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Interview

Bereit, Grenzen zu überschreiten. Interview über Emmy Noether mit Mechthild Koreuber

05. November 2019 Sandra Beaufaÿs

Emmy Noether (1882–1935) war in vieler Hinsicht die erste Mathematikerin des 20. Jahrhunderts. Mit ihren ungewöhnlichen Arbeitsmethoden und ihrem originellen Denken trug sie maßgeblich dazu bei, ein strukturelles Denken in die mathematischen Disziplinen zu bringen. Bereits mit ihrer Habilitationsschrift von 1918 löste sie zentrale mathematische Probleme der Relativitätstheorie. Als Frau und Jüdin, in den 1920er-Jahren und zu Beginn der 1930er-Jahre in Deutschland lehrend, war sie vielfachen beruflichen Diskriminierungen ausgesetzt.

Sandra Beaufaÿs sprach mit Mechthild Koreuber, die mit Ihrer Forschung einen interdisziplinären Austausch zu Werk und Biografie der Wissenschaftlerin angestoßen hat.

Wie bist du darauf gekommen, über Emmy Noether und die Noether-Schule zu arbeiten? Was genau hat dich fasziniert?

Natürlich kannte ich Emmy Noether schon aus meinem Studium, hatte mich aber nicht wirklich mit ihr befasst. Es war reiner Zufall, dass sie zu meinem Forschungsschwerpunkt wurde. Eine studentische Hilfskraft fragte mich, ob wir nicht mal einen gemeinsamen Aufsatz über sie schreiben. Und dann habe ich gedacht, warum eigentlich nicht, aber ist denn nicht schon fast alles über sie gesagt worden? Es stellte sich innerhalb kürzester Zeit heraus, dass es im Grunde nur einige wenige biografische Arbeiten gab, in ihnen wurde die Mathematik nur gestreift. Und andersherum, dass sich über die Mathematik Emmy Noethers zwar Ausführungen finden ließen, die jedoch wenig wissenschaftstheoretisch und wenig mathematikhistorisch waren. Über die Noether-Schule selbst gab es ganz eigentlich keine Forschung. Es wurden lediglich nur die Namen ihrer Doktorand*innen aufgelistet. Doch was heißt eigentlich Schüler sein, was heißt eigentlich Schule in dem Zusammenhang? Das hat mich dann neugierig gemacht; ich finde es faszinierend, dass Noether eine Schule hatte unter den Rahmenbedingungen, unter denen sie gearbeitet hat.

Was waren denn die Rahmenbedingungen dieser „Schule“?

Noether hatte keine Ausstattung und sie bewegte sich in einem mathematischen Feld, der modernen Algebra, das zu dem Zeitpunkt nicht im Mainstream war, sondern eher mit großer Skepsis betrachtet wurde. Wie konnte es dann gelingen, dass eine Schule entstand, die so einen großen Einfluss entfaltete? Und wie kann eine Schule mathematisches Denken verändern? Ich habe den Begriff der kulturellen Bewegung gewählt, um die Intention dieser Schule eigentlich zu fassen: Die Mitglieder der Schule wollten mathematisches Denken verändern. Sie wollten ihre Vorstellung, wie man Mathematik betreiben sollte, wie man neu über Mathematik nachdenken sollte, in die Welt bringen, Mathematiker und Mathematikerinnen jetzt entsprechend ihrer Auffassung von Mathematik ausbilden. Das finde ich deshalb so spannend, weil es über dieses sehr eingeschränkte Schulenverständnis im Sinne formaler Beziehungen hinausgeht und sich eher mit dem Begriff der kulturellen Bewegung ausdrücken ließ.

Wie hat Emmy Noether selbst gearbeitet? Was war ihre spezielle Methode?

Was mir ganz zu Anfang, als ich begann, mich mit Noethers Werk zu befassen, ins Auge sprang: dass sie eigentlich mit ihrer Art des Schreibens jemanden direkt anzusprechen scheint. Das ist ungewöhnlich für mathematische Texte, an die Leserschaft zu appellieren, sich mit auf die Gedankenwege zu begeben. Wir können hier von der Dialogizität von Texten sprechen. Eine andere Ebene ist die Bedeutung des Über-Mathematik-Redens, das in allen Erinnerungen über Noether auftaucht: Der rege persönliche Austausch mit ihr ist das Befruchtende, das Inspirierende. Es war unglaublich faszinierend zu verstehen, dass es sich um mehr als ein didaktisches Konzept handelt. Es ist ein Element der Methode Noethers, einen mathematischen Gegenstand von verschiedenen Seiten zu betrachten. So sind ihre Publikationen nicht einfach durchgeschriebene Beweisführungen, vielmehr findet sich diese Betrachtungsweise auch in den mathematischen Argumentationen wieder. Um es konkret zu machen: Sie definierte etwa einen mathematischen Begriff. Und dann schrieb sie „Mit anderen Worten...“ und wechselte die mathematische Perspektive, etwa von einer algebraischen zu einer mengentheoretischen Sicht auf den Begriff.

Wurde diese besondere Qualität in ihrem Umfeld und später von der Wissenschaftsgeschichte auch so wahrgenommen?

Das ist sogar, möchte ich beinahe sagen, ein Problem und eines, das ihr selbst bewusst war. Es gibt ein Zitat von ihr aus einem Brief an einen Kollegen, in dem sie sagt: „Meine Methoden sind Arbeits- und Auffassungsmethoden, und daher anonym überall eingedrungen.“ Das ist in vielerlei Hinsicht zu interpretieren und es kann darin auch eine gewisse Bitterkeit gelesen werden. Sie hatte einen großen Einfluss, der nicht immer zur Kenntnis genommen und in den Publikationen häufig nicht sichtbar gemacht wurde. Und auch heute noch nicht angemessen zur Kenntnis genommen wird. Es gibt inzwischen durchaus viele Publikationen über Noether, aber diese Wirkung ihres Denkens in Fächern wie der Geometrie oder Topologie, die ist mathematisch schwer zu fassen und auch nicht unmittelbar als Methode zu erkennen. Deshalb ist es wohl so, dass diese Wirkung auch heute noch unterschätzt wird, weil nur auf große mathematische Erkenntnisse, die sie auch entwickelt hat, geschaut wird.

Noether war eine Pionierin als Frau in der Wissenschaft, zudem in der Mathematik, einem Fach, das dem Männlichen besonders stark zugeschlagen wird, und sie war als Jüdin in Deutschland der 1930er-Jahre bedroht und emigrierte daher in die USA. Würdest du sagen, dass diese biografischen Besonderheiten ihr Werk beeinflusst haben?

Ja, ich finde, dass das zusammengehört, ich würde Biografie und Werk nicht voneinander trennen wollen. Das ist meine Grundannahme, von der ausgehend man sich fragen muss, wie kann das in der Mathematik, die natürlich extrem entpersonalisiert ist, sichtbar werden. Für mich ist ein Gedanke dabei: Noether war bereit, Grenzen zu überschreiten. Sie hat die Grenze überschritten, überhaupt als Frau studieren zu wollen, Mathematik studieren zu wollen, wobei ihr Bruder und ihr Vater auch Mathematiker und damit vielleicht Vorbilder waren – aber sie hat in der Mathematik dann auch Grenzen überschritten, Grenzen des traditionellen Denkens. Und da sehe ich eine Parallele zum Biografischen, dass sie Grenzen nicht akzeptiert hat und dass sie deshalb auch in der Wissenschaft Grenzen des Konventionellen nicht für sich akzeptiert hat. Und so viel bereiter war als manche ihrer Zeitgenossen, sich auf dieses neue abstrakte Denken einzulassen und es zur Blüte zu bringen.

Durch deine Erzählung wird deutlich, dass dein Buch über Noether eine interdisziplinäre Arbeit sein muss.

Ja, meine Arbeit ist wirklich sehr interdisziplinär, weil ich in der Wissenschaftsgeschichte nicht ausreichend Methoden fand, meine Fragen zu beantworten. Methodische Ansätze sind wesentlich auf die Laborwissenschaften und nicht auf die Mathematik orientiert. Die Disziplinengeschichte der Mathematik hingegen bezieht sich vielfach nur darauf, wann welcher Satz publiziert wurde und ist insofern eigentlich ahistorisch, weil der mathematische Diskurs und der gesellschaftliche Kontext kaum Berücksichtigung findet. Aber natürlich habe ich auch mathematisch gearbeitet, denn ich musste ja diese ganzen Sachen auch erst einmal durchdringen. Gleichzeitig habe ich mich in die Disziplin der Literaturwissenschaft ein Stück hineinbegeben, um mathematische Texte mit deren methodischen Konzepten analysieren zu können. Und um die Noetherschule zu verstehen, habe ich mich auch mit einer ethnologischen Perspektive beschäftigt.

Welchen Stellenwert hat für dich denn die Geschlechterforschung? Spielt sie auch eine Rolle?

In meinem Verständnis ist die Frage von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen eine, die ich in jedem Aspekt meiner Forschung stellen kann: in Bezug auf Noethers Biografie, in Bezug auf ihr Denken und in Bezug auf die Noether-Schule. So ist zu diskutieren, was es zu dieser Zeit bedeutete, bei einer Frau zu studieren, der Schüler einer Wissenschaftlerin zu sein. Anfang der 1920er-Jahre bei Noether studiert zu haben war noch nicht ein Ausweis von Exzellenz. Sie war mathematisch bedeutsam, aber im wissenschaftlichen Betrieb zunächst eine Randfigur. Junge Mathematiker haben also bei ihr studiert, weil sie Neues bei ihr lernten, weil sie aber auch Altes ablehnten. Neues kann auch bedeuten, bei einer Frau zu studieren. Man kann darin ein Motiv entdecken, dass das Aufbegehren gegen Tradiertes in verschiedenen Facetten enthalten ist. Andererseits wurde gleichzeitig auch Noether die Weiblichkeit abgesprochen. Wenn in Göttingen von „der Noether“ gesprochen wurde, war das eine Art von Wertschätzung als Kollegin und eine Aberkennung ihres Geschlechts. Doch mag es für manchen eben auch leichter gewesen sein, sich auf diese Weise mit ihr auseinanderzusetzen, weil es vielleicht nicht einfach war, zu ertragen, dass eine Frau ihm geistig überlegen ist.

Aus deiner Arbeit sind vielfältige weitere Forschungskooperationen entstanden. Welche Formen der Zusammenarbeit waren dabei für dich besonders spannend?

Eins der Highlights der nachfolgenden Kooperationen war die große Noether-Konferenz im Juni 2019, eine interdisziplinäre Konferenz mit Physiker*innen, mit Mathematiker*innen, mit Historiker*innen, auch Geschlechterforscher*innen und Kulturwissenschaftler*innen. Das war für mich eine ganz wichtige Fortführung meiner Forschung zu Noether. Aber das Besondere war natürlich, dass im Rahmen der Konferenz die Idee entstand, ein Theaterstück zu entwickeln! Das hat sich für mich als ganz besonders spannende Zusammenarbeit herausgestellt. Der Mainzer Mathematikhistoriker David Rowe und ich haben gemeinsam mit dem Portraittheater das Stück entwickelt. Wir saßen zu Viert zusammen und haben erst einmal diese Figur entstehen lassen. Wie kann man Noether als Figur auf die Bühne bringen, eine Persönlichkeit, die von Mathematik fasziniert ist, die andere für Mathematik begeistern konnte, wenn doch gleichzeitig Noethers Mathematik so abstrakt ist? Wie können wir vermitteln, was das Herausragende an Emmy Noether war und welche Wirkung sie auf ihre Zeitgenoss*innen und in die Mathematik hinein hatte? Diese Zusammenarbeit war im besten Sinne der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnis in die Gesellschaft hinein.

Das Theaterstück „Mathematische Spaziergänge mit Emmy Noether" kann am 6. November 2019 in Erlangen, am 8. November 2019 in Mainz, am 10. Dezember 2019 in Göttingen sowie am 12. Mai 2020 in München besucht werden. Nähere Informationen erhalten Sie über die Webseiten der Fachbereiche Mathematik der jeweiligen Universitäten, in München der Technischen Universität.

Literatur

Koreuber, Mechthild (2015). Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra. Zur Geschichte einer kulturellen Bewegung. Springer: Berlin, Heidelberg.

Koreuber, Mechthild & Mischau, Anina (2019). Mathematik: Geschlechterforschung in disziplinären Zwischenräumen. In Kortendiek, Beate; Riegraf, Birgit & Sabisch, Katja (Hrsg.), Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-12496-0_135

Zitation: im Interview mit Sandra Beaufaÿs: Bereit, Grenzen zu überschreiten. Interview über Emmy Noether mit Mechthild Koreuber, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 05.11.2019, www.gender-blog.de/beitrag/emmy-noether-interview/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20191105

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Dr. Sandra Beaufaÿs

Sandra Beaufaÿs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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