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Debatte

Feminizide benennen! Skizzenhaftes zu Kapitalismus und patriarchaler Gewalt

10. November 2020 Ines Höckner Carina Maier

In Österreich gibt es keine staatlichen Statistiken zu Feminiziden, also dem Mord an Frauen, inter, nichtbinären oder trans Personen (FLINT) aufgrund ihres Geschlechts. Patriarchale Gewalt, die sich spezifisch gegen inter, nichtbinäre und trans Personen richtet, ist noch weniger dokumentiert. Laut Eigenzählungen der Autonomen Frauenhäuser werden monatlich etwa drei Feminizide in Österreich verübt, wöchentlich wird einer versucht – und das sind nur die Daten, die öffentlich bekannt wurden.

Zum Begriff

Mit dem Begriff Feminizid (Feminicido) knüpfen wir an feministische Kämpfe im lateinamerikanischen Kontext an, um die strukturelle und vergeschlechtlichte Komponente dieser Gewalt zu benennen, insbesondere auch deren staatliche Dimension (vgl. Lagarde 2006). Wir analysieren Feminizide im Folgenden aus einer feministischen gesellschaftstheoretischen Perspektive und argumentieren dafür, Feminizide in einem Kontinuum patriarchaler Gewalt zu verstehen. Die Tötung stellt dabei die äußerste Form, die ‚Spitze des Eisbergs‘ dar. Zugleich möchten wir Feminizide als epistemologischen Einsatzpunkt begreifen, der einen besonderen Blick auf Gesellschaft ermöglicht und zugrundeliegende Strukturen in ihrer Intersektionalität erkennen lässt. Im Folgenden werden wir anhand von drei Aspekten auf die strukturellen Bedingungen eingehen, die patriarchale Gewalt in Form von Feminiziden gesellschaftlich verankern und reproduzieren.

Die Beherrschbarkeit weiblich gelesener Körper

Ein Aspekt ist die Abwertung bestimmter Körper im Kapitalismus. So bauen kapitalistische bürgerlich-demokratische Gesellschaften, wie wir sie heute kennen, auf einer Trennung von Arbeit in eine (zumeist entlohnte) produktive und eine (nicht oder wenig entlohnte) reproduktive Sphäre auf, sowie auf einer gewaltvoll hergestellten heteronormativen Geschlechterordnung in zwei Geschlechter(-Normen), die jeweils einer der Sphären zugewiesen werden. Weiblich gelesene Körper sind dabei nicht nur als der ‚Natur näherstehend‘ konstruiert worden. Sie und ihre (re)produktive Arbeit wurden gleichsam analog zur Natur abgewertet und zur natürlichen Ressource erklärt. Für die Durchsetzung des Kapitalismus war die Disziplinierung und Zurichtung nicht fügsamer weiblicher Arbeitskraft und Körper also zentral, was bis zur Verfolgung und Vernichtung als Hexe reichte (vgl. Federici 2012).

Auf dieser strukturellen Abwertung baut auch das patriarchale Selbstverständnis in der gegenwärtigen österreichischen Gesellschaft auf. (Cis-)Männlichkeit gründet nach wie vor auf der Vorstellung eines ‚quasi natürlichen‘ Anspruchs auf Autorität, Autonomie, Souveränität und Rationalität – und damit verbunden der freien Verfügung über weiblich gelesene Körper. Queere und rassifizierte Körper stellen dieses Selbstverständnis in besonderer Weise in Frage oder irritieren es, da sie bspw. den westlich-patriarchalen Eroberungsgedanken bedrohen oder als nicht-heterosexuell begehrender oder trans Körper die Vorstellung von einer Verfügbarkeit weiblich gelesener Körper für Cis-Männer infrage stellen. Patriarchale Männlichkeit wird dann, ob der eigenen Instabilität, durch Objektivierung, Exotisierung oder Sexualisierung weiblich gelesener, queerer und rassifizierter Körper gewaltvoll wiederhergestellt. Feminizide müssen als extremer Ausdruck dieses Dominanzbestrebens verstanden werden, das in der totalen Auslöschung mündet. Auslöschung bedeutet, zumindest für den Moment, totale Dominanz.

Die Gewalt der bürgerlichen Kleinfamilie

Ein weiteres Element, das in seiner strukturellen und ideologischen Verankerung analysiert werden muss, ist die bürgerliche Kernfamilie, welche die gesellschaftliche Trennung in öffentlich und privat strukturiert und stabilisiert. Als Institution und Ideal ist sie ein historisch spezifisches, modernes patriarchales Konzept, das hierarchische Geschlechterverhältnisse gesellschaftlich etabliert und rechtlich absichert. Dabei ist die Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit als Norm, die mit heterosexuellem Begehren verbunden ist, ein ideologischer Grundpfeiler. Auch die spezifische Existenz der bürgerlichen Frau – als passive, versteckte, auf Privatheit und Reproduktionsarbeit reduzierte – wurde zur wichtigsten Legitimationsgrundlage für die Existenz des bürgerlichen Mannes als ihr Ernährer und Beschützer (vgl. Hausen 1976). Zusätzlich stehen Ehe und Familie unter besonderem staatlichen Schutz, der hierarchische Geschlechterrollen bis heute stabilisiert.

​​​​​​​Wenn also von Feminiziden gesprochen wird und patriarchale Gewalt gegen FLINT Personen benannt werden soll, muss die Institution der bürgerlichen Kernfamilie als Teil des Problems analysiert werden. Nicht das Scheitern, sondern die Idealisierung der bürgerlichen Kernfamilie als rein, harmonisch und gewaltfrei nimmt eine zentrale Rolle in der Reproduktion patriarchaler Strukturen ein. Die Stilisierung der Familie als Grundpfeiler der (völkisch gedachten) Nation sowie als Absicherung einer moralischen Ordnung erfährt nicht zufällig gerade jetzt eine Aufwertung in öffentlichen Diskursen und autoritärer, rechter Politik.

Der Nationalstaat und sein notwendiges ‚Äußeres‘

Außerdem ist die Ebene des (National-)Staates für eine intersektionale materialistische Analyse von Feminiziden unerlässlich. Der moderne (National-)Staat ist ein westliches Konstrukt, das auf einer gewaltvollen kolonialen Geschichte gründet, sowie auf der rassistischen Vorstellung eines ethnisch homogenen, weißen Volkskörpers, der nach außen wie innen abgegrenzt werden muss. Der Nationalismus kultiviert dabei den „Fetisch einer nationalen Identität“ (Balibar 2014: 69), die in der Geschichte ‚des Westens‘ als aufgeklärt, zivilisiert und maskulin imaginiert wird, und damit nicht nur (kolonial)rassistisch, sondern auch zutiefst vergeschlechtlicht ist. Das national hergestellte ‚Wir’ soll in Nation und Volk aufgehen, mit der heterosexuellen Familie als Reproduktionszelle ‚des Volkes‘ und der ‚Frau‘ als Mutter der Nation.

Als Herrschaftsformation im Kapitalismus organisiert der (National-)Staat zudem die Reproduktion kapitalistischer Produktionsverhältnisse entlang von Klasse, Geschlecht oder race, indem er die Trennung von öffentlich und privat absichert, die geschlechterspezifische, neokoloniale (internationale) Arbeitsteilung organisiert und staatsbürgerliche Rechte exklusiv verteilt. Die liberale Vorstellung, dass der Staat Gleichheit garantiert und einen einheitlichen ‚Volkswillen‘ repräsentiert (‚der Staat sind wir‘), ist ein nie eingelöster Mythos, der die Ungleichheit verschleiert, die er etabliert.

Feminizide stellen das nationale westliche Selbstverständnis einer aufgeklärten, heroischen Identität infrage. Um es aufrecht zu erhalten, ist die Konstruktion eines ‚Außen‘ notwendig, das durch eine lange koloniale wie faschistische Tradition geprägt ist. Das eigene patriarchale Gewaltverhältnis wird dabei auf rassistisch definierte ‚Andere‘ projiziert. Über eine Sexualisierung der ‚Anderen‘ wird zudem an ein kollektives Gedächtnis angeknüpft, das seine historischen Vorläufer bereits in der Darstellung einer spezifisch jüdischen Männlichkeit oder einer Hypersexualisierung von Kolonialisierten hat (vgl. AK Fe.In 2019). Die rassistische Vereinnahmung scheinbar progressiver Forderungen nach „mehr Schutz für Frauen“ ermöglicht es, ‚eigene‘ patriarchale, rassistische und sexistische Rollenbilder nicht hinterfragen zu müssen.

Entnennung von gewaltvollen Verhältnissen

Feminizide müssen also im Kern kapitalistischer bürgerlich-liberaler Gesellschaften verortet werden. Einerseits sind sie Ausdruck eben dieser Gesellschaftsstruktur, andererseits erfüllen sie in ihrem Unterdrückungscharakter eine Funktion in deren Aufrechterhaltung. In zahlreichen lateinamerikanischen Ländern wurde durch feministische Kämpfe der Begriff Feminizid als Strafbestand institutionell verankert. In der österreichischen Rechtsprechung wie auch in politischen und medialen Debatten wird er aber weitgehend ignoriert. Immer noch ist von ‚Beziehungsdrama‘ oder einem ‚importierten Problem‘ die Rede, was die Gewalt verharmlost und sie als voneinander isolierte ‚Einzeltaten‘ losgelöst von gesellschaftlicher Realität behandelt. Das eigentliche Problem, das dahinterstehende patriarchale Gewaltverhältnis, wird auf andere Ursachen verschoben und nicht benannt. Diese Entnennung ist aber kein Zufall. Sie erfüllt eine ideologische Funktion: Die Reproduktionsmechanismen von Gewaltverhältnissen werden dadurch entthematisiert und entpolisiert und als quasi naturhafte, unveränderbare Realität dargestellt. Es gilt, jene historisch gewachsenen Strukturen sichtbar zu machen, die für die Aufrechterhaltung patriarchaler Gewaltverhältnisse funktional sind. Entgegen einer Individualisierung und Isolierung dieser Taten hat die Benennung des strukturellen Zusammenhangs als Feminizid das Ziel, eine kollektive, politische Bearbeitung und Praxis zu ermöglichen.

Literatur

AK Fe.In (2019): Frauen*rechte und Frauen*hass. Antifeminismus und die Ethnisierung von Gewalt. Berlin: Verbrecher Verlag.

Balibar, Étienne (2014): Rassismus und Nationalismus. In: Balibar, Étienne/Wallerstein, Immanuel (Trans.): Rasse, Klasse, Nation: ambivalente Identitäten (3. Aufl., S. 49–86). Hamburg: Argument Verlag.

Federici, Silvia (2012): Canibal und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Wien: Mandelbaum.

Hausen, Karin (1976): Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, Werner (Hg): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas: neue Forschungen (S. 363–393). Stuttgart: Klett.

Lagarde, Marcela y de los Ríos (2006): Del femicidio al feminicidio. Desde jard. Freud (6), 216–225. http://repositorio.ciem.ucr.ac.cr/jspui/bitstream/123456789/9/3/RCIEM002.pdf [Zugriff am 09.10.2020].

Zitation: Ines Höckner, Carina Maier: Feminizide benennen! Skizzenhaftes zu Kapitalismus und patriarchaler Gewalt, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 10.11.2020, www.gender-blog.de/beitrag/feminizide-benennen-kapitalismus-und-patriarchale-gewalt/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20201110

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Ines Höckner

Ines Höckner hat Internationale Politik (CEU) und Internationale Entwicklung (Universität Wien) studiert und arbeitet zu materialistischen queer-feministischen Perspektiven auf autoritären Populismus und Neoliberalismus sowie zu feministischen intersektionalen Perspektiven auf Krise. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind patriarchale Gewalt und Feminizide sowie diskriminierungskritische und feministische Bildungsarbeit.

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Carina Maier

Carina Maier studierte Politikwissenschaft und Sozioökonomie in Wien und Bordeaux. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Projekt D.O.T. (Ludwig Boltzmann Gesellschaft) und als Lehrende an der Universität Wien und am FH Campus Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind feministische Theorien, Antifeminismus, Kritische Gesellschaftstheorie, Feministische Politische Ökonomie, Theorien zu Beziehungen und Body Politics. Sie ist Mitglied des feministischen Theoriekollektivs fe.ory.

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