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Interview

So aktuell wie nie – zum 20. Todestag der Theologin Dorothee Sölle

25. April 2023 Claudia Janssen Uta C. Schmidt

In diesem Jahr erinnern Menschen aus theologischen, feministischen, politischen Zusammenhängen an den 20. Todestag von Dorothee Steffensky-Sölle, geborene Nipperdey (1929–2003), eine der profiliertesten und bekanntesten Theologinnen des 20. Jahrhunderts. Sie war promovierte Theologin und habilitierte Literaturwissenschaftlerin. Als streitbare Intellektuelle ließ sie sich keinem gesellschaftlichen wie theologischen Mainstream zuordnen und verstand ihr Denken und Handeln aus der Shoah heraus. Sie engagierte sich in der Bewegung für den Frieden und gegen die Wiederbewaffnung in der BRD, später gegen den Vietnamkrieg, den Nato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung, gegen den Irak-Krieg, gegen Apartheit und Kolonialismus. Ihre Sitzblockaden vor dem Truppenstützpunkt in Mutlangen und dem Giftgasdepot in Waldfischbach brachten ihr Verurteilungen wegen versuchter Nötigung ein. Zusammen mit der Neutestamentlerin Luise Schrottroff (1934–2015) öffnete sie den Horizont für eine feministisch-befreiungstheologische Bibelauslegung.

Einer großen Öffentlichkeit über kirchliche, akademische oder politische Kreise hinaus bekannt wurde Dorothee Sölle durch die Politischen Nachtgebete, die zum ersten Mal auf dem Katholikentag in Essen 1968 durchgeführt wurden. Vorbereitet wurden sie von einer basisdemokratisch organisierten, ökumenischen Gruppe von Christinnen und Christen in Köln, die sich zuvor bereits zum Austausch über Gott und die Welt trafen. Ihr letztes Politisches Nachtgebet am 18. Mai 2002 bereitete Dorothee Sölle zusammen mit den Soziologinnen Maria Mies und Mechthild Höflich (1925–2009) vor. Sie stellten es unter das Motto: „Our World is not for sale“.

Uta C. Schmidt sprach mit Dr. Claudia Janssen, Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal über die Aktualität Dorothee Sölles.

Warum sollen wir uns heute in einem westlich-säkularen Feminismus überhaupt mit einer Theologin befassen?

Warum nicht? Niemand würde in Frage stellen, dass es wichtig ist, sich mit Martin Luther King zu befassen, obwohl er baptistischer Prediger war. Vermutlich steht hinter Ihrer Frage eine Provokation, die ich gern aufnehmen möchte: Sind Kirche und Theologie nicht so hoffnungslos patriarchal, dass eine Feministin diesen Institutionen lieber schnell den Rücken kehren sollte? In der Analyse hätte Dorothee Sölle Ihnen vermutlich sogar zugestimmt, aber sie hat eine andere Konsequenz gezogen. Sie hat einen neuen Protestantismus gefordert und zusammen mit anderen einen grundlegenden Veränderungsprozess eingeleitet. Das zeigt nicht zuletzt meine Professur für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. In gesellschaftlich relevanten Fragen theologisch sprachfähig zu werden, war zentral für Dorothee Sölles Engagement. Sie suchte den Dialog mit allen, die für gerechte Verhältnisse einstanden – in sozialen Initiativen, Gewerkschaften und in der Frauenbewegung. Dass sie dies aus einer tiefen religiösen Überzeugung tat, machte sie für viele zu einer glaubwürdigen Persönlichkeit – auch wenn sie die religiöse Überzeugung nicht teilten.

Was ist der Kern einer feministischen Bibelauslegung?

Wissenschaftliche feministische Bibelauslegung blickt mittlerweile auf eine 50-jährige Geschichte zurück. Zunächst befasste sie sich vor allem mit der Rekonstruktion der vergessenen oder unsichtbar gemachten Geschichte von Frauen (vgl. Janssen 2018). Aktuelle Entwürfe beziehen sich auf Gender-Konzepte und arbeiten intersektional, um die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Machstrukturen, biblischen Texten und hegemonialen Auslegungsdiskursen zu analysieren. Dorothee Sölle gehört zu den Pionier:innen einer kontextuellen befreiungstheologischen Bibelhermeneutik (vgl. Sölle 1985). Sie brachte feministische Theologie Ende der 1970er-Jahre aus dem US-Amerikanischen mit nach Deutschland.

Was bedeutet Dorothee Sölle für Ihren eigenen persönlichen wie beruflichen Werdegang?

An Dorothee Sölle faszinierte mich die Verbindung von Spiritualität, vielleicht passt sogar besser das alte, heute nicht mehr oft verwendete Wort Frömmigkeit, von differenzierter politischer Analyse und prophetischer Klarheit. Bis heute erreicht mich ihre eindrückliche Stimme, wenn ich ihre Texte lese. 1983 habe ich als Jugendliche Dorothee Sölle auf dem Kirchentag sprechen gehört. Es war die Zeit der großen Demonstrationen gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss und die Stationierung US-amerikanischer Raketen in Deutschland. Sie hat sich öffentlich gegen Rassismus und Antisemitismus eingesetzt. Das war für sie die Verpflichtung einer Theologie nach Ausschwitz. Von Dorothee Sölle habe ich gelernt, dass das Kreuz Christi nicht allein steht. Eine Christologie in der Nachfolge Jesu müsse danach fragen, wo unsere Kreuze heute stehen. Die Bibelarbeiten von ihr und Luise Schottroff haben mich und viele andere meiner Generation so begeistert, dass wir den Entschluss gefasst haben, Theologie zu studieren.

Was war – bzw. ist, denn das Format läuft ja weltweit weiter – das Besondere am politischen Nachtgebet?

Die politischen Nachtgebete entstanden Ende der 1960er-Jahre in einer erstarrten kirchlichen Situation. Dorothee Sölle forderte, dass Kirche sich verändern müsse, um überhaupt noch eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Sie bekannte sich zur marxistischen Analyse und deren Religionskritik. Das war ein Skandal und hat viele in Theologie und Kirche provoziert – bis heute. Persönliches und Gesellschaft gehörten aus ihrer Perspektive zusammen, Alltagsfragen sind zugleich relevante theologischen Fragen. Jedes politische Nachtgebet bestand deshalb aus drei Teilen: 1. Information über aktuelle gesellschaftliche Ereignisse. 2. Meditation: Die aktuelle Situation wurde mit einem biblischen Text ins Gespräch gebracht. 3. Diskussion, an der sich alle beteiligen konnten. Damit wurde die Kirche wieder zu einem Ort für Menschen, die sich politisch und sozial engagieren und gemeinsam eine Vision von Frieden und Gerechtigkeit entwickeln wollten.

Was ich nicht verstehe ist: Wie lässt sich radikales politisches Handeln mit Theologie in Verbindung bringen? Das eine hat mit hier und jetzt zu tun, das andere mit dem Himmelreich und einem Leben nach dem Tode, wenn man es aus dem Fegefeuer herausschafft.

Endlichkeit und ewiges Leben zusammendenken zu können, formuliert sie in einem ihrer letzten Vorträge als Ziel ihrer spirituellen Reise (vgl. Sölle 2001). In die eigene Endlichkeit einzustimmen, bedeutet für sie, als Lebewesen eingebunden zu sein in das Ganze der Schöpfung. Himmelreich und Fegefeuer sind keine Kategorien, die ein Leben nach dem physischen Tod beschreiben. Der Tod steht für sie in erster Linie für die Mächte, die das Leben in der Gegenwart zerstören. Vielleicht ist das ein guter Moment, Dorothee Sölle, die Theopoetin, selbst zu Wort kommen zu lassen, mit einem ihrer Gedichte:

gegen den tod

Ich muß sterben
aber das ist auch alles
was ich für den tod tun werde

Alle anderen ansinnen
seine beamten zu respektieren
seine banken als menschenfreundlich
seine erfindungen als fortschritte der wissenschaft
zu feiern
werde ich ablehnen

All den anderen verführungen
zur milden depression
zur geölten beziehungslosigkeit
zum sicheren wissen
daß er ja sowieso siegt
will ich widerstehen

Sterben muß ich
aber das ist auch alles
was ich für den tod tu

Lachen werd ich gegen ihn
geschichten erzählen
wie man ihn überlistet hat
und wie die frauen ihn
aus dem land trieben

Singen werd ich gegen ihn
und ihm land abgewinnen
mit jedem ton
Aber das ist auch alles

(Sölle 2008, S. 39)         

Wie konnte es passieren, dass die kreativen Impulse Sölles für eine Veränderung in Kirche und Gesellschaft bis heute vollkommen an den Rand gedrängt wurden?

Diese Einsichten waren damals unbequem und sind es noch heute. Dorothee Sölle hat polarisiert, viele fühlten sich bedrängt von ihrer oft kompromisslosen Forderung, sich auf die Seite der Verarmten, Marginalisierten, Entrechteten zu stellen. Sie war eine Mahnerin, die dem westlichen Mittelstandschristentum einen Spiegel vorhielt, in den kaum jemand gern schauen wollte. Trotz herausragender Qualifikationen und internationaler Anerkennung erhielt sie von keiner deutschen Universität je eine ordentliche Professur. Es war schwer, auch nur einen – unbezahlten! – Lehrauftrag an Dorothee Sölle zu vergeben, so an der Uni in Mainz Mitte der 1970er-Jahre (vgl. Kobel 2021).

„Mein Glaube kommt aus Auschwitz“ – hat Dorothee Sölle formuliert. Wie kann das gehen?

Ihre Jugendzeit zur Zeit des Zweiten Weltkriegs war bestimmt von einem Rückzug in die Innenwelt der Romantik. Warum sie und ihre Familie, die ganze Gesellschaft und vor allem das Bildungsbürgertum dem Nationalsozialismus nichts entgegenzusetzen hatte und angesichts der Ermordung von Millionen Jüd:innen passiv und gleichgültig blieb, hat sie ihr Leben lang beschäftigt. 1965 erschien ihr erstes theologisches Buch: Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes, 1968 folgte Atheistisch an Gott glauben. Es ging ihr nicht darum zu sagen, dass Gott tot sei – sondern eine bestimmte theologische Tradition, die von Gott als dem Allmächtigen spricht: Wie kann man nach Ausschwitz von einem Gott reden, „der alles so herrlich regieret“ – um eine Zeile aus dem bekannten geistlichen Lied „Lobe den Herren“ zu zitieren? Können wir nach Auschwitz überhaupt noch von Gott reden? Mit ihren Schriften hat sie ein neues Gottesverständnis für sich selbst und für Menschen eröffnet, die in den herrschaftlichen Gottesvorstellungen keine Heimat mehr fanden. Anknüpfend an Teresa von Avila formulierte sie: „Gott hat keine anderen Hände als unsere“, um etwas zu tun (Sölle 1999, S. 62).

Literatur

Franken, Irene (2019), Politisches Nachtgebet zum Thema Abtreibung, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/politisches-nachtgebet-zum-thema-abtreibung, zuletzt besucht am 12.04.2023.

Franken, Irene (2020), Politisches Nachtgebet Frauenemanzipation, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/politisches-nachtgebet-frauenemanzipation, zuletzt besucht am 12.04.2023.

Janssen, Claudia (2018), Exegese, Feministische (NT), in: Wissenschaftliches Bibellexikon (WiBiLex), http://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/200446, zuletzt besucht am 12.04.2023.

Kobel, Esther (2021), „Links und eine Frau – das muß bestraft werden“. Kontroversen um einen Lehrauftrag für Dorothee Sölle an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der JGU Mainz in den frühen Siebzigerjahren, in: Mainzer Evangelisch-Theologische Zeitschrift, 6(2), 97–121, https://www.dorothee-soelle.de/%C3%BCber-dorothee-s%C3%B6lle/l%C3%A4ngere-texte-arbeiten/, zuletzt besucht am 12.04.2023.

Sölle, Dorothee (1965), Stellvertretung: Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes, Stuttgart/ Berlin.

Sölle, Dorothee (1968), Atheistisch an Gott glauben: Beitr. z. Theologie, Freiburg i. Br.

Sölle, Dorothee (1985), Wie können wir befreiungstheologisch arbeiten? Ein Vorschlag für einen Prozess in vier Schritten, in: Dorothee Sölle/Luise Schottroff, Die Erde gehört Gott. Ein Kapitel feministischer Befreiungstheologie, Wuppertal, S. 181–183.

Sölle, Dorothee (1990), zivil und ungehorsam. Gedichte, Kleinmachnow.

Sölle, Dorothee (1990), Gegenwind. Erinnerungen, München.

Sölle, Dorothee (2001), Endlichkeit und Ewiges Leben. Zur Mystik des Todes, https://opus4.kobv.de/opus4-Fromm/files/20887/Soelle_D_2002.pdf, zuletzt besucht am 12.04.2023.

Sölle, Dorothee (2008), Gesammelte Werke, Bd. 8: Das Brot der Ermutigung, hg. v. Ursula Baltz-Otto u. Fulbert Steffensky, Stuttgart.

Zitation: Claudia Janssen im Interview mit Uta C. Schmidt: So aktuell wie nie – zum 20. Todestag der Theologin Dorothee Sölle, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 25.04.2023, www.gender-blog.de/beitrag/dorothee-soelle/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230425

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Prof. Claudia Janssen

Claudia Janssen lehrt seit 2016 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, seit 2020 ist sie dort Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung und leitet das Institut für Feministische Theologie, Theologische Geschlechterforschung und Soziale Vielfalt. Im Neuen Testament forscht sie schwerpunktmäßig zu den Schriften des Paulus, vor allem zum Brief an die Gemeinde in Rom.

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Dr. Uta C. Schmidt

Historikerin und Kunsthistorikerin; Forschungen an den Schnittstellen von Raum, Wissen, Geschlecht und Macht; Publikationen zu Klöstern, Klanggeschichte und Geschichtskultur; wiss. Mitarbeiterin im Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW; Kuratorin im DA. Kunsthaus Kloster Gravenhorst; Mitherausgeberin von www.frauenruhrgeschichte.de.

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