30. Juli 2024 Christiane Schnell
Die Modeindustrie ist eine der größten Industrien der Welt mit einem geschätzten jährlichen Umsatz von fast zwei Billionen US-Dollar. Ihre expansive Entwicklung geht auch darauf zurück, dass Kleidung gleichermaßen ein elementares Bedürfnis wie eine kulturelle Ausdrucksform darstellt, die unmittelbar und alltäglich praktiziert wird. Dies macht sie zugleich und insbesondere aus einer Genderperspektive zu einem vielschichtigen Gegenstand.
Glamouröser Auftritt – desaströse Produktion
Während Lady Gaga in Ihrem song „Fashion!“ nicht müde wurde zu wiederholen: „Looking good and feeling fine – I feel on the top of the world in my fashion”, ließ der Dresscode der diesjährigen MET Gala in New York, bei der das Who ist Who des Modedesigns zusammenkam, aufhorchen: Mit dem Thema „Garden of Time“ wurde (ob wissentlich oder nicht) erstaunliche Weitsicht bewiesen, insofern vieles darauf hindeutet, dass die Modeindustrie in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit längst ihren Peak überschritten hat (Rosalind 2024; Robinson 2024). Auch wenn die meisten Promis, die hier über den Roten Teppich flanierten, sich stumpf mit Blumendekor schmückten, stand doch die Kurzgeschichte von J. G. Ballard aus dem Jahr 1962 für das Motto Pate (ModernGurlz 2024). Dort ist es der unbeschwerte Reichtum, symbolisiert durch einen wunderschönen Schlossgarten, der noch einen Moment von den aristokratischen Besitzern genossen werden kann, während der Aufruhr bereits naht.
Die Dokumentation The True Cost – Der Preis der Mode (Morgan, USA 2015) zeigt beispielhaft aber eindrücklich die harten Realitäten hinter der glamourösen Modeindustrie, die zu den Spitzenreitern der Produktion von Plastikmüll, Emissionen und Wasserverbrauch gehört und ihre Profite insbesondere den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten im globalen Süden verdankt. In Zeiten von Ultra Fast Fashion haben die Verwerfungen der Textil- und Modeindustrie eine historisch neue Dimension erreicht. Die Kombination aus glamourösem Auftritt und desaströser Produktion begleitet sie jedoch von jeher. Gleiches gilt für den Umstand, dass es sich um eine Industrie handelt, die in ihrer widersprüchlichen und teilweise paradoxen Gleichzeitigkeit von Überfluss und Mangel über die gesamte Produktionskette hinweg „gegendered“ ist.
Unsichtbarer Hunger
Die Selbstinszenierung der Modeindustrie im globalen Norden basiert auf der glamourösen Verbindung von Luxus, Schönheit und Kreativität. Dabei liegt ihr allerdings auch eine zutiefst patriarchale Logik zugrunde, die lange auf der Arbeitsteilung zwischen Designer und Model, männlichem Schöpfer und weiblichem Körper bestand. Um die modischen Kunstwerke angemessen zu präsentieren und den Fall der Kleidung nicht durch körperliche Eigenheiten zu stören, war es von jeher die Aufgabe des Models, den eigenen Körper auf die in der Regel mageren Norm-Maße der Industrie zuzurichten. Denn grundsätzlich ist es der Beruf des Fashionmodels, dem Design zu dienen, es in aller Eleganz und Schönheit zu präsentieren und sei es um den Preis gesundheitsgefährdender Essstörungen (Mears 2008).
Auf der Produzent*innenseite war die Textilweberei und -spinnerei seit Beginn der Neuzeit eine zentrale nichtlandwirtschaftliche Einkommensquelle der wachsenden landarmen und weitgehend schutzlosen Landbevölkerung (Hippel 1995). Sie wurde als vorrangig hausindustrielle Heimarbeit von jeher vorwiegend von Frauen und Kindern verrichtet (Silver 2005). Vergleichbare Ausbeutungsstrukturen, die auf relativ einfachen Produktionsmitteln basieren und mit massiven Abhängigkeiten von den Abnehmern verbunden sind, zeichnet die Textilindustrie bis heute aus (English 2013). Gelang es die Arbeitsverhältnisse zu verbessern, Löhne zu regulieren oder Umweltschutzvorgaben durchzusetzen, wanderte die Produktion in sogenannte Billiglohnländer des globalen Südens ab.
Ausbeuterische Arbeits- und Existenzbedingungen
Auch vor diesem Hintergrund hat sich in der jetzigen Textil- und Fashionbranche eine neue Form von prekärer internationaler Arbeitsteilung entwickelt, die in all ihren unterschiedlichen Segmenten wesentlich Frauen betrifft und von Frauen verrichtet wird: Am Beginn dieser weltweiten Wertschöpfungskette stehen Textilarbeiter*innen in den Ländern des globalen Südens (Faridul Hasan et al. 2016). Die Kleidung, die sie in den Fabriken in Südost-Asien im Akkord nähen müssen, landet im Norden oftmals sogar ungetragen im Abfall und lässt an anderen Orten des Globus, wie in Ghana oder der chilenischen Atacama Wüste, gigantische Müllhalden aufwachsen.
Für die Produzent*innen übersteigt indes bereits ein einziges der von ihnen genähten Kleidungsstücke den gesamten Monatslohn, der kaum reicht, um sie oder gar ihre Kinder zu ernähren. Allein in Bangladesch, dem derzeit zweitgrößten Textilexporteur, arbeiten mehr als vier Millionen Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie, davon sind 3,2 Mio. Frauen (Anwary 2017). Wenn nicht eine Tragödie wie der Einsturz der Textilfabrik in Rana Plaza mit 1135 Toten im Jahr 2013 für einen Moment in den Blick der medialen Öffentlichkeit gerät, bleiben ihre prekären Arbeits- und Existenzbedingungen unsichtbar (Gibbs et al. 2019).
Mikrotrends und das kurze Versprechen der Demokratisierung
Mit der industriellen Massenproduktion der Mode, insbesondere mit dem Geschäftsmodell der Fast Fashion die seit den 1990er-Jahren den Weltmarkt erobert hat, wurden die kulturellen Codes der Klassengesellschaft zumindest scheinbar relativiert. Mode avancierte in den westlichen Industriegesellschaften zu einem erschwinglichen Konsumgut, dessen Markierungswirkung sich tendenziell von gesellschaftlichen Konventionen zu individuellen Ausdrucksformen bewegte. Damit verkörpert Mode beispielhaft das neoliberale Wohlstandsversprechen, das nicht nur Produkte im Überfluss, sondern auch die Überwindung von Ungleichheit über die vermeintliche Wahlfreiheit konsumierbarer Identitäten enthält (Shephard et al. 2015).
Ihren Erfolg verdankt die Modeindustrie nicht zuletzt der Tatsache, dass über Kleidung ganz unmittelbar das individuelle Auftreten und die Bezugnahme auf die symbolische Ordnung gestaltbar wird. Konventionen zu Gender, Körper oder Alter werden dabei zwar ständig reproduziert, aber allein die schiere Verfügbarkeit von Kleidung auf einem globalen Markt hat neue Spielräume geschaffen (Akdemir 2018). Es ist leichter geworden, mit Ästhetik und Ausdruck zu spielen und Festlegungen scheinen weitgehend unnötig, insofern die Schwelle, die Konsumentscheidung in einer auf Billigproduktion aufbauenden Industrie zu überschreiben, immer weiter zu sinken scheint.
Verselbstständigung des exponentiellen Wachstums
Unternehmen wie Bohoo oder der chinesische Konzernen Shein haben nun aber eine kaum mehr vorstellbare Beschleunigung des Verwertungszyklus angeschoben, die als Ultra Fast Fashion beschrieben wird. Sie basiert fast ausschließlich auf Onlinehandel und bedient sich konsequent der sozialen Medien und künstlicher Intelligenz, um Trends zu erkennen und selber zu setzen. Waren es Influencer*innen, die mit Formaten wie Fashion Hauls maßlosen Konsum zelebrierten und deren eigene Vermarktung daran hängt, im Rat Race um Aktualität und neuste Trends mitzuhalten, so wurde auch hier die Umdrehungsgeschwindigkeit in den letzten Jahren noch einmal gesteigert (Dewi et al. 2022; Park 2016).
Arbeiten Plattformen wie Youtube und Instagram, die Wiege der Influencer-Kultur, noch mit Follower-Bindung, parasozialen Beziehungen und der Entwicklung einer vertrauenswürdigen Persona, so sind die Algorithmen der Short-Form-Content-Plattform Tiktok noch viel stärker auf virale Mikrotrends ausgerichtet. Dass hier absichtsvoll Impuls-Shopping provoziert wird, beweist die äußerst erfolgreiche Kauffunktion, die neuerdings auf der Plattform verfügbar ist (Djavarova/Bowas 2020). Der ständige Wechsel von Trends, der sich in dem ästhetischen Gebot überschlägt, kein Kleidungsstück mehr als einen Tag tragen und präsentieren zu können, droht in einen Zustand rasender Selbstentleerung überzuspringen.
Roll Back im Zeichen des Überkonsums
Wer danach sucht, findet auf Social Media auch Beiträge, welche die inhärenten Widersprüche der Mode und ihrer Produktion und Vermarktung offenlegen. Immer öfter wird die unsichtbare Arbeit der Content Creator*innen sichtbar gemacht, die Massen von Kleidung und Konsumprodukten gezeigt oder der psychische Druck artikuliert, der mit dieser vermeintlich glamourösen Heimarbeit verbunden ist. Models, die längst eine nennenswerte Follower*innenschaft mitbringen müssen, um für Vermarktungsabsichten der Modekonzerne interessant zu sein, sprechen über sozio-ökonomische Prekarität, Ausbeutung und sexuelle Belästigung und Gewalt (Palandri 2020).
Als Antwort auf den übermäßigen Konsum wird auf Minimalismus gesetzt und über die Vorzüge eines überschaubaren Kleiderschranks doziert (Use Less 2024). Second-Hand-Klamotten werden als „pre-loved“ positiv gelabelt und Hashtags wie #proudoutfitrepeater sprechen für sich. Neben Boho Chic und Dark Academia wird jedoch passend zu „BookTok“ auch Librariancore als neue trendgebende Ästhetik gefeiert (Mina Le 2023). Die Inszenierung im Bibliothekar*innenstyle, vermeintlich in Bücher vertieft aber mit tiefsitzender Brille und Pencilskirt, bedient so augenscheinlich eine schlichte Männerfantasie, dass bei aller Vielfalt wenig Zweifel aufkommt, dass das Patriarchat hier noch recht fest im Sattel sitzt.
Literatur
Akdemir, Nihan (2018). Deconstruction of Gender Stereotypes Through Fashion. (pp. 259-264). In: European Journal Social Science: Education and Research. (Vol. 5, No. 2). https://doi.org/10.26417/ejser.v5i2.p185-190
Anwary, Afroza (2017). Feminised Workforce in Transnational Production: Bamgladesh Ready-made Garment Industry. (pp. 174-191). In: History in Sociology of South Asia. (Vol. 11, No. 2). https://doi.org/10.1177/2230807516686419
Dewi; Herlina, Maria Grace & Boetar Boetar, Adine Esther Mutiha (2022). The effect of social media marketing on purchase intention in fashion industry. (pp.355-362). In: International Journal of Data and Network Science. (No. 6). http://dx.doi.org/10.5267/j.ijdns.2022.1.002
Djavarova, Elmira & Bowas, Tamar (2020). ‘Instagram made me buy it’: Generation Z impulse purchases in fashion industry. In: Journal of Retailing and Consumer Services. (Vol. 59). https://doi.org/10.1016/j.jretconser.2020.102345
English, Beth (2013). Global Women’s Work: Historical Perspectives on the Textile and Garment Industries. (pp. 67-82). In: Journal of International Affairs. (Vol. 67, No. 1). Zugriff am 15.07.2024 unter https://www.jstor.org/stable/24461672.
Faridul Hasan, K. M.; Mia, Shipan; Ashaduzzaman; Rahman, Mostafizur; Ullah, Ahmed & Ullah, Muhammad Shariat (2016). Role of Textile and Clothing Industries in the Growth and Development of Trade & Business Strategies of Bangladesh in the Global Economy. (pp. 39-48). In: International Journal of Textile Science. (Vol. 5, No. 3). Zugriff am 15.07.2024 unter http://article.sapub.org/10.5923.j.textile.20160503.01.html.
Gibbs, Andrew; Jewkesa, Rachel; Willana, Samantha; Al Mamune, Mahfuz; Parvine, Kausar; Yuf, Marat & Navede, Ruchira (2019). Workplace violence in Bangladesh’s garment industry. (pp. 1-10). In: Social Science and Medicine. (No. 235). https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2019.112383
Hippel, Wolfgang (1995). Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit. München: R. Oldenbourg.
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Mina Le (2023). let’s talk about the rise of '-core' and 'girl' aesthetics (07.08.2023). Zugriff am 15.07.2024 unter https://youtu.be/OMnfI8xkJ1s?si=ouLLfKVEJgisA7TO.
Mears, Ashley (2008). Discipline of the catwalk: Gender, power and uncertainty in fashion modeling. (pp. 429-456). In: Ethnography. (Vol. 9, No. 4). https://doi.org/10.1177/1466138108096985
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Park, Jaehyuk; Ciampaglia, Giovanni Luca & Ferrara, Emilio (2016). Style in the Age of Instagram: Predicting Success within the Fashion Industry using Social Media. (pp. 64-73). In: CSCW. (Feb/Mar). https://doi.org/10.48550/arXiv.1508.04185
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Shephard, Arlesa; Pookulangara, Sanjukta; Kinley, Tammy R. & Josiam, Bharath M. (2015). Media influence, fashion, and shopping: a gender perspective. (pp.4-18). In: Journal of Fashion Marketing and Management. (Vol. 20, No. 1). http://dx.doi.org/10.1108/JFMM-09-2014-0068
Silver, Beverly J. (2005): Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin & Hamburg: Association A.
Use Less (2024). How to build a sustainable wardrobe in 2024. A wardrobe you love (17.03.2024). Zugriff am 15.07.2024 unter https://youtu.be/yoCQlz27lQA?si=bbbJ0s99f9ASkPaa.
Zitation: Christiane Schnell: Looking good and feeling fine – in the garden of time? Das Desaster Modeindustrie, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 30.07.2024, www.gender-blog.de/beitrag/desaster-modeindustrie/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240730
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