08. Oktober 2019 Uta C. Schmidt
Die ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Dortmund, Brigitte Wolfs, brachte es auf den Punkt: „Straßenbenennungen nach Personen spiegeln historisch den jeweiligen politischen Willen wider, die Leistungen der Vorfahren zu würdigen und im öffentlichen Raum präsent zu halten“ (Frauenbüro 2007, S. 5). Angesichts des noch immer eklatanten Missverhältnisses zwischen Straßen, die nach männlichen und weiblichen Persönlichkeiten benannt sind, ist die Benennung einer Straße am Dortmunder U mit dem Namen der Fotografin Annelise Kretschmer (1903–1987) ein besonderes Ereignis.
Vernetzung in der Stadt
Die Straßenbenennung fiel nicht vom Himmel, sondern geht auf die Anregung und den Antrag engagierter Frauen um Helga Steinmaier und Rosemarie Ring zurück. Beide sind seit langem im Bereich feministischer Raumplanung unterwegs. Helga Steinmaier arbeitete als Diplom-Pädagogin in Raumplanungszusammenhängen. Rosemarie Ring gehörte Anfang der 1980er-Jahre zu den (Mit-)Gründerinnen der Dortmunder Sektion der FOPA, der Feministischen Organisation von Planerinnen und Architektinnen e. V., und initiierte 1984 das erste Projekt zur Beteiligung von Frauen an der Stadterneuerung in Dortmund. Beide verfügen über organisatorisches Wissen, sind mit kommunalen Verwaltungsvorgängen vertraut und bestens in die Frauenöffentlichkeiten der Stadt vernetzt. Sie halten bis heute an der Idee fest, dass es auf dem langen Weg hin zu einer geschlechtergerechteren Stadt auch Straßen bedarf, die nach toughen Frauen benannt sind – schließlich werden der Stadtraum und seine Geschichte von vielen Geschlechtern „gemacht“. Also starteten sie eine Postkartenaktion und aktivierten die frauenpolitischen Netzwerke der Stadt. Als eine Ausstellung mit Bildern von Annelise Kretschmer in der Städtischen Galerie Iserlohn zu sehen war, organisierte das Gleichstellungsbüro in Dortmund eine Gruppenreise zur Ausstellung, um ein größeres Publikum für die Arbeiten und eine mögliche Straßenbenennung zu begeistern.
Konstruktionsweisen kultureller Erinnerung
Die Praxis der Straßenbenennung wirft Fragen nach Konstruktionsweisen kultureller Erinnerung auf. Straßennamen bezeichnen öffentliche Verkehrswege, Wege, die überquert, an denen gewohnt, gespielt, geliebt, gelebt, gekämpft, geparkt wird. Geht es um die Repräsentation von Stadt im Medium des Stadtplans, haben Verfahren wie das Hinzufügen von Frauen zur Geschichte (additorische Verfahren) oder das Hinzufügen ihrer besonderen Leistungen (kontributorische Verfahren) noch nicht an Bedeutung verloren.
Die Suche nach Frauen im kulturellen Gedächtnis der Stadt in Form von Straßennamen, Kunst im öffentlichen Raum, Gedenktafeln und Denkmälern macht bis heute noch immer erschreckend deutlich, wer eigentlich die großen Erzählungen zur Stadtentwicklung bestimmt: Nirgendwo kann man das Konzept einer „Universalgeschichte“ besser erfahren als mit dem Stadtplan in der Hand. Zu Kaiser, Königen, Freiherren, Admirälen, Regierungspräsidenten, Dichtern, Denkern und Musikern kommen in einer Industriestadt wie Dortmund Großindustrielle, Verwaltungseliten, Bergräte, Politiker. Öffentlichem wie akademischem Interesse am Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist es zu verdanken, dass seit den 1990er-Jahren Straßen den Namen verfolgter Männer und Frauen tragen, so wie den der Kommunistinnen Johanna Melzer (1904–1969) und Martha Gillessen (1901–1945). Die Anregung dazu kam vom Dortmunder Frauenbüro. Es war an die Bezirksvertretung Innenstadt-Nord herangetreten, um die Namensänderung auf den Weg zu bringen. Alle Bürger*innen können Vorschläge bei der zuständigen Bezirksvertretung unterbreiten. Es kommt auf das Mobilisierungspotenzial in zivilgesellschaftlichen Netzwerken und auf politische Mehrheitsverhältnisse an, ob Vorschläge Erfolg haben. Bei bezirklichen Straßen entscheidet die jeweilige Bezirksvertretung und bei überbezirklichen der Rat der Stadt.
Fotografin am Dortmunder U
Auch die aktuelle Straßenbenennung beruht auf einer Zusammenarbeit der beiden Initiatorinnen mit dem Gleichstellungsbüro, mit den für das Dortmunder Union-Viertel zuständigen gewählten Vertreter*innen der Bezirksvertretung Innenstadt-West und mit dem Dortmunder Tiefbauamt, das technisch und organisatorisch für die Straßennamen einer Stadt verantwortlich ist. Dieser produktiven gemeinsamen Aktion von Zivilgesellschaft, politischer Vertretung und städtischer Verwaltung ist es zu verdanken, dass nun nicht eine kleine Stichstraße in einem Dortmunder Vorortwohnviertel nach Annelise Kretschmer benannt wird, sondern eine kleine Straße am Dortmunder U, das bereits als Postadresse „Leonie-Reygers-Terrasse“ trägt. Damit hält die Adresse des U als Kreativ- und Ausstellungszentrum den Namen der ersten Direktorin des Dortmunder Museums am Ostwall – MO – im kulturellen Gedächtnis der Stadt präsent. Leonie Reygers (1905–1985) und Annelise Kretschmer waren befreundet und Annelise Kretschmer hat für das Museum am Ostwall gearbeitet, das mit ständiger Ausstellung und Projekten vom Ostwall in das U umgezogen ist.
Neue Sachlichkeit
2016/2017 zeigten Ausstellungen in Köln und Bremen das fotografische Werk Annelise Kretschmers. Sie wurde dort als eine bedeutende Fotografin der Neuen Sachlichkeit vorgestellt. Helga Steinmaier besuchte zufällig die Ausstellung in Bremen und war von den Fotografien ergriffen. Mehr jedoch trieb sie um, dass Annelise Kretschmer zwar international in fotografischen Fachöffentlichkeiten geschätzt wurde, doch in Dortmund, der Stadt, in der sie geboren worden war und 50 Jahre ein fotografisches Atelier unterhielt, keine kulturelle Erinnerung an diese künstlerisch anerkannte Fotografin aus der Weimarer Republik gepflegt wurde: Geht es im Ruhrgebiet um Neue Sachlichkeit, so präsentiert sich die Industrieregion immer wieder in Bildern von Albert Renger-Patzsch. In der Weimarer Republik hingegen ließ sich das Ruhrgebiet auch mit und in Bildern von Annelise Kretschmer vor- und darstellen. Zeitgenössisch wurden ihre Bildnisse hochgelobt: Sie trügen am deutlichsten „Zeichen der neuen Auffassung des Materials und der Befreiung vom Hergebrachten“ (Ausstellungskatalog 1982, S. 39). Und – als wenn um eine programmatische Fassung der Neuen Sachlichkeit insgesamt ginge, hieß es weiter zu ihren Arbeiten: „Keine Anlehnung an Vorbilder, keine Beleuchtungseffekte, keine kunstvollen Anordnungen; die Idee kommt mit dem Auftrag durch Sehen und Beobachten, deren Wirkung nicht durch Eingriffe und malerische Druckverfahren beeinträchtigt wird“ (Ausstellungskatalog 1982, S. 39).
Eine Fotografin aus Dortmund
Annelise Silberbach wurde 1903 in eine „unkonventionelle“ Dortmunder Kaufmannsfamilie hineingeboren. Von 1909 bis 1919 besuchte sie – noch konnten Frauen nicht gleichberechtigt am öffentlichen Schulwesen teilnehmen – das „Töchterbildungsinstitut Dr. Weiss“ in Weimar und ging dann an die Kunstgewerbeschule in München, Abteilung Buchbinden und Zeichnen. Sie absolvierte ein zweijähriges Volontariat im Porträtatelier von Kaenel in Essen und wurde 1924 bis 1928 Meisterschülerin bei dem Fotografen Franz Fiedler in Dresden. Sie wurde Mitglied in der Gesellschaft für Deutsche Lichtbildner. Nach der Heirat mit dem Bildhauer Sigmund Kretschmer gründete sie 1929 als eine der ersten Frauen in Deutschland in Dortmund ein Fotoatelier. 1930 und 1932 bekam das Paar zwei Kinder, Tochter Tatjana und Sohn Michael. Im Nationalsozialismus wurde Annelise Kretschmer aus rassistischen Gründen aus der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner ausgeschlossen. Doch sie konnte noch 1936 ihre Meisterprüfung in Dortmund ablegen. In den späten 1930er-Jahren schätzte man sie in Dortmund und sie genoss ein hohes Ansehen, auch bei Nazifunktionären, die sich weiterhin bei ihr fotografieren ließen. Um 1938 gingen die Aufträge merklich zurück. Sie arbeitete weiter und lebte in ständiger Furcht vor Sanktionen und Verfolgung. Mittlerweile bestand die Familie aus sechs Personen, 1938 und 1940 wurden zwei weitere Kinder geboren.
Von der Weimarer Republik in die Bundesrepublik
Das Ende des Krieges erlebte die Familie in Wieneck bei Freiburg im Breisgau. 1950 zogen sie zurück nach Dortmund und Annelise Kretschmer eröffnete wieder ihr Fotoatelier. Passfotokund*innen kamen aus allen Schichten der Gesellschaft, die Porträtkundschaft hauptsächlich aus Kreisen von Wirtschaft und Industrie. In einem Interview mit Ute Eskildsen, die bereits 1982 im Folkwang-Museum in Essen eine Ausstellung „Annelise Kretschmer – Fotografin“ kuratierte, verwies die Fotografin auf die spezielle Situation in Dortmund. Hier lebten weniger „Künstler und Akademiker“ als in anderen Städten, die als Auftraggeber*innen an sie herantraten. Im Gespräch kam die geschlechtsspezifische Verflechtung von Lebens- und Berufsbedingungen deutlich zur Sprache. Ihr Selbstverständnis als Fotografin formulierte Annelise Kretschmer Anfang der 1980er-Jahre: „Bei einem guten Foto ist die Idee in die Wirklichkeit und die Wirklichkeit in die Idee erhoben. Die eigentliche Schwierigkeit bei der Portraitfotografie ist es, den Menschen zu einer Selbstdarstellung zu bewegen, in der seine wesentlichen Charakterzüge zum Ausdruck kommen. Die Fotografie war mir dazu immer ein selbstverständliches Mittel, mit dessen Hilfe man einen Menschen erfassen kann“ (Ausstellungskatalog 1982, S. 7).
Zwischen 1958 und 1978 arbeitete Annelise Kretschmer mit ihrer Tochter Christiane zusammen. Die Mutter erinnert das Arbeitsverhältnis als schön und befriedigend, da sie sich sehr gut ergänzten. 1982 schuf Christiane von Königslöw ein beeindruckendes Altersporträt ihrer Mutter, mit dem sie ihr als Fotografin ein Denkmal setzte (Austellungskatalog 1982, S. 38). Christiane von Königslöw wird der Enthüllung der Annelise-Kretschmer-Straße mit Freude beiwohnen. Sie liest auf der „Enthüllungsfeier“ Autobiografisches ihrer Mutter.
Feier Annelise-Kretschmer-Straße, ehemaliger Straßenteil des Emil-Moog-Platzes, hinter dem Dortmunder U, von der Rheinischen Straße in Richtung Norden in Höhe der Haltestelle Bus 452: Dienstag, 8. Oktober 2019 um 11 Uhr vor Ort.
2020 wird das Dortmunder Museum für Kunst- und Kulturgeschichte eine Ausstellung mit Fotografien von Annelise Kretschmer zeigen.
Literatur
Annelise Kretschmer: Entdeckungen: Photographien 1922–1975, für das Käthe Kollwitz Museum Köln herausgegeben von Hannelore Fischer, Köln: Emons 2016.
Annelise Kretschmer – Fotografin. Fotografische Sammlung im Museum Folkwang, Essen 12. Sept.–10. Oktober 1982, Ausstellungskatalog, Ute Eskildsen, Museum Folkwang Essen 1982.
Fotografieren hieß teilnehmen. Fotografinnen der Weimarer Republik, eine Ausstellung im Museum Folkswang, Essen kuratiert von Ute Eskildsen, Katalog zur Ausstellung Serie Folkwang, Essen 1995.
Frauenbüro der Stadt Dortmund (Hg.), Durch Raum und Zeit. Dortmunder Frauen – Straßen – Namen, Dortmund 2007.
Ruelfs, Esther, Annelise Kretschmer. Fotografien 1927–1937, Göttingen: Steidl Verlag 2003.
Zitation: Uta C. Schmidt: Enthüllen ist Erinnern: die Annelise-Kretschmer-Straße, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 08.10.2019, www.gender-blog.de/beitrag/enthuellen-ist-erinnern-die-annelise-kretschmer-strasse/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20191008
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