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Forschung

Denken jenseits der binären Logik

27. Mai 2025 Nora Kassan

Im sozialen Bereich ist die binäre Ordnung Grundlage für Normalitätsvorstellungen, Exklusion und Abwertung. Besonders relevant ist dies für Menschen, die sich nicht in den Differenzkategorien der binären Logik wiederfinden und infolge dessen Abwertung oder Diskriminierung erfahren. Typisch hierfür ist das Muster des Double-Bind, das durch die Zuspitzung einer Entweder-Oder-Logik in besonderer Weise die Handlungsfähigkeit von Betroffenen bedroht. Hier stellt sich die Frage, inwiefern nicht-binäres Denken zur Befreiung beitragen kann. Verschiedene Alternativen wie die Theorien von Simone de Beauvoir, Else Frenkel-Brunswik und Mai-Anh Boger zeigen die horizonterweiternde Wirkung, die darin liegt, Mehrdeutigkeit für ein Denken jenseits der binären Ordnung zuzulassen. Ein häufig diskutierter Vorschlag ist auch der Ansatz der kulturellen und ästhetischen Bildung.

Sowohl als auch

Simone de Beauvoir zeigt eine Alternative zur klassischen binären Logik des ‚Entweder – Oder‘ auf, indem sie das menschliche Wesen als ambivalent und selbstwidersprüchlich und die menschliche Existenz als dilemmatisch beschreibt. In ihrem Essay Für eine Moral der Doppelsinnigkeit beschreibt sie den Existentialismus als eine „Philosophie der Ambivalenz“ und das Scheitern als Merkmal, das „dem Menschsein zu eigen“ ist (De Beauvoir 1964, 89). Denn Bewusstsein für sich bedeutet, eine Distanz zu sich zu haben, die nicht überwunden werden kann. Diese Ambivalenz anzunehmen, wird als humanistische Aufgabe entworfen:

„Wenn der Mensch zu seinem eigentlichen Wesen finden will, darf er nicht versuchen, die Ambivalenz seines Seins aufzuheben, sondern muß im Gegenteil bereit sein, sie zu verwirklichen: er findet nur zu sich, wenn er bereit ist, sich gegenüber Abstand zu halten“ (De Beauvoir 1964, 92).

Abstand gegenüber sich selbst zu halten, bedeutet unter anderem, jede Vorstellung von etwas Absolutem abzulehnen und anzuerkennen, dass das Leben nur die Bedeutung hat, die wir selbst ihm geben, so De Beauvoir (1964, 93). Auf diese Weise entsteht eine Haltung, in der Freiheit und Verantwortung selbst gewollt werden: als eine „stets auf Befreiung hin gerichtete Bewegung“ (De Beauvoir 1964, 108).

Weder noch

Else Frenkel-Brunswik entdeckt im Rahmen der Studien zum autoritären Charakter die Idee der „Ambiguitätstoleranz“ (Frenkel-Brunswik 1949). Darunter versteht sie die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit, Ambivalenz, Ambiguität und somit auch Ungewissheit zulassen, wahrnehmen und tolerieren zu können. Je schwächer diese Ungewissheits- und Mehrdeutigkeitstoleranz ausgeprägt ist, desto stärker neigen wir ihren Studien zufolge zu autoritären Denkstrukturen, wie sie in Generalisierungen, Vorurteilen, Stereotypen und verschiedenen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zum Ausdruck kommen. Frenkel-Brunswik führt diese Schwierigkeiten auf die Furcht vor Unsicherheit, Ungewissheit und der eigenen Schwäche zurück, die sich in klassischen Abwehrmechanismen zeigen. Solche sind zum Beispiel das Streben nach Macht, die Demonstration von Stärke, die Projektion eigener Schwäche auf andere, die Ablehnung anderer als „schwach“ angesehener Menschen, destruktives, beispielsweise aggressives oder zynisches Verhalten, Untertänigkeit oder Scheu vor Selbstkritik und Veränderungen (vgl. Frenkel-Brunswik et al. 1969, 20–31).

Was nicht eindeutig festgelegt ist und nicht dem starren System entspricht, wird aus Angst angepasst oder ausgeschlossen. Eine moralisierende, polarisierende, reduktionistische oder autoritäre Haltung tritt gleichzeitig mit der Schwierigkeit auf, Abweichungen von binären Kategorien zu tolerieren. Die Konsequenz ist eine „Vereindeutigung der Welt“ und ein „Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ (Bauer 2023, 3).

Trilemmatische Inklusion

Während die Analyse des autoritären Charakters von Frenkel-Brunswik mit Blick auf die sozialen Herausforderungen moderner Gesellschaften wegweisend war, kann die Theorie trilemmatischer Inklusion von Mai-Anh Boger (2019a,b,c) als aktuelles Pendant in pädagogischem Kontext gelten. Boger kartografiert das Feld der Inklusion. Sie bietet einen Überblick über die verschiedenen Themen, Dynamiken und deren widersprüchliche Logik, die sich hauptsächlich zwischen drei als wesentlich identifizierten Strategien abspielt: Empowerment, Dekonstruktion und Normalisierung. Typisch für Inklusionsansätze sei die Kombination zweier Strategien im Widerspruch zur dritten. Demnach kann Inklusion aus strukturlogischen Gründen nicht eindeutig und auch nicht widerspruchsfrei sein. Auch vor diesem Hintergrund wird die Fähigkeit, Uneindeutigkeit auszuhalten, gefordert:

„Es gilt, die Ambivalenztoleranz in den Stand einer pädagogischen Kardinaltugend zu erheben“ (Boger 2020, 306).

Dies bedeutet unter anderem, miteinander unvereinbare Strategien, Überzeugungen und Aspekte zu tolerieren, statt die Spannung zugunsten einer Strategie, eines Wesenszuges oder einer Erfahrung auflösen zu wollen.

Double-Bind

Eine besondere Erscheinungsform der Entweder-Oder-Logik in sozialen Kontexten ist ‚Double-Bind‘ als Muster der Kommunikation und Interaktion, das im Deutschen auch als ‚Beziehungsfalle‘ übersetzt wird. Hierbei werden Forderungen auf verschiedenen Ebenen so miteinander verschränkt, dass sie sich gegenseitig ausschließen (vgl. Bateson et al. 1969). Ein Beispiel ist die doppelte Forderung „Tu, was du willst, aber enttäusche mich nicht!“, die auf einer Metaebene von dem Verbot begleitet wird, sie zu hinterfragen. Insgesamt handelt es sich also um eine dreifache Forderung mit jeweiliger Strafandrohung, die prinzipiell keine Erfüllung und kein Entkommen zulässt. Aus familientherapeutischer Perspektive können ständige Double-Bind-Situationen auch Schizophrenie auslösen.

Double-Binds sind aber nicht nur im familiären, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext von Bedeutung. Denn Diskriminierung zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass Menschen mit widersprüchlichen Forderungen konfrontiert werden, die sie nicht erfüllen können und trotzdem handeln müssen (vgl. Castro Varela/Haghighat 2023). Ein typisches Beispiel ist das Oxymoron „integrierter Ausländer“, das die widersprüchliche Forderung von Identifikation und Abgrenzung gegenüber migrantisch gelesenen Menschen zusammenfasst. Solche Beispiele verweisen auf die Widersprüche, die entstehen, wenn Mehrdeutigkeit durch die binäre Logik ausgeschlossen wird. Sie vermitteln nur einen winzigen Eindruck alltäglicher Diskriminierungspraxis, die über Double-Bind-Forderungen wirken. Adressat:innen solcher Forderungen droht nicht die Exklusion, sondern – aufgrund der widersprüchlichen Verschränkung einer mehrfachen Entweder-Oder-Logik im Double-Bind – die Unmöglichkeit zu entkommen.

„Ein tertiäres negatives Gebot, das dem Opfer untersagt, das Feld zu räumen“ (Bateson et al. 1969, 17).

Damit werden Adressat:innen in der Handlungsunfähigkeit einer drohenden Exklusion und Bestrafung gefangen gehalten, die zudem auf einem Widerspruch beruht, der nicht aufgedeckt werden darf. Daher ist es eine Falle, die massiv desorientierend wirkt und Ohnmacht auslöst.

Auswege, wo es keine gibt

Queer-feministische und postkoloniale Perspektiven haben die Double-Bind-Hypothese auf den gesellschaftlichen Kontext übertragen. Sie sehen kulturelle und ästhetische Bildung als Möglichkeit, sich Spiel- und Freiräume zu verschaffen. Ihnen zufolge gilt es aber zu differenzieren, da sich auch die kulturelle Bildung in komplexen Verstrickungen bewegt (vgl. Castro Varela/Haghighat 2023, 17). Positiv hervorgehoben wird das Ziel, Kunst und Kultur für alle zu öffnen und dadurch gesellschaftliche Ungleichverhältnisse zu ändern. Auch die Förderung von Ambiguitätstoleranz und die Einsicht in Mechanismen sozialer Konstruktion werden als Chance angesehen. Doch auch die kulturelle Bildung sei nicht davor gefeit, „Differenzordnungen zu perpetuieren und einer (Re-)Produktion von sozialen Ungleichverhältnissen in die Hände zu spielen“ (vgl. Castro Varela/Haghighat 2023, 16f.). Also ist auch sie in Widersprüche verwickelt.

Nach der Einschätzung von Gayatri Chakravorty Spivak (2012) gibt es daher wenig Grund zur Hoffnung auf einen echten Ausweg. Allerdings biete die spielerische Aneignung von Double-Binds einen Ansatz, um in diesen unauflösbar widersprüchlichen Situationen trotz der Ausweglosigkeit handlungsfähig zu bleiben. Im Fokus der kulturellen und ästhetischen Bildung sollte daher die Förderung des Spieltriebs stehen:

„It [the Spieltrieb] protects the subject from double bind as schizophrenia“ (Spivak 2012, 27).

Eine spielerische Aneignung lässt sich auf verschiedene Weise umsetzen, z. B. mithilfe von Theatermethoden, die dem Prinzip folgen: „Spielen, was ist, verändert die Welt“ (Gipser 2020, 77). Inwiefern kulturelle und ästhetische Bildung zu dieser Veränderung beitragen können, scheint neben den strukturellen Bedingungen der Förderlogik, die Differenz- und Machtordnungen reproduzieren, auch wesentlich davon abhängig zu sein, wie sehr es gelingt, die eigenen Verstrickungen in das Spiel mit einzubringen.

Literatur

Bateson, Gregory/Jackson, Don D./Halex, Jay/Weakland, John H. 1969: „Auf dem Weg zu einer Schizophrenie-Theorie“, in: Bateson et al. (Hg.): Schizophrenie und Familie. Frankfurt a. M., 11-44.

Bauer, Thomas 2023: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. 18. Aufl. Stuttgart.

Boger, Mai-Anh 2020: „Warum Empowerment schmerzt“, in: Birgit Jagusch/Yasmine Chehata (Hg.): Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen. Weinheim Basel, 304-313.

Boger, Mai-Anh 2019a: Theorien der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdenken. Münster.

Boger, Mai-Anh 2019b: Politiken der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdiskutieren. Münster.

Boger, Mai-Anh 2019c: Subjekte der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitfühlen. Münster.

Castro Varela, María do Mar/Haghighat, Leila (Hg.) 2023: Double Bind postkolonial. Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung. Bielefeld.

De Beauvoir, Simone 1964: „Für eine Moral der Doppelsinnigkeit“, in: Dies.: Soll man de Sade verbrennen. Drei Essays zur Moral des Existentialismus. München, 85-216.

Frenkel-Brunswik, Else/Ackermann, Nathan W./Adorno, Theodor W./Bettelheim, Bruno/Jahoda, Marie/Janowitz, Morris/Levinson, Daniel J./Sanford, R. Nevitt 1969 [1950]: Der autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil. Bd. 2. Übersetzt und herausgegeben vom Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main. Amsterdam.

Frenkel-Brunswik, Else 1949: „Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable“, in: Journal of Personality 18, 108-143. https://doi.org/10.1111/j.1467-6494.1949.tb01236.x

Gipser, Dietlinde 2020: „Spielen, was ist, verändert die Welt – Die Theatermethoden von Augusto Boal als Praxis des dialogischen Forschens und Handelns“, in: Widersprüche 40/1, 77-85. Online verfügbar unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-84947-0 (letzter Zugriff: 16.04.2025).

Spivak, Gayatri Chakravorty 2012: An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge, London. https://doi.org/10.2307/j.ctv1n1bsfh

Zitation: Nora Kassan: Denken jenseits der binären Logik, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 27.05.2025, www.gender-blog.de/beitrag/denken-jenseits-der-binaeren-logik/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250527

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Dr. Nora Kassan

Nora Kassan arbeitet freiberuflich an der Schnittstelle von systemischer Beratung, Philosophie und Zirkuspädagogik.

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