14. Januar 2025 Daniela Paredes Grijalva Dominique Bauer
Trotz der zunehmenden Berücksichtigung dekolonialer und intersektionaler Ansätze in der Wissenschaft bleiben tief verankerte Ausschlussstrukturen bestehen und reproduzieren koloniale Machtverhältnisse. Zum 15-jährigen Jubiläum der Zeitschrift GENDER haben wir daher konkrete Schritte vorgeschlagen für eine dekoloniale Wissenschaftspraxis – eine Praxis, die Hierarchien konsequent hinterfragt und marginalisierte Perspektiven aktiv einbindet. Viele Disziplinen beziehen mittlerweile intersektionale Perspektiven ein und immer mehr Forschende arbeiten mit dekolonialen Ansätzen. Doch ein bloßes Adressieren der Problematik ohne konkrete Maßnahmen reproduziert dieselben Ausschlussstrukturen und -mechanismen. Diese zeigen sich in Lehrinhalten, die dominante Perspektiven fortschreiben, und in Strukturen, die Machtverhältnisse festigen und intersektionale Unsichtbarkeiten verstärken. Eine dekoloniale Praxis muss diese Verhältnisse grundlegend überdenken und marginalisierte Perspektiven sowie Wissenssysteme gezielt integrieren.
Dekolonisierung praktisch gestalten: Mehr als Symbolik
Dekolonialer Feminismus und intersektionale Theorie (Biele Mefebue/Bührmann/Grenz 2022) bieten entscheidende Werkzeuge, um akademische Normen neu zu denken, wie die Arbeiten von María Lugones, Kimberlé Crenshaw, Yuderkys Espinosa Miñoso, Serene Khader und anderen zeigen. Die Herausforderung liegt darin, diese Werkzeuge von der Theorie in die Praxis zu übertragen. Dekoloniale Praxis muss sich in echten Handlungsverpflichtungen zeigen, die tiefgreifende Veränderungen im Wissenschaftsbetrieb bewirken. Dafür braucht es einen institutionellen Rahmen, der kontinuierliche Reflexion und Dialog ermöglicht. Die Implementierung gemeinschaftsorientierter Mentoring-Programme, die nicht nur die Karrieren von Nachwuchsforschenden unterstützen, sondern auch als Plattformen für kritischen Austausch über kollektive Privilegien und strukturelle Ungleichheiten sowie für gemeinsames Handeln dienen, wäre ein Beispiel. Solche Programme können institutionelle Veränderungen vorantreiben, indem sie Reflexion und kritischen Austausch fest verankern und so Teil eines gemeinschaftlichen Lernprozesses werden. Die Vorstellung eines „Wir“ in der Forschung, wie es etwa im Ubuntu-Prinzip (Ngubane/Manyane 2021) verankert ist, oder eines „kollektiven Wohlseins“ bzw. Buen Vivir/Sumak Kawsay (Pazmay Pazmay 2017), bildet einen Rahmen, der wissenschaftliche Praxis als gemeinschaftliches, verantwortungsvolles Handeln versteht.
Dekolonisierung im Alltag: Reflexion der eigenen Praxis
Gerade weil es schwierig ist, Veränderungen innerhalb traditioneller Institutionen wie Universitäten herbeizuführen, haben einige Wissenschafter:innen alternative Räume wie das Global (De)Centre geschaffen, um Hierarchien abzubauen und gezielt Stimmen und Perspektiven außerhalb der etablierten Zentren einzubeziehen. Neben institutionellen Veränderungen ist die Reflexion individueller Praxis entscheidend. Die Anchor Methode (Paredes Grijalva/Bauer 2024) bietet einen Ansatzpunkt, um Reflexion und kritische Auseinandersetzung mit strukturellen Ungleichheiten zu verankern. Sie schafft Raum für die wiederkehrende Hinterfragung eigener Annahmen und institutioneller Praktiken und hilft, intersektionale Unsichtbarkeiten sichtbar zu machen.
Forschende können beispielsweise durch partizipative Ansätze sicherstellen, dass marginalisierte Perspektiven nicht bloß als Referenz dienen, sondern substanziell in den Forschungsprozess integriert werden. Rückkopplungsschleifen mit Communities, die im Fokus der Forschung stehen, fördern eine dialogische Struktur der Wissensproduktion, in der sich Forschende und Communities gegenseitig beeinflussen. Ebenso können „kontextuelle Interventionen“ (Stein/Ahenakew/Cash/Elwood/Andreotti/Valley/Amsler/Calhoun & the Gesturing Towards Decolonial Futures Collective 2021) im akademischen Alltag festgefahrene Gewohnheiten hinterfragen. Dies könnte bedeuten, kritisch zu reflektieren, wie Themen, Methodik und Literaturlisten gestaltet werden, wessen Stimmen priorisiert werden und wie die eigene Rolle in der Wissensproduktion verortet ist. Solche Reflexionsprozesse tragen zu einem ethischen Forschungsumfeld bei, das sich an den Bedürfnissen vielfältiger Gemeinschaften orientiert und nicht nur das „Produkt“ wissenschaftlicher Arbeit, sondern auch den Entstehungsprozess von Wissen reflektiert.
Struktureller Wandel für eine nachhaltige Dekolonisierung
Eine nachhaltige Transformation erfordert strukturelle Rahmenbedingungen, die über symbolische Maßnahmen hinausgehen und konkrete Veränderungen bewirken. Eine transparente Ressourcenzuweisung könnte beispielsweise gezielt Projekte und Forschende fördern, die marginalisierte Perspektiven aktiv einbinden und deren Erkenntnisse auch in öffentliche und communitynahe Kontexte übertragen. Fördermittel für partizipative Projekte, die in direkter Zusammenarbeit mit betroffenen Gemeinschaften entstehen, wären ein konkreter Ansatz. Strukturen für regelmäßiges Feedback zwischen Hochschulverwaltung, Lehrenden und Studierenden können sicherstellen, dass dekoloniale Maßnahmen nicht als punktuelle Projekte, sondern als fortlaufende Prozesse gestaltet werden.
Solche Mechanismen, ergänzt durch Community-Rückkopplungen, binden Vertreter:innen der betroffenen Gruppen aktiv in die Evaluation von Forschungs- und Lehrstrategien ein. So werden dekoloniale Maßnahmen zu dynamischen, stetig angepassten Prozessen, die auf die Bedürfnisse der Communities eingehen. Die Auseinandersetzung mit intersektionalen Unsichtbarkeiten zeigt, dass das Bewusstsein für dekoloniale Herausforderungen in der Wissenschaft zunimmt. Doch nachhaltige Veränderungen erfordern kontinuierliche Reflexion und konsequentes Handeln. Indem Unsichtbarkeiten konsequent thematisiert und Schritte zu echter Gleichbehandlung und Anti-Rassismus gegangen werden, kann die Wissenschaft ein Raum des Wandels werden, der nicht nur über Dekolonisierung spricht, sondern sie aktiv mitgestaltet. Weitere Überlegungen und praxisnahe Beispiele zur Umsetzung finden sich in unserem vollständigen Artikel (Paredes Grijalva/Bauer 2024).
Literatur
Bath, Corinna; Conrads, Judith; Nieberle, Sigrid & Poole, Ralph (Hg.) (2024). 15 Jahre GENDER – eine Standorterkundung. GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 16(3). Leverkusen: Barbara Budrich. https://doi.org/10.3224/gender.v16i1
Biele Mefebue, Astrid; Bührmann, Andrea D. & Grenz, Sabine (Hg.) (2022). Handbuch Intersektionalitätsforschung. Wiesbaden: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26292-1
Crenshaw, Kimberlé (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. University of Chicago Legal Forum, 1(8), 139–167. Zugriff am 22. November 2024 unter https://chicagounbound.uchicago.edu/uclf/vol1989/iss1/8.
Espinosa Miñoso, Yuderkys (2017). ¿De Por Qué es Necesario un Feminismo Descolonial? Diferenciación, Dominación Co-Constitutiva y Fin de la Política de Identidad. Revista Solar Dossier Epistemologías Feministas Latinoamericanas, 12(1), 141–171. Zugriff am 22. November 2024 unter https://om.juscatamarca.gob.ar/articulos/De_por_que_es_necesario_un_feminismo_des.pdf.
Khader, Serene J. (2019). Decolonizing Universalism: A Transnational Feminist Ethic. Oxford: Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oso/9780190664190.001.0001
Lugones, María (2008). Colonialidad y Género. Tabula Rasa, 9, 73–101. https://doi.org/10.25058/20112742.340
Ngubane, Nomlaungelo & Makua, Manyane (2021). Ubuntu Pedagogy – Transforming Educational Practices in South Africa through an African Philosophy: From Theory to Practice. Inkanyiso, 13(1), 9–21. https://doi.org/10.4102/ink.v13i1.9
Paredes Grijalva, Daniela & Bauer, Dominique (2024). When good intentions aren’t enough: Intersectional invisibilities in academia and the decolonial turn. GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 16(3), 217–230. https://doi.org/10.3224/gender.v16i3.15
Pazmay Pazmay, Pablo David (2017). Sumak Kawsay – El Buen Vivir y el Desarrollo Holístico en la Educación. II Congreso: Ciencia, Sociedad e Investigación Universitaria. Repositorio PUCE. Zugriff am 13. Juni 2024 unter https://repositorio.puce.edu.ec/items/01a25552-7535-4d29-9fff-ff09b046cb70.
Stein, Sharon; Ahenakew, Cash; Jimmy, Elwood; Andreotti, Vanessa; Valley, Will; Amsler, Sarah; Calhoun, Bill & the Gesturing Towards Decolonial Futures Collective (2021). Developing Stamina for Decolonizing Higher Education: A Workbook for Non-Indigenous People. Zugriff am 4. November 2024 unter https://decolonialfutures.net/wp-content/uploads/2021/03/decolonizing-he-workbook-draft-march2021-2.pdf.
Zitation: Daniela Paredes Grijalva, Dominique Bauer: Für eine dekoloniale Wende in der Wissenschaft, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 14.01.2025, www.gender-blog.de/beitrag/dekoloniale-wende-wissenschaft/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250114
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