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#4genderstudies

Von feministischen Season's Greetings träumen

17. Dezember 2024 Petra Lucht

Als ich heute früh noch vor dem ersten Kaffee die Nachrichtenkanäle öffne, traue ich meinen Augen und Ohren kaum.

„EILMELDUNG: Der siebte jährliche Aktionstag #4genderstudies hat dazu geführt, dass ab sofort weltweit Finanzmittel in bislang noch nie dagewesener Höhe zur Verfügung gestellt werden, um die Ergebnisse der Gender Studies in alle gesellschaftlichen Bereiche nachhaltig zu integrieren. – Stay tuned – we keep you posted!“

Das kann ich nur geträumt haben, oder? Ganz sicher bin ich noch nicht wach! Also erstmal Kaffee! Oder nicht? Ach was soll’s: Ich gönne mir noch ein Viertelstündchen länger, diesen Traum von feministischen Season's Greetings weiter zu träumen.

Im Traum …

… sind die Gender Studies, die seit den 1970er-Jahren an Hochschulen nach und nach institutionalisiert worden sind, jetzt – fünf Jahrzehnte später – in alle Fächer an den Hochschulen und in Ausbildungsberufe integriert. Die professionellen Fachkulturen aller Studienfächer und aller Berufe sind nicht mehr von geschlechter- und diversitätsbezogenen Ausgrenzungen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen geprägt. Zur Scientific Community gehören Menschen unterschiedlichster Identitäten und in heterogenen Lebenslagen selbstverständlich dazu. Nicht nur Wissenschaft, nein, alle Berufe sind jetzt intersektional geschlechterdivers geworden.

Technologien werden von Anfang an partizipativ und zusammen mit Nutzer*innen entwickelt und einer Qualitätsprüfung im Hinblick auf sozio-technische Geschlechter- und Vielfaltsdimensionen unterzogen. Es wird sichergestellt, dass heterogene Teilhabemöglichkeiten in der Wissenschaft und Technologieentwicklung berücksichtigt werden. Wirtschaftsmodelle priorisieren soziale, ökologische und politische Gerechtigkeit. Planungskonzepte sind auf die Ermöglichung von Sozialität ausgerichtet. Musik und Kunst sind nicht durch klischeehafte Genialitätsvorstellungen geprägt. Innerhalb des Ensembles werden die Rollen im Stück situativ gewechselt, um tradierte Hierarchien kontinuierlich zu durchbrechen.

Realitätscheck

Aber halt stopp, Moment mal, – „Feminismus für eine bessere Welt“ – ist das nicht naiv? Wenn die Welt so sehr von multiplen Krisen geprägt ist, wieso dann von einer besseren Welt träumen? Ist es nicht längst zu spät? „Es ist nie zu spät!“, ruft mir die Vergangenheit zu, auch wenn ich täglich aus meinem Traum gerissen werde, denn die Aufgaben auf der To-Do-Liste häufen sich unendlich – gerade jetzt, am Jahresende. Die tagtägliche Anrufung einer vermeintlichen Integration von Gender und Diversity in Wissenschaft und Technik besteht oft darin, Realitäts-Kitt produzieren zu sollen, um brüchige Welten und Realitäten „irgendwie“ wieder zusammenzukleben und so zu legitimieren. Statt unsere Zeit träumend dem Utopischen widmen zu können, werden wir – im besten Falle – mit Akzeptanzforschung und Qualitätsverbesserung beschäftigt oder gar mit dem Kitten von Rissen und Brüchen einer aus den Fugen geratenen Welt und Wissenschaft. Willkommen in der Realitätsblase! 

To-Do-Liste mal anders

Stattdessen setze ich heute auf die ‚To-Do‘-Liste und dort ganz nach oben auf Platz 1: Sich Zeit nehmen, zu träumen. Verantwortung, Sorge übernehmen jederzeit _alle_ und nicht nur einzelne wie Frauen-, Gleichstellungs- und Diversitätsbeauftrage oder Forschende der Gender Studies. Im Traum von feministischen ‚Seasons Greetings‘ wird Sorgearbeit anerkannt und geschätzt. Fürsorge wird an den Bedürfnissen von sorgenden Personen und an den Personen, für die gesorgt wird, ausgerichtet. Es geht um nichts weniger als einen Wertewandel. Und mehr noch: Wir wenden uns mit der notwendigen Fürsorge dem Globus als Ganzes zu.

Ja, ab jetzt erhalten Flora und Fauna, Ökosysteme, die Vielfalt von Tieren und Pflanzen sowie Ressourcen Zuwendung in Form von umfassender Sorgearbeit. Bereits seit einem halben Jahrhundert lässt sich von feministischen Ansätzen der Gender Studies lernen, dass eine Zerstörung der Lebensgrundlagen dieser Erde nichts Unmögliches darstellen könnte. Im Traum sind diese Analysen aus dem 20. Jahrhundert längst in die Wissenschaften aufgenommen, weiterentwickelt und integriert worden, um Macht- und Herrschaftsmechanismen über Mensch und Natur abzubauen.

Last but not least: Im Traum von feministischen ‚Season's Greetings‘ herrscht Frieden in jeglicher Hinsicht. Krieg und Gewalt als Reaktion auf Konflikte gehören der Vergangenheit an. Politik ist durch Gewaltfreiheit und Mitbestimmung gekennzeichnet. Die Sorge füreinander steht im Mittelpunkt statt Herrschaftsansinnen über Menschen, Territorien, Technologien, Ressourcen und Medien.

Dieser Traum ist ungeheuerlich!

Ist es nicht höchste Zeit, sich wieder der ‚To-Do‘-Liste zuzuwenden und Kitt für die aus den Fugen geratene Welt in der Realitätsblase zu produzieren?

Ich plädiere dafür, zum Jahreswechsel mal etwas ganz anderes zu tun: Innehalten und eine, nur eine Minute noch weiterzuträumen vom sozialen Zusammenhalt in einer heterogenen, von Vielfalt geprägten Gesellschaft, in der Fürsorge für Natur und Mensch Priorität eingeräumt werden. Es ist Zeit zu lesen. Diesmal könnten es neu aufgelegte Bücher aus den 1970ern sein: Merchants „Der Tod der Natur“ oder d’Eaubonnes „Feminismus oder Tod“.

Feministische Season's Greetings mit guten Wünschen für den Jahreswechsel und für Zeit, sich radikaler Kritik, unbedingter Utopie und queer-feministischen Projekten zu widmen!

Literatur

Merchant, Carolyn ([1980] 2020): Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft (mit einer Einführung von Christine Bauhardt). oekom. Bibliothek der Nachhaltigkeit.

D’Eaubonne, Françoise ([1974] 2022): Feminism or Death: How the Women's Movement Can Save the Planet. Verso Books. Abrufbar unter: https://ebook.yourcloudlibrary.com/library/oclc/detail/7nwpsg9.

Zitation: Petra Lucht: Von feministischen Season's Greetings träumen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 17.12.2024, www.gender-blog.de/beitrag/feministische-seasons-greetings/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20241217

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

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Prof. Dr. Petra Lucht

Petra Lucht leitet das Fachgebiet „Gender in MINT und Planung/Feminist Studies in Science, Technology and Society“ am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin. Sie konzipiert transdisziplinäre Forschungs- und Lehrprojekte in den Gender Studies, die geschlechtervielfaltsgerechte Transformationen von Fachkulturen, Wissen und Technikentwicklung zum Ziel haben. Sie lehrte und forschte an Universitäten in Deutschland, den USA und Australien.

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Kommentare

Katharina Tolle | 17.12.2024

Vielen Herzlichen Dank,

 

dieser Artikel hat mir den Tag versüßt!

 

Alles Gute für's neue Jahr -- mögen wir Veränderungen anstoßen können!

Petra Lucht | 17.12.2024

Sehr gern! :) - Danke, Katharina Tolle!

Martina Erlemann | 17.12.2024

Schönes Plädoyer! Wie ein wärmender Punsch zum Jahresende ...

Sabine Hofmeister | 18.12.2024

Vielen Dank für den schönen Beitrag, liebe Petra Lucht!

Ich teile Deinen Traum und alle guten Wünsche zum Jahreswechsel.

 

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