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Headergrafik: Bild Inga Nüthen und Isabel Collien (CC-BY SA 4.0)

Forschung

Digitale Lernressourcen zum Thema Gender: Eine Praxisreflexion

08. September 2020 Isabel Collien Inga Nüthen

Die Corona-Pandemie katapultierte die deutsche Hochschullandschaft Anfang 2020 mit Lichtgeschwindigkeit in Richtung digitale Lehre. Ganz im Sinne der Idee von Open Educational Resources (OER) führte das unerwartete digitale Semester dazu, dass Lehrende der Geschlechterforschung vermehrt auf vorhandene, digitale Lernressourcen zurückgriffen. Im Zuge dieser Entwicklung wurde auch unsere offene, digitale Lernressource „Was ist Gender?“ verstärkt genutzt. Wir haben die Gunst der digitalen Stunde ergriffen und über unserer OER und ihre Nutzung reflektiert: Warum sind bestimmte Formate unserer OER so beliebt und bei wem? Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für eine machtkritische (Weiter-)Entwicklung dieser Formate? Und brauchen wir eine OER-Plattform für Gender-Inhalte?

Unser Ziel: Geschlechterforschung niedrigschwellig digital vermitteln

Im Jahr 2017 begannen wir im Rahmen der Hamburg Open Online University (HOOU) eine Projektidee umzusetzen: Eine offene, digitale Lernressource zum Thema Gender. Mit dem Projekt wollten wir einerseits zu einer Gegenöffentlichkeit beitragen, die der zunehmend (rechts)konservativen medialen Debatte um Gender, Gender Mainstreaming oder gendersensibler Sprache eine geschlechterforscherische Sicht entgegensetzt. Andererseits wollten wir ein interdisziplinär einsetzbares, niedrigschwelliges digitales Lernangebot produzieren. Dieser Anspruch entstand besonders aus unserer Erfahrung in Lehrkontexten, in denen Studierende mit wenig bis keinen Vorkenntnissen zu Gender Studies interdisziplinär lernten.

Im Geist der HOOU wollten wir die Inhalte auch Zielgruppen außerhalb der Hochschule zugänglich machen. Wir stellten uns vor, wie potenziell Interessierte oder Neugierige im Selbststudium die OER nutzen würden. Dazu konzipierten wir zwei Lernwege: Zum einen können Lernende verschiedene Lektionen zu Themen wie soziales Geschlecht, Geschlechterungleichheiten oder Heteronormativität in aufeinanderfolgenden Lektionen kennenlernen. Zum anderen können sie über die Themenliste schnell zu den Inhalten gelangen, die sie besonders interessieren, ohne die gesamte OER zu durchlaufen. Unsere Vorstellungen davon, wie Lernende die OER nutzen, entsprachen jedoch nicht ganz der Nutzungsrealität.

Zielgruppe Multiplikator*innen: Die OER wird genutzt, jedoch anders als vermutet

Entgegen unserer Vorstellung von selbstlernenden Interessierten, wird unsere OER vor allem von Lehrenden verwendet. Die statistische Auswertung der stark gestiegenen Klickzahlen während des ersten Corona-Semesters zeigt: Die Seiten, von welchen aus Interessierte zu unserem Lernangebot gelangten, sind häufiger Lernplattformen anderer Hochschulen. Interessierte nutzen also selten aus eigenem Antrieb eine komplett als Webseite gestaltete OER zum Selbstlernen. Die Einbindung in konkrete Lehrkontexte scheint der vorrangige Verwendungskontext für digitale, offene Lernressourcen zu sein. Unsere OER ist folglich eine Lehr-Lern-Ressource, die vor allem von Multiplikator*innen genutzt wird. Es gilt daher, Lehrende bei der Entwicklung von OER stärker zu berücksichtigen.

Die Rückfrage bei einzelnen Lehrenden ergab, dass vor allem einzelne Lernressourcen (z. B. Erklärfilme oder Übungen) verwendet werden, die wir auf unserer Webseite unter der Rubrik „Material“ bereitgestellt haben. Nachgefragt werden also Materialien, die unabhängig von unserem Kurs in der (digitalen) Lehre eingesetzt werden können. Weiterhin ist auffällig, dass sich in dieser Rubrik unsere Erklärfilme besonderer Beliebtheit erfreuen. Gerade dieses Format gilt es vor dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen mit dessen Einsatz in der Lehre und den Rückmeldungen einzelner Kolleg*innen zu reflektieren.

Material und Machtkritik: Erklärfilme produzieren wirkmächtige Geschichten

Im Rahmen unserer OER haben wir drei Erklärfilme produziert: Was ist Gender?, Geschlechterhierarchien und Heterosexuelle Matrix. Die Filme bieten einen Einstieg in grundlegende Konzepte/Begriffe der Geschlechterforschung. Die Erfahrung mit dem Einsatz der Erklärfilme in Seminaren zeigt, dass das Format sehr einprägsam zu sein scheint: In Klausuren und Seminararbeiten der Erstsemesterstudierenden tauchten die Beispiele aus den Videos eins zu eins auf und gerade die Bilder/Figuren, die wir entwickelten, waren sehr präsent. Dies unterstreicht die besondere Dringlichkeit, sich im Sinne einer machtkritischen Haltung mit der Gestaltung von Erklärfilmen auseinanderzusetzen (Goel/Stein 2012).

Erklärfilme basieren auf einer Storyline, die aus Beispielen, Bildern und Text eine Geschichte formt. Es ist wichtig zu reflektieren, welche Geschichten wir erzählen (und welche nicht) und wie diversitätssensibel die Bilder gestaltet sind. Zudem stellten wir an uns die Anforderung, komplexe Inhalte soweit zu reduzieren, dass sie verständlich, aber nicht simplifizierend vermittelt werden. So haben wir zur Illustration der „Norm der Zweigeschlechtlichkeit“ beispielsweise mit Figuren gearbeitet, die unterschiedliche intersektionale, vergeschlechtlichte Positionierungen abbilden bzw. die Norm der Zweigeschlechtlichkeit irritieren sollen. Es zeigt sich, dass diese Beispiele von den Studierenden in Prüfungssituationen reproduziert werden, nicht selten so, dass fraglich bleibt, ob das analytische Konzept in seiner Tiefe verstanden wurde.

Die Erklärfilme tragen zur Produktion einer hegemonialen Erzählweise von Konzepten bei, die im Anschluss aufgebrochen werden sollte. Hierfür ist die gemeinsame Reflexion der Videos im Seminarkontext zentral, die die Inhalte der Videos nicht als letzte Wahrheiten, sondern als eine Darstellung analytischer Konzepte einordnet und kritisch reflektiert. Es erscheint uns daher wichtig, die Erklärfilme nicht ohne pädagogisches Begleitmaterial und unter Einbindung in haltungsbezogene und reflexionsintensive Lehr-Lernkontexte einzusetzen.

Zukunftsvision: Kombinieren, bearbeiten, remixen und kollaborieren

Unsere digitale Lernressource ist bewusst, im Sinne offener Bildung, als Open Educational Resource (CC-BY SA 4.0) konzipiert. Dadurch ist es anderen Nutzenden rechtlich erlaubt, die produzierten Inhalte zu verändern, zu remixen oder zu recyclen – auch, wenn damit potenzielle Risiken verbunden sein könnten, wie beispielsweise ein Verfremden der Aussagen durch antifeministische Akteur*innen. Uns erreichte bisher noch kein konkreter Hinweis, wonach Andere unsere Inhalte weiterbearbeitet und verbessert hätten. Doch gerade das scheint uns im Sinne einer machtkritischen Gestaltung des Materials notwendig und produktiv.

Wie könnte das Weiterbearbeiten von offenen Bildungsmaterialien erleichtert werden? Und wie können wir den Bekanntheits- und Zugänglichkeitsgrad von Materialien erhöhen? Dies wurde auch im Rahmen einer Arbeitsgruppe zu „Open Digital Education in der Hochschule: Chancen und Herausforderungen“ diskutiert, die wir bei der Konferenz der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterstudien initiiert haben. Zwei Ideen wurden dort formuliert: Einerseits müssten OER-Materialien mit Gender-Inhalt auf bekannten (OER-)Plattformen platziert werden, um so ihre Sichtbarkeit und Auffindbarkeit auch im Rahmen einer größeren OER-Community zu gewährleisten. Andererseits wäre auch eine Plattform zum spezifischen Austausch von OER mit Gender-Inhalt sinnvoll, um hier eine Lern-Community zu etablieren, die eine machtkritische Perspektive auf OER einnimmt. Vergleichbar mit der Webseite zur „Genderbread Person“ könnten unterschiedliche bearbeitete, fusionierte und geremixte Versionen von offenen Bildungsmaterialien zur Verfügung gestellt werden – eventuell gekoppelt mit einem Diskussionsforum, auf dem Weiterentwicklungen besprochen und Kollaborationen initiiert werden können.

Personen, die digitale Lernressourcen mit Gender-Inhalten produzieren oder nachfragen, benötigen eine OER-Community, die sich vernetzt und das eingestellte Material fortwährend weiterentwickelt. Hierfür sollten Ressourcen bereitgestellt und nachhaltige Infrastrukturen geschaffen werden, die es ermöglichen, den macht- und selbstkritischen Anspruch der Geschlechterforschung auch in digitale Formate einzuschreiben und diese so zu dynamisieren.

Literatur

Goel, Urmila & Stein, Alice (2012). Mehr als nur ein Machtverhältnis – machtkritische Bildung und Zugänge zu Intersektionalität. Online abrufbar unter http://portal-intersektionalitaet.de/uploads/media/Goel_und_Stein_Bildungsarbeit_01.pdf.

OERInfo|Informationsstelle Open Educational Ressources. Online unter https://open-educational-resources.de/.

Zitation: Isabel Collien, Inga Nüthen: Digitale Lernressourcen zum Thema Gender: Eine Praxisreflexion, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 08.09.2020, www.gender-blog.de/beitrag/digitales-lernen-gender/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20200908

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© Headergrafik: Bild Inga Nüthen und Isabel Collien (CC-BY SA 4.0)

Isabel Collien

Isabel Collien ist Expert*in für Organisationsentwicklung mit den Schwerpunkten Antidiskriminierung, Chancengerechtigkeit und Intersektionalität. Sie leitet die Stabsstelle Gleichstellung der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und forscht als Politikwissenschaftler*in und Vokswirt*in u. a. zu postkolonialen Perspektiven auf Diversity Management.

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Inga Nüthen

Inga Nüthen ist wissenschaftliche Mitarbeiter*in im Arbeitsbereich Politik & Geschlechterverhältnisse des politikwissenschaftlichen Instituts der Philipps-Universität Marburg. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören queer_feministische Politische Theorie sowie intersektionalitäts- und gendersensible Lehre.

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Kommentare

Iris Koall | 08.09.2020

Danke für die Hinweise. Die Filme sind prägnant und klar! Ich werde Sie gerne in Trainings einsetzen.

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