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Interview

Offen für Überraschungen im Feld der Männlichkeitsforschung

30. April 2024 Jana Fritsche Sylka Scholz

Die Sektion Frauen- und Geschlechterforschung hat den Dissertationspreis 2023 an Jana Fritsche verliehen für ihre Arbeit „Über die Unwahrscheinlichkeit der Männlichkeitsforschung. Genealogie eines Forschungsfelds“. Das Buch ist nun in der Reihe Geschlecht und Gesellschaft erschienen. Sylka Scholz sprach mit der Autorin über Entwicklungen, Dynamiken und Risiken der Männlichkeitsforschung.

Sylka Scholz: Männlichkeitsforschung ist in Deutschland und international mittlerweile ein etabliertes Forschungsgebiet. Sie untersuchen, wie dieses Feld entstanden ist. Jetzt stolpert man natürlich erstmal über den Titel „Über die Unwahrscheinlichkeit der Männlichkeitsforschung“. Was meinen Sie denn damit?

Jana Fritsche: Damit beziehe ich mich auf die gängige These, dass das Männliche und Allgemein-Menschliche lange Zeit gleichgesetzt wurden: Männlichkeit sei bis ins 20. Jahrhundert hinein gar nicht als eine besondere Lebenslage oder Subjektposition sichtbar geworden. Vor diesem Hintergrund ist die Männlichkeitsforschung etwas sehr Unwahrscheinliches. In meiner Studie frage ich nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die die Entstehung der Männlichkeitsforschung wahrscheinlich machen. Dabei beziehe ich mich aber auch auf die weitere Entwicklung, denn kein Forschungsfeld ist automatisch auf Dauer gestellt.

Ihre zentrale These lautet, dass das Begründungsnarrativ der Männlichkeitsforschung, sie habe sich in den 1970er-, 80er-Jahren in Reaktion und Folge auf die Frauenbewegung und -forschung entwickelt, ein Mythos ist. Stattdessen entfalten Sie die These, dass es sich dabei schon um eine zweite, spätmoderne Generation von Forscher:innen handelt. Wer ist denn für Sie die erste Generation?

Vorläufer der Männlichkeitsforschung lassen sich schon um 1900 finden. Zum Beispiel wurden in dem Sammelband von Robby Koßmann und Julius Weiß (1908) bereits Überlegungen veröffentlicht, wie man die Charakteristika von Männern wissenschaftlich untersuchen könnte. Erste sozialwissenschaftliche Studien finden sich schon in den 1940er- und 1950er-Jahren in den USA, zum Beispiel von Mirra Komarovsky (1940) und Helen Mayer Hacker (1957), aber auch in Deutschland, zum Beispiel von Gerhard Kleining (1959), in den 1970ern dann von Autoren, die auch für die spätere Männlichkeitsforschung immer noch von Bedeutung sind, wie zum Beispiel Joseph Pleck (1976; vgl. auch Pleck/Sawyer 1974). All diese Positionen eint, dass sie ein ähnliches Problem bearbeiten; diese Texte weisen ähnliche Muster auf, weshalb ich sie als eine Generation zusammenfasse, der dann ab den 1980er-Jahren eine zweite Generation mit veränderten Narrativen folgt.

Was ist das Problem, das diese früheren Männerforscher:innen behandeln?

Die frühen Forscher:innen machen die Beobachtung, dass es keine einheitliche Form von Männlichkeit gibt, sondern unterschiedliche Männlichkeitsentwürfe. Diese werden von den Forscher:innen vor allem als Gegenwartsphänomen ihrer Zeit gesehen und auf den sozialen Wandel zurückgeführt. Dabei ist die Diagnose, dass sich ganz unterschiedliche Männlichkeitsrollen – damals war noch von ‚Rolle‘ die Rede – überlappen: Einerseits noch alte bestehende Rollen, andererseits bereits moderne, schon angepasste Männlichkeitsrollen. Und diese Überlappungen verursachen dann eben Dilemmata, Bürden, wie es heißt, und eine gewisse Orientierungslosigkeit unter Männern. Diese Differenz oder Diskrepanz zwischen Männlichkeitsentwürfen stellt das Problem dar und die Lösung in der frühen Männlichkeitsforschung zielt darauf ab, dass sich möglicherweise künftig eine synchronisierte Männlichkeitsrolle entwickelt, die mit ihrem sozialen Umfeld wieder in Einklang steht.

Was unterscheidet jetzt die erste Generation von Männlichkeitsforscher:innen von der zweiten Generation?

Das ist tatsächlich die ganz spannende Umkehr von Problemen und Lösungen. In der ersten Generation ist die Differenz der unterschiedlichen Männlichkeiten oder Männlichkeitsrollen das Problem und die Einheit soll zur Lösung werden. In der zweiten Generation kehrt sich das genau um: Hier werden die unterschiedlichen Ausprägungen von Männlichkeit eben nicht mehr als historisches Zwischenstadium begriffen, sondern als immer weiter fortlaufendes und unausweichliches Produkt von Männlichkeitskonstruktionen. Man geht also davon aus: Männlichkeit ist immer divers, ist immer unterschiedlich in seinen Ausprägungen und das Problem wird dann tatsächlich, den Männlichkeiten eine Einheit zu unterstellen.

Und wer sind Vertreter:innen der zweiten Generation?

Ganz vorne mit dabei ist Raewyn Connell (Carrigan/Connell/Lee 1985; Connell 1987; Connell 1995), die gegenwärtig als Pionierin der Männlichkeitsforschung gilt, wo ich sagen würde, es ist vor allem die Pionierin der zweiten Generation. Es gibt aber auch schon Mitte der 1980er-Jahre Positionen, die auf die vielfältigen Männlichkeiten hinweisen: Das sind zum einen Harry Brod (1987) oder Jeff Hearn (1987) oder, wenn wir uns den deutschsprachigen Raum angucken, Ursula Müller und Sigrid Metz-Göckel mit einer größeren Studie (1986) , die auch schon diese Umstellung vollziehen. In der jüngsten Zeit vermehren sich die Publikationen immer stärker, es lassen sich immer weniger einzelne Positionen nennen.

Würden Sie sagen, da konstituiert sich eine dritte Generation an Forscher:innen?

Ich sehe durchaus Potenziale und Ansatzpunkte für eine dritte Generation. Eric Anderson ist bspw. sehr bekannt für das Konzept von „inclusive masculinity“ (Anderson 2009; 2018), er beobachtet vor allem in Teilen des globalen Nordens, dass Anfeindungen und Abwertungen zum Beispiel von Homosexualität durch andere Männer abnehmen, dass Männer sich auch zunehmend Themen von Fürsorge zuwenden. Aber gerade Konzepte wie „inclusive“ oder „hybrid masculinity“ (Bridges/Pascoe 2014) sind meines Erachtens nur leichte Modifizierungen, weil sie quasi immer noch dieselbe Problemstellung adressieren und auf dieselben Lösungen kommen wie alle anderen Positionen der zweiten Forschungsgeneration auch. Für eine dritte Generation müssten sich auch wieder der Problembezug und die Lösungen ändern, und das sehe ich in diesen Konzepten noch nicht realisiert.

Stattdessen beobachten Sie ja etwas anderes, nämlich, dass das mittlerweile ja recht breit aufgestellte Feld der Männlichkeitsforschung sich im Moment zwischen einer, wie Sie es nennen, Disziplinabwehr und Disziplinierung bewegt. Was können wir uns genau darunter vorstellen?

Mit Disziplinabwehr meine ich die Beobachtung, dass sich das Forschungsfeld selbst sehr selten, wenn überhaupt, als Disziplin bezeichnet oder eher ausweichende Bezeichnungen wählt. Ich kann aber feststellen, dass die Männlichkeitsforschung durchaus Aspekte von Disziplinierung aufweist, sie generiert zunehmend homogene Referenzketten. Das zeigt sich in laufend aktualisierten Handbüchern, auch an Institutionalisierungen an Hochschulen. Da hätte die Männlichkeitsforschung eigentlich jeden Grund, sich selbstbewusst als aufstrebende Disziplin zu bezeichnen. Das tut sie allerdings nicht. Der Grund dafür liegt meiner Analyse zufolge im sehr spannungsreichen Verhältnis zur Frauen- und Geschlechterforschung und ihrer Kritik: dass mit dieser Art von Forschung männliche Subjekt- und eben auch Herrschaftspositionen reifiziert und stabilisiert werden können oder dass die Forschung zu Männlichkeit die ohnehin begrenzten Ressourcen von Frauen- und Geschlechterforschung sozusagen abgraben würde. Dieser kritische Hintergrund ist als Grund zu verstehen, weshalb sich das Feld rhetorisch gegen die Disziplinzuschreibung wehrt, wodurch es sich sozusagen von seinem eigenen Untersuchungsgegenstand distanziert und auch von Assoziationen wie Machtverhältnissen, die mit ‚Disziplin‘ einhergehen.

Wo sehen Sie das Feld der Männlichkeitsforschung in Zukunft und was wären wichtige Bedingungen, um das Feld weiter zu stabilisieren und zu entwickeln?

Schon in den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass sich Publikationen weiterhin mehren, Fachzeitschriften immer wichtiger werden, aber auch ein gesamtgesellschaftliches Interesse an Deutungsangeboten zum Phänomen Männlichkeit besteht. Aus der wissenschaftlichen Perspektive wäre es für die Männlichkeitsforschung wichtig, sich dezidiert mit Theorie und Begriffsbildung auseinanderzusetzen und sich dadurch weiterzuentwickeln. Meines Erachtens eignen sich die üblichen Fragestellungen, wie man jetzt eben verschiedene Ausprägungen von Männlichkeit untersuchen kann, erkenntnistheoretisch einfach nicht sehr gut, weil man mit diesen Fragestellungen immer schon das vorfindet, was man sich vorher gedacht hat. Was ich als Soziologin sehr viel spannender fände, wäre eine Art Theorie-Tool zu entwickeln, das offen ist für Überraschungen im Feld. Wann ist Männlichkeit als eine Zuschreibungsadresse überhaupt in einem bestimmten Kontext relevant? Es ist für das Feld selber auch risikoreich, Relevanzstrukturen zu untersuchen, denn man kann ja auch darauf stoßen, dass Männlichkeit gar nicht überall und immer so relevant ist, und man kann darüber auch das Label Männlichkeitsforschung verlieren. Aber ich finde, dieses Risiko wär’s wert zugunsten von erkenntnisgenerierenden neuen Forschungswegen.

Die Dissertation von Jana Fritsche Über die Unwahrscheinlichkeit der Männlichkeitsforschung. Genealogie eines Forschungsfeldes ist 2024 in der Buchreihe Geschlecht & Gesellschaft bei Springer VS erschienen.

Literatur

Anderson, Eric. 2009. Inclusive Masculinity. The Changing Nature of Masculinities. New York: Routledge. https://doi.org/10.4324/9780203871485

Anderson, Eric und Mark McCormack. 2018. Inclusive Masculinity Theory: overview, reflection and refinement. Journal of Gender Studies 27(5), 547–561. https://doi.org/10.1080/09589236.2016.1245605

Bridges, Tristan und Cheri J. Pascoe. 2014. Hybrid Masculinities: New Directions in the Sociology of Men and Masculinities. Sociology Compass 8(3), 246–258. Zugriff am 26.04.2024 unter https://xyonline.net/sites/xyonline.net/files/Bridges%2C%20Hybrid%20masculinities%202014.pdf.       

Brod, Harry (Hrsg.). 1987. The Making of Masculinities. Boston: Allen and Unwin. https://doi.org/10.1177/072551368902400111

Carrigan, Tim, Bob Connell und John Lee. 1985. Toward a new sociology of masculinity. Theory and Society 14(5), 551–604. https://doi.org/10.1007/BF00160017

Connell, Raewyn. 1987. Gender and Power. Cambridge: Polity Press. https://doi.org/10.1177/027046768800800490

Connell, Raewyn. 1995. Masculinities. Cambridge: Polity Press. https://doi.org/10.1177/000169939603900309

Fritsche, Jana. 2024. Über die Unwahrscheinlichkeit der Männlichkeitsforschung. Genealogie eines Forschungsfeldes. Wiesbaden: Springer VS.

Hacker, Helen Mayer. 1957. The New Burdens of Masculinity. Marriage and Family Living 19(3), 227–233. https://doi.org/10.2307/348873

Hearn, Jeff. 1987. The Gender of Oppression. Men, Masculinity and the Critique of Marxism. Brighton, Sussex: Wheatsheaf. https://doi.org/10.1177/088610998900400417

Kleining, Gerhard 1959. Die Idee des ‚echten‘ Mannes in Deutschland. Psychologie und Praxis 3(2), 57–65. Zugriff am 26.04.2024 unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-9013.

Komarovsky, Mirra. 1940. The Unemployed Man and his Family. The effect of unemployment upon the status of the man in fifty-nine families. New York: Dryden Press.

Koßmann, Robby und Julius Weiß (Hrsg.). 1908. Mann und Weib. Ihre Beziehungen zueinander und zum Kulturleben der Gegenwart. Band 1. Stuttgart, Berlin, Leipzig: Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Zugriff am 26.04.2024 unter https://wellcomecollection.org/works/b7s5v6jk/items?canvas=11.

Metz-Göckel, Sigrid und Ursula Müller. 1986. Der Mann. Die Brigitte-Studie. Weinheim, Basel: Beltz. https://doi.org/10.4232/1.1509

Pleck, Joseph H. 1976. The Male Sex Role: Definitions, Problems, and Sources of Change. Journal of Social Issues 23(3), 155–164. https://doi.org/10.1111/j.1540-4560.1976.tb02604.x

Pleck, Joseph H. und Jack Sawyer (Hrsg.). 1974. Men and Masculinity. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall.

Zitation: Jana Fritsche im Interview mit Sylka Scholz: Offen für Überraschungen im Feld der Männlichkeitsforschung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 30.04.2024, www.gender-blog.de/beitrag/feld-der-maennlichkeitsforschung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240430

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Dr. Jana Fritsche

Jana Fritsche promovierte nach dem Studium der Soziologie, Politik und Gender Studies an der LMU München. Seit 2023 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Medical Education Center der TU München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissen und Wissenschaft, Subjektivierung, Geschlecht sowie qualitative Sozialforschung.

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Prof. Dr. Sylka Scholz

Sylka Scholz ist Professorin für qualitative Methoden und Mikrosoziologie an der Universität Jena. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Geschlechterforschung, insbesondere der Männlichkeitsforschung und in der Familiensoziologie.

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