeiten verrichten.

Care-Arbeit in globaler Perspektive

Unter dem Titel Decent Care Work? Transnational Home Care Arrangements tagten die Initiator*innen des gleichnamigen Forschungsprojekts mit namhaften Forscher*innen zu Bedeutung, Rahmenbedingungen und Herausforderungen transnationaler Live-in-Betreuung online vom 6. bis 8. April 2021. „Decent Care Work“ als Forschungsprojekt wird in Deutschland an der Goethe-Universität Frankfurt am Main von Helma Lutz, Ewa Palenga-Möllenbeck, Aranka Vanessa Benazha, Jana Dreesbach, Amanda Glanert und Iga Obrocka, in Österreich an der Johannes Kepler Universität von Brigitte Aulenbacher, Veronika Prieler und Michael Leiblfinger sowie in der Schweiz an der Universität Zürich von Karin Schwiter, Jennifer Steiner und Anahi Villalba im Zeitraum von 2017 bis 2021 durchgeführt. Auf der Abschlusskonferenz des Forschungsprojektes wurden die Ergebnisse im internationalen und interdisziplinären Kontext zur Diskussion gestellt und zahlreiche Forschungen zu transnationaler Pflege, Migration und Care-Arbeit in Verschränkungen mit sozialer Ungleichheit und vergeschlechtlichter Arbeitsteilung präsentiert. Besonders hervorzuheben ist die Gegenüberstellung der je unterschiedlichen und doch ähnlichen Situationen der Care-Arbeiter*innen in globaler Perspektive. Verschiedenste nationale und transnationale Regime wurden präsentiert und teils ähnliche Problemlagen erläutert, wobei auch Unterschiede herausgestellt und Ausblicke auf mögliche Entwicklungen gegeben wurden.

Länderübergreifend wurde festgestellt, dass der Care-Markt stark expandiert und immer mehr Menschen Care-Arbeit von meist weiblichen migrantischen Arbeitskräften nutzen. Die Vermittlung dieser Betreuer*innen wird größtenteils von privaten Agenturen organisiert, gestaltet sich jedoch in den jeweiligen nationalen Zusammenhängen sehr unterschiedlich. Die Arbeitsbedingungen sind vorwiegend auf die Bedürfnisse der zu Betreuenden ausgerichtet, während die Bedürfnisse der Care-Arbeiter*innen vernachlässigt werden.

Soziale Ungleichheit

Im Beitrag „Perspectives on Care Migration in a Divided Europe?“ wurden die Auswirkungen der transnationalen Care Chains, Machtverhältnisse und die Abhängigkeit der Care-Arbeiter*innen von privaten Agenturen beleuchtet. Die Kommodifizierung von Care entlang altersbedingter, ethnischer und geschlechtlicher Strukturmerkmale sowie die Unsichtbarkeit dieser anspruchsvollen Arbeit münden in Dilemmata rund um ökonomische Abhängigkeit, Emanzipationsversuche und die Verfestigung von Ungleichheiten. Die Konferenz legte in einer Panelreihe einen starken Fokus auf „Transnational Commodification, Marketization and Corporatization“ in der Langzeitbetreuung. Im Speziellen wurde die Kommodifizierung von Care innerhalb der betrachteten Wohlfahrtsstaaten und gleichzeitig als ein globales Phänomen behandelt. Veränderte Familienmodelle und die steigende Zunahme von Frauen am Arbeitsmarkt gehen mit der Suche nach marktvermittelten Lösungen einher, wobei in den europäischen Zentren Pflege- und Betreuungskräfte aus Niedriglohnländern rekrutiert werden.

Mangelnde Regulierung der Arrangements

Die Ergebnisse zeigten, dass durch die ungebrochene Tradition des Familialismus in vielen der betrachteten Wohlfahrtsstaatsmodelle eine Pflege in den eigenen vier Wänden bevorzugt wird. Begleitet von dem Umstand, dass der private Haushalt nicht wie andere Arbeitsplätze reguliert ist, ergibt sich ein deutlich erhöhtes Konfliktpotenzial. Nicht selten erleben Care-Arbeiter*innen Isolation, limitierte Bewegungsfreiheit und durchgehende Rufbereitschaft bis hin zu physischer und sexueller Gewalt. Auch werden Löhne einbehalten und persönliche Dokumente abgenommen. Hier wird klar, dass der Zugang zu Mobilität von verschiedenen Akteur*innen kontrolliert werden kann und dies eine Form der Unterdrückung der Care-Arbeiter*innen darstellt. Die Beiträge im Panel „The Commodification and Regularization of Migrant Care Work“ verdeutlichten, dass Regulierungen und Formalisierungen in den letzten Jahren die Situation der Care-Arbeiter*innen kaum verändert haben. In Österreich dürfen Care-Arbeiter*innen seit 2007 ihre Tätigkeit als Selbstständige zwar legal ausüben, die Arbeitszeiten und -bedingungen sind in diesem Modell jedoch nicht einer Angestelltentätigkeit vergleichbar reguliert.

COVID-19 und die Verwundbarkeit des Lebens

Die Keynote zu „COVID-19, Global Care and Migration: Towards Systemic Resilience“ zeigte den Einfluss der Pandemie auf die Vulnerabilität existierender globaler Care-Strukturen und die damit einhergehende prekäre Lage der Arbeiter*innen. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie deutlich machten, inwiefern die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion von oft unsichtbaren, fragilen globalen Care Chains abhängig ist, die auf der Ausbeutung weiblicher und feminisierter Arbeitskraft beruhen. COVID-19 berge, indem Probleme verstärkt hervortreten, das Potenzial, Veränderungen voranzutreiben. Umgekehrt legen die Erkenntnisse der Forscher*innen aber eine Verschlechterung der Arbeits- und Lebensrealitäten von migrantischen Care-Arbeiter*innen durch die Pandemie offen. So wurde in der Keynote „Migrant in-Home Care Workers in the Age of COVID-19: Vulnerabilities, Coalitions, Opportunities“ auf die bereits vor der COVID-19-Pandemie bestehende und durch diese verstärkte Ausgrenzung, eingeschränkte Mobilität und Isolation der migrantischen Care-Arbeiter*innen in Israel hingewiesen. Durch die Einführung von globalen Standards sowohl in Empfänger- als auch in Entsendeländern und durch Investitionen in lokale Betreuungskapazitäten könnte die Abhängigkeit vom Weltmarkt verringert werden. Wie sich das Betreuungsarrangement tatsächlich gestaltet, ist ein Aushandlungsprozess der Akteur*innen im Dreieck von Agenturen, Care-Arbeiter*innen sowie Angehörigen und zu Betreuenden. Die Verhandlungsmacht der Agenturen ist dabei ungleich größer als jene der Familien und Care-Arbeiter*innen. Die Kontingenz und Vulnerabilität des Lebens wird somit der Marktlogik unterworfen.

Widerstand und Wandel

Im Panel zu „Quo Vadis Live-in Care Work? Policy Challenges for the Future“ diskutierten Vertreter*innen von NGOs und Arbeitnehmer*innenorganisationen die Organisierung der Arbeiter*innen und erläuterten ihre Perspektiven im Arbeits- und Konsument*innenschutz. Konsens bestand in der Frage der Bedeutung rechtlicher Regulierungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Care-Sektor. Im Panel zu „Regularization of Transnational Care Work“ wurden positive Beispiele einer Zusammenarbeit von Agenturen, Gewerkschaften und Organisationen von Arbeiter*innen genannt. Durch politisches Lobbying und die Einbeziehung anderer Akteur*innen, wie Familien und Care-Arbeiter*innen, versuchen diese, die Arbeitsbedingungen insgesamt zu verbessern. Im Rahmen der Keynote zu „Domestic Workers’ Organizing: Intersectionality in Action“ wurden die Möglichkeiten kollektiver Organisation von Care-Arbeiter*innen betrachtet, die vielfach als strukturell „unorganisierbar“ wahrgenommen werden. Abschließend wurde dafür plädiert, Arbeitsschutzrechte auf den privaten Haushalt zu erweitern. Einheitliche transnationale Regulierungen sind ebenso notwendig wie die Anerkennung von Care-Arbeit aus arbeitsrechtlicher und gesellschaftlicher Perspektive.

Gute Sorge für alle

Die Ergebnisse veranschaulichen, dass über die länderspezifischen Care-Regime hinweg Ähnlichkeiten in den Strukturen transnationaler Care-Arrangements bestehen. Care-Arbeit wird bislang der Verantwortung von Frauen überlassen und entlang ethnischer, rassistischer und altersbedingter Ungleichheitsstrukturen naturalisiert. Das vergleichsweise neue Phänomen der Agenturvermittlung reiht sich hier ein. Der Konferenz ist es in höchstem Maße gelungen, globale Befunde zu den Entwicklungen von Care und Care-Arbeit zusammenzutragen. Erkenntnisse und Forschungsergebnisse zu Migration, Arbeit und Care wurden präsentiert und im Konnex von ökonomischen, politischen und sozialen Regulationen betrachtet, um Sorge und Arbeit in dynamischen Kontexten neu zu denken. Die Entwicklungen und Verschärfungen durch die COVID-19-Pandemie zeigen nicht nur Handlungsbedarf, sondern auch mögliche Wendepunkte auf. Es wird deutlich, dass gute Sorge auf lange Sicht nicht ohne gute Arbeitsbedingungen etabliert werden kann.

[1] Sogenannte Live-in-Betreuer*innen wohnen direkt in den Privathaushalten der zu Betreuenden.

Zitation: Michaela Feichtl, Katharina C. Gruber, Marlene Hofer: Decent Care Work – gute Sorge ohne gute Arbeit?, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 06.07.2021, www.gender-blog.de/beitrag/decent-care-work/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210706

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: juefraphoto/AdobeStock

Michaela Feichtl

Michaela Feichtl studiert Soziologie im Master an der Johannes Kepler Universität in Linz.

Zeige alle Beiträge

Katharina C. Gruber

Katharina C. Gruber studierte Soziologie im Bachelor an der Johannes Kepler Universität in Linz und setzte ihren Master dort fort. Derzeit schreibt sie an ihrer Masterarbeit. Sie beschäftigt sich vorwiegend mit feministischer Kapitalismuskritik, hegemonialen Anrufungen und Gouvernementalität.

Zeige alle Beiträge

Marlene Hofer

Marlene Hofer studiert Soziologie im Master an der Johannes Kepler Universität Linz.

Zeige alle Beiträge

Kommentare

Friederike Müller-Friemauth | 02.08.2021

Bravo, gefällt mir. #Corona wird unter der anthropologischen Perspektive von Bindung und Beziehung kaum ausgewertet. Warum nicht? Eigentlich sollte es dafür keine Feministen brauchen, aber es läuft vermutl. darauf hinaus

Schreibe einen Kommentar (max. 2000 Zeichen)

Es sind max. 2000 Zeichen erlaubt.
Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.
Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Kommentare werden von der Redaktion geprüft und freigegeben.