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Debatte

Feminismus in postsäkularen Zeiten

07. Juni 2022 Heidemarie Winkel

Das Verhältnis von Feminismus, Religion, Säkularisierung und Säkularismus wird seit einiger Zeit neu ausgelotet (Braidotti et al. 2014; Reilly 2017). Problematisiert wird, dass religiöse Subjekte im öffentlichen Raum nicht trotz seiner säkularen Verfasstheit, sondern als deren Effekt kulturalisiert und rassifiziert werden. Gleichzeitig wird aus postkolonialer Perspektive das emanzipative Potenzial von Religion betont (Deo 2018). Aus feministischer Sicht sind Säkularisierung, also die institutionelle Trennung von Staat und Religion, und Säkularismus, verstanden als Loslösung politischer Entscheidungsgrundlagen von religiösen Legitimationskriterien, aber unabdingbare Voraussetzungen geschlechtergerechter Verhältnisse. In der Folge stellt sich die Frage, inwiefern die säkulare Epistemik feministischen Denkens einer Revision bedarf und Religion als feministische Ressource in Betracht kommt. Diese theoretische Frage wird überall dort praktisch, wo es um Möglichkeiten weltweiter Zusammenarbeit für Geschlechterrechte geht (Scheele/Roth/Winkel 2022).

Das säkulare Religionsdispositiv

Hiermit verbindet sich weder die Forderung zur Verabschiedung von einer säkularen Grundhaltung oder vom methodologischen Agnostizismus noch bedeutet es, religiöse Fundamentalismen zu trivialisieren. Vielmehr geht es darum, das säkulare Religionsdispositiv zu entziffern; also diejenigen Modi der Inspizierung von Religion in säkularen Kontexten (Amir-Moazami 2018), infolge derer religiöse Subjekte – und hier vor allem muslimische und jüdische Personen – als ‚Andere‘ problematisiert werden. Dies schließt eine kritische Reflexion des in der säkularen Optik ruhenden epistemischen Blicks ein, weil er Subjekte und Verhältnisse entlang der Differenz säkular/religiös kategorisiert und hierarchisiert, so dass auch emanzipatorisches religiöses Denken als unintelligibel gilt und ‚aus der Zeit gefallen‘ scheint.

Das in der säkularen Deutungskultur gepflegte Religionsdispositiv, wonach religiöse Frauen* und LGBTIQ-Personen qua Geschlecht und qua religiöser Zugehörigkeit eine (mindestens) zweifache Abwertung erfahren, fordert eine Neubewertung säkularistischer Grundlagen feministischer Wissensproduktion (Winkel/Poferl 2021).

Säkulare Feminist*innen und religiöse Feminismen

Wie aber werden religiöse Subjekte zu Wissensobjekten gemacht und wie entstehen dabei Repräsentationen religiöser ‚Anderer‘? Warum rückt infolge der Identifikation von Feminismus mit Säkularismus (teils) in den Hintergrund, dass die Beziehung zwischen der Institutionalisierung von Frauenrechten und Säkularismus historisch durchaus kontingent ist? Und weshalb bleibt der Beitrag religiöser Feminismen und Frauenbewegungen zur Durchsetzung von Frauenrechten weitgehend unbeobachtet? Obwohl sich beide feministische Strömungen – die säkulare und die religiöse – gleichermaßen gegen das hegemoniale Skript männlicher Macht und weiblicher Unterordnung richten, begegnen säkulare Feminist*innen religiösen Feminismen oftmals mit Vorbehalt. Dieser Vorbehalt resultiert teils aus scheinbar grundsätzlich unterschiedlichen Einstellungen zu politischen Rechten, etwa im Bereich der Körperpolitik und der sexuellen Selbstbestimmung. Wissenstheoretisch betrachtet wurzeln sie allerdings in tiefer liegenden epistemischen Dissonanzen, die aus der säkularistischen Formgebung des Skripts liberaler Rechte resultieren.

Bedingungen der Möglichkeit von Kritik

Das säkulare Selbstverständnis reagiert irritiert auf die Vorstellung, dass politische Subjektivität gleichzeitig liberal und religiös konturiert sein kann, Religion also keine hermetisch geschlossene Sinnwelt darstellt und als emanzipatorisch-kritische Ressource von Freiheits- und Gleichheitsvorstellungen fungieren kann. Die Irritation lässt sich als Effekt des dominanten immanenten Rahmens sozialer Orientierung (immanent frame) verstehen (Taylor 2007). Dieser Sinnrahmen wird allerdings als selbstverständlich gegeben erlebt und vorausgesetzt. Er stellt die paramount reality dar, unterschieden von der ‚übernatürlichen‘, nicht zuletzt von Marx als Illusion und als Ausdruck unfreier menschlicher Existenz charakterisierten transzendentalen Sinnsphäre. Die Unterscheidung dieser beiden Sinnprovinzen – die eine alles ‚überragend‘, die andere ‚übernatürlich‘ – geht mit der Auffassung einher, dass Kritik, etwa an androzentrischen religiösen Verhältnissen, an den Grundkonstanten des religiösen Sinnrahmens ansetzen muss. Aus der Sicht der Aufklärungsphilosophie und des säkular-liberalen Denkens kann dies aber nur jenseits des mystifizierenden Rahmens religiöser Denkgebäude gelingen.

Säkularität als epistemischer Ort feministischen Denkens

Säkularität, hier verstanden als Modus sozialer Orientierung und Haltung zur Welt, befördert zudem eine Disposition, die mit einem spezifischen Ethos verbunden ist, wie Judith Butler (Butler 2013, 108f.) anmerkt. Säkularität ist demnach Ausdruck einer Form der Organisation von Wissen und Wahrnehmung, die durch die Dichotomie von Religion und Säkularismus konstituiert wird. Die Frage ist, wie Säkularismus Handeln und Orientierung in der liberal-säkularen Weltsicht präfiguriert, das heißt: „how secularism functions tacitly to structure and organize our moral responses within a dominant Euro-Atlantic context“ (Butler 2013, 109). Dies mündet in eine säkulare Ontologie des Subjekts, das als vernunftbegabt und mit einem freien Willen ausgestattet imaginiert wird und nur sich selbst zu eigen sei („self-owned“, Butler 2013, 113). In dieser säkularen Ontologie sozialer Realität erscheint Religion – als die säkulare Position definierende Differenzkategorie – grundsätzlich als problematisch und religiöse Subjekte gelten als unfrei.

Die europäisch-atlantische mental map

Diese epistemischen Gegebenheiten sind Ausdruck einer partikularen Wirklichkeitskonstruktion, die in der europäischen Ideen- und Kulturgeschichte und den damit verknüpften Erfahrungen gründet; hierzu gehören etwa die verheerenden Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, aber auch die Art und Weise, in der Religion als Kategorie sozialer Abwertung Eingang in den Kolonialismus gefunden hat; etwa, wenn koloniale ‚Andere‘ ab dem 15. Jahrhundert als unzivilisierte Heiden herabgesetzt wurden. Die europäisch-atlantische mental map ist historisch betrachtet schon seit langem in das Differenzregime religiöser und säkularer Sinnmodi eingebettet; beide Sinnrahmen sind also ko-konstitutiv, und zwar bis in die Gegenwart hinein.

Diese Konstellation hat auch in religiösen Modi der Kritik Spuren hinterlassen: Historisch-kritische Interpretation und ein epistemologischer Skeptizismus gehören zum Mainstream theologischen Denkens. Liberal-emanzipatorische Positionen, z. B. feministische Theologien der Befreiung und der Frauenrechte, wie sie sich im Judentum oder im Islam finden, sind keineswegs ungewöhnlich. Aus säkular-feministischer Perspektive haben sie aber einen subalternen Status, obwohl sie – phänomenologisch betrachtet – nicht kategorial verschieden sind. Auch wenn säkular-feministische Sinnmodi ontologisch nicht mit Transzendenz rechnen, handelt es sich doch um zwei koexistente, füreinander anschlussfähige feministische Positionierungen. So gesehen hat feministisches Denken keinen spezifischen, sondern plurale epistemische Standorte, religiöse eingeschlossen (Winkel im Erscheinen).

Der Begriff des Postsäkularen

Als Effekt der epistemischen Liaison mit dem säkularen Skript setzen säkulare Feminismen im Verhältnis zu Religion oft auf maximale Distinktion und nehmen ihr gegenüber eine hegemoniale Position ein. Mit dem Begriff des Postsäkularen wird auf diese Hegemonie säkularer Sinnmodi und der hiermit verknüpften normativen Implikationen für religiöse Akteur*innen verwiesen; auch und gerade im globalen Zusammenhang, denn bürgerliche Geschlechtercodes gehör(t)en zum kolonialen Exportmodell. Dies ist keine naive Aufforderung zur Akzeptanz jedweder, etwa fundamentalistischer Positionen, sondern zielt darauf, die (unterstellte) Unvereinbarkeit von Religion und Feminismus als Ergebnis eines politischen Konflikts um symbolische Ressourcen zu verstehen (Deo 2018, 2).

Postsäkularismus adressiert weiterhin die fortdauernde Relevanz von Religion als Sinndimension und Wissenskategorie wie auch als normative Haltung und Ethos in ihren unterschiedlichsten (fundamentalistischen, konservativen und liberalen) politischen Ausprägungen weltweit, inklusive europäischer Gesellschaften. Dies schließt eine Auseinandersetzung mit kolonialer Geschichte und der Funktion der Dichotomie von Religion und Säkularismus als imperiales Wissensschema ein.

Säkularismus als normative Positionierung und als Machtkategorie

Aus postkolonialer und postsäkularer Perspektive wird dazu angeregt, Religion als politisch und intersektional relevante Differenzkategorie zu bedenken. Liberale Subjektivität wird als sozio-historisch situierter Identitätsentwurf erkennbar gemacht und es wird daran erinnert, dass die Geschichte des Säkularismus (ebenfalls) eng mit der Produktion von Geschlechterungleichheit verwoben ist; nicht nur in europäischen, sondern auch in kolonialen Kontexten, wie etwa in Südasien (Deo 2018). Säkularität garantiert keineswegs Gleichheit und sexuelle Freiheit (Braidotti 2008; Butler 2008; Scott 2017). Die ideen- und kulturgeschichtliche Verankerung des Konzepts im Sinnhorizont ‚der europäischen Moderne‘ wird – analog zum Religionsbegriff – neu gewichtet. Säkularismus wird als normative Position und als Machtkategorie erkennbar.

Säkulare und religiöse Kritik zusammendenken

Schon um 1900 entwickelten Religionsphilosophinnen wie Margarete Susmann, Edith Stein oder auch Simone Weil ein Verständnis von Religion als Ermöglichungs- und Freiheitsraum (Amirpur 2013; Klapheck 2014). Schon damals schloss dies die Möglichkeit ein, Religiosität unter säkularen Vorzeichen zu denken und zu leben, eben im Sinne koexistenter, sich gegenseitig inspirierender Sinnhorizonte.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Thema Frauenrechte und sexuelle Selbstbestimmung weltweit auch von religiösen Frauenbewegungen (neu) aufgegriffen. Dies vollzog sich im Gleichklang mit den sich als säkular verstehenden und als politisch bezeichneten Frauenbewegungen; u. a. in Form emanzipatorisch-feministischer Aneignung programmatischer Grundlagen, also des institutionalisierten theologischen Kerns; und zunehmend auch in queer-theologischer Perspektive. Ein historisch junges Beispiel ist die 2009 gegründete islamisch-feministische Organisation Musawah (Gleichheit). Sie verknüpft ihre theologische Programmatik selbstverständlich mit menschenrechtlichen Prinzipien (Mir-Hosseini 2022). Dies spricht dafür, Säkularismus nicht a priori als eine notwendige Prämisse von Kritik zu setzen, sondern Religion als eine mögliche, sinnhafte Ressource von Gleichheits- und Freiheitsvorstellungen zu berücksichtigen und beide Modi feministischen Denkens stärker zusammenzudenken. Der politische Kampf gegen autoritäre, fundamentalistische Vereinnahmungen von Religion verbindet beide – religiöse und säkulare Feminismen. 

Literatur

Amir-Moazami, Schirin (Hrsg.), 2018: Der inspizierte Muslim. Zur Politisierung der Islamforschung in Europa. Bielefeld: transcript.

Amirpur, Katajun, 2013: Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte. München: C. H. Beck.

Braidotti, Rosi, 2008: In Spite of the Times. The Postsecular Turn in Feminism. In: Theory, Culture & Society 25/6, S. 1–24.

Braidotti, Rosi; Blaagaard, Bolette; De Graauw, Tobijn und Eva Midden (Hrsg.), 2014: Transformations of Religion and the Public Sphere. Postsecular Publics. Basingstoke: Palgrave Macmillan.

Butler, Judith, 2008: Sexual Politics, Torture, and Secular time. In: British Journal of Sociology 59/1, S. 1–23.

Butler, Judith, 2013: The Sensibility of Critique. Response to Asad and Mahmood. In: T. Asad, W. Brown, J. Butler und S. Mahmood (Hrsg.), Is Critique Secular? Blasphemy, Injury and Free Speech. New York: Fordham University Press, S. 95–129.

Deo, Nandini (Hrsg.), 2018: Postsecular Feminisms. Religion and Gender in Transnational Context. London: Bloomsbury Academic.

Klapheck, Elisa, 2014: Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie. Berlin: Hentrich & Hentrich.

Mir-Hosseini, Ziba, 2022: Global Contestations over Gender Equality in Islam. On Legal Interpretation and Muslim Feminist Scholar’s Activism. In: A. Scheele, J. Roth und H. Winkel (Hrsg.), Global Contestations of Gender Rights. Bielefeld: Bielefeld University Press, S. 327–345.

Reilly, Niamh, 2017: Recasting Secular Thinking for Emancipatory Feminist Practice. In: Social Compass 64/4, S. 481–494.

Scheele, Alexandra; Julia Roth und Heidemarie Winkel (Hrsg.), 2022: Global Contestations of Gender Rights. Bielefeld: Bielefeld University Press.

Scott, Joan W., 2017: Sex and Secularism. Princeton: Princeton University Press.

Taylor, Charles, 2007: A Secular Age. Harvard: Belknap Press of Harvard University Press.

Winkel, Heidemarie, (im Erscheinen): The Many Altars of Feminism. The Secular/Religious Divide in European Feminist Thought and its Impact on the Relation to Islamic Feminism. In: Journal of African Gender Studies, hg. von Fatima Sadiqi.

Winkel, Heidemarie und Angelika Poferl, 2021: Einleitung. Eine Neubestimmung des Verhältnisses von Feminismus, Säkularismus und Religion. In: Feministische Studien 39/1, S. 3–16.

Zitation: Heidemarie Winkel: Feminismus in postsäkularen Zeiten, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 07.06.2022, www.gender-blog.de/beitrag/feminismus-in-postsaekularen-zeiten/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220607

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Prof. Dr. Heidemarie Winkel

Heidemarie Winkel ist Professorin für Soziologie an der Universität Bielefeld und Senior Research Associate am VHI der Universität Cambridge, UK. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Geschlechter- und Religionssoziologie mit einem besonderen Interesse an transkultureller Wissensproduktion und an ausgewählten arabischen Gesellschaften. Dies schließt postkoloniale Perspektiven ein.

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