26. November 2024 Celina Letzner
Der 25. November erinnert jährlich an die allgegenwärtige Gewalt gegen Frauen. Im Jahr 2023 wurden in Deutschland insgesamt 938 Frauen und Mädchen Opfer von (versuchten oder vollendeten) Tötungsdelikten, 360 Frauen und Mädchen wurden Opfer vollendeter Taten (Bundeskriminalamt 2024: 37). 80,6 % der versuchten oder vollendeten Tötungsdelikte stehen unmittelbar im Zusammenhang mit partnerschaftlichen Beziehungen (Bundeskriminalamt 2024: 38). Es lässt sich vermuten, dass die Dunkelziffer der Versuche weit höher liegt. Femizide – Morde an Frauen aufgrund ihres Geschlechts – stellen die extremste Form patriarchaler Gewalt dar. Es handelt sich um Verbrechen, die nicht isoliert, sondern im Kontext tief verwurzelter gesellschaftlicher Machtstrukturen und kultureller Normen verstanden werden müssen.
Eine tödliche Konsequenz patriarchaler Gewaltstrukturen
Femizide sind keine individuellen Tragödien, sondern Symptom einer tief verwurzelten und strukturellen Gewalt, die sich gegen Frauen richtet. Während der Begriff als Bezeichnung für die Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts schon 1976 von der Soziologin Diane Russell (2011) eingeführt wurde und sich durch die Veröffentlichung von Femicide: the politics of woman killing (Radford & Russell 1992) zu etablieren begann, bleibt die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Phänomen bis heute oberflächlich. Es fehlt ein tieferes Verständnis dafür, dass Femizide keine „Beziehungsdramen“ sind, sondern Ausdruck eines patriarchalen Machtgefälles, das in vielen Gesellschaften fortbesteht.
Insbesondere in heterosexuellen Partnerschaftsbeziehungen zeigt sich diese Gewalt oft als finale Eskalation eines langanhaltenden Kreislaufs von Kontrolle, Demütigung und/oder psychischer wie physischer Misshandlung. Statistisch gesehen wird ein Großteil der Femizide von (Ex-)Partnern begangen (UNODC & UN Women 2022: 12), aktuelle Zahlen aus Deutschland untermauern dies: Laut dem Bundeskriminalamt wurde 2023 nahezu jeden Tag eine Frau Opfer eines Femizids (Bundeskriminalamt 2024: 37). Dies ist kein isoliertes Phänomen, sondern spiegelt eine globale Realität wider, die durch ungleiche Geschlechterverhältnisse befeuert wird. Doch die Anerkennung von Femiziden als geschlechtsspezifische Gewalt bleibt rechtlich und politisch eine Herausforderung. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, existiert weder eine eigene Kategorie für diese Verbrechen in der Strafverfolgung noch eine umfassende Präventionsstrategie.
Ursachen und Dynamiken von Partnerschaftsgewalt: Ein komplexes Zusammenspiel
Partnerschaftsgewalt ist ein vielschichtiges Phänomen, das aus einer Vielzahl von Ursachen resultiert. Um ein umfassenderes Verständnis zu entwickeln, ist es notwendig, individuelle wie auch gesellschaftliche Faktoren zu betrachten.
Ein zentraler Aspekt ist das bestehende Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, das tief in gesellschaftlichen Strukturen verankert ist. Diese Strukturen fördern stereotype Geschlechterrollen, die Männer oft als dominant und Frauen als untergeordnet darstellen. Solche Einstellungen werden nicht nur durch gesellschaftliche Normen, sondern auch durch Medien, Erziehung und das soziale Umfeld verstärkt.
Ökonomische Faktoren sind dabei nicht zu vernachlässigen: Finanzielle Abhängigkeiten können Frauen in gewalttätigen Beziehungen festhalten. Hier seien kurz der Gender Pay Gap, der Gender Care Gap sowie der Gender Pension Gap erwähnt. Miteinander verschränkt bilden sie die Grundlage einer finanziellen Abhängigkeit der Frau vom Mann und daraus resultierender geschlechtsspezifischer Altersarmut – ein Kreislauf, dem nur schwer zu entkommen ist.
Ein weiterer Aspekt ist das Fehlen von effektiven Schutzmechanismen: In vielen Ländern sind die rechtlichen Rahmenbedingungen unzureichend, um Opfer von Partnerschaftsgewalt zu schützen. Zudem fehlt es oft an gesellschaftlicher Sensibilität, was sich beispielsweise in der noch immer verbreiteten Tendenz zeigt, den betroffenen Frauen die Schuld zuzuweisen, wenn sie ihre gewalttätigen Partner nicht verlassen. Solche Haltungen, auch als „Victim Blaming“ bezeichnet, verfestigen nicht nur patriarchale Strukturen, sondern erschweren es den Frauen zusätzlich, sich aus gewalttätigen Beziehungen zu befreien.
Gesetzliche Maßnahmen
In der medialen Berichterstattung werden Femizide häufig auf Einzeltaten reduziert, ohne auf die dahinterstehenden strukturellen Ursachen einzugehen. Dadurch verbleibt der Fokus häufig auf den Taten selbst, ohne dass eine umfassende gesellschaftliche Debatte über die Ursachen von Partnerschaftsgewalt angestoßen wird. Es fehlen langfristige, tiefgreifende gesellschaftliche Reaktionen, die Femizide als strukturelles Problem thematisieren.
Dennoch sind in Deutschland einige wenige, aber dennoch wichtige gesetzliche Schritte zur Bekämpfung von Partnerschaftsgewalt und Femiziden bereits erfolgt, wie das Gewaltschutzgesetz von 2002, das es Opfern ermöglicht, richterlich angeordnete Kontakt- und Näherungsverbote zu erwirken (§ 1 GewSchG). In der Praxis zeigt sich jedoch, dass diese Maßnahmen häufig nicht ausreichend umgesetzt werden. Es mangelt an einer konsequenten Durchsetzung der Schutzmaßnahmen (Frauenhauskoordinierung e. V. 2006).
Ein weiterer Meilenstein ist die Reform des Sexualstrafrechts im Jahr 2016, mit der das Prinzip „Nein heißt Nein“ gesetzlich verankert wurde (§ 177 StGB). Dies hat die rechtliche Handhabe in Fällen sexueller Gewalt erheblich gestärkt, doch die Realität zeigt, dass gerade bei häuslicher Gewalt und Femiziden solche Schutzinstrumente oft nicht früh genug greifen. Die Tatmotive werden oft verharmlost, statt sie als Auslöser geschlechtsspezifischer Gewaltverbrechen zu klassifizieren. Eine rechtliche Anerkennung von Femiziden als solche könnte helfen, das strukturelle Problem gezielt adressieren und so besser bekämpfen zu können. Einen wichtigen Beitrag in diesem Bereich leistet die diesjährige Preisträgerin des Rita-Süßmuth-Forschungspreises Jara Streuer mit ihrer Dissertation „Feminizid - Diskursbegriff, Rechtsbegriff, Völkerstrafrechtsbegriff“, in welcher sie den Begriff aus diskursiver, rechtlicher und völkerstrafrechtlicher Perspektive analysiert, um die komplexen Zusammenhänge zwischen geschlechtsspezifischer Gewalt, sozialem Diskurs und rechtlicher Anerkennung aufzuzeigen.
Prävention und Hilfsangebote
Die bestehenden Hilfsangebote in Deutschland, wie das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“, bieten eine wichtige erste Anlaufstelle. Dieses Beratungsangebot, das rund um die Uhr und in 18 Sprachen verfügbar ist, kann Frauen niedrigschwellige und anonyme Hilfe bieten (Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben o. J.). Allerdings lässt sich aufgrund des gesellschaftlichen Stigmas wie des erläuterten „Victim Blamings“ oder einer bestehenden finanziellen Abhängigkeit vermuten, dass viele Frauen nicht die Mittel oder die Möglichkeiten haben, sich an diese Hilfsangebote zu wenden.
Frauenhäuser sind ein weiteres zentrales Element der Hilfsinfrastruktur. Trotz ihrer Bedeutung stoßen sie häufig an ihre Kapazitätsgrenzen. Laut Frauenhauskoordinierung e. V. sind viele Einrichtungen chronisch unterfinanziert, zudem fehlt es an rund 14.000 Frauenhausplätzen. Die wenigsten der bestehenden sind barrierefrei, außerdem müssen „[z]ahlreiche Einrichtungen […] ihre Finanzierung […] jedes Jahr neu erstreiten und sind zu einem erheblichen Anteil von Spenden abhängig“ (Frauenhauskoordinierung e. V. 2022).
Während gesetzliche Maßnahmen und Notfallhilfe wichtig sind, bleibt Prävention der Schlüssel zur langfristigen Bekämpfung von Partnerschaftsgewalt und Femiziden. Ein zentraler Ansatzpunkt ist die Veränderung gesellschaftlicher Normen und Geschlechterrollen. Initiativen zur Geschlechtergleichstellung, die bereits in der Schule beginnen, sind essenziell, um diese tiefsitzenden Strukturen zu verändern.
Verantwortung und Handlungsbedarf
Obwohl in Deutschland bereits Fortschritte bei gesetzlichen Maßnahmen und Hilfsangeboten erzielt wurden, zeigt sich, dass dies nicht ausreicht, um Femizide zu verhindern. Die Prävention von Partnerschaftsgewalt muss über Strafverfolgung und Schutzmaßnahmen hinausgehen. Notwendig ist eine fundamentale Veränderung in den sozialen und kulturellen Normen, die Gewalt und Kontrolle in Partnerschaften begünstigen.
Geschlechterrollen müssen hinterfragt und aufgebrochen werden, um langfristig eine Gesellschaft zu ermöglichen, in der Frauen frei von Angst und Gewalt existieren können. Femizide sind letztlich das sichtbare Symptom einer gesellschaftlichen Krise: patriarchale Strukturen, die ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern aufrechterhalten und Gewalt gegen Frauen normalisieren. Es liegt in der Verantwortung aller, aktiv gegen Gewalt an Frauen einzutreten und Solidarität zu zeigen – nicht nur am 25. November, sondern jeden Tag.
Literatur
Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (o. J.): Das Hilfetelefon – Angebot im Überblick. Verfügbar unter: https://www.hilfetelefon.de/das-hilfetelefon/angebot-im-ueberblick.html (letzter Zugriff: 12.10.2024).
Bundeskriminalamt (2024): Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten. Bundeslagebild 2023. Verfügbar unter: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/StraftatenGegenFrauen/StraftatengegenFrauenBLB2023.pdf?__blob=publicationFile&v=8 (letzter Zugriff: 22.11.2024).
Frauenhauskoordinierung e. V. (2006): Auswertung der Evaluation des Gewaltschutzgesetzes sowie einer Telefonumfrage unter Frauenhausmitarbeiterinnen und Konsequenzen. Verfügbar unter: https://www.frauenhauskoordinierung.de/fileadmin/redakteure/Publikationen/Fachinformationen/AuswGewSchG.pdf (letzter Zugriff: 12.10.2024).
Frauenhauskoordinierung e. V. (2022): Pressemeldung zum 20-jährigen Jubiläum von Frauenhauskoordinierung e. V. (FHK). Verfügbar unter: https://www.frauenhauskoordinierung.de/aktuelles/detail/pm-20-jahre-frauenhauskoordinierung (letzter Zugriff: 12.10.2024).
Gesetz zum zivilrechtlichen Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen (Gewaltschutzgesetz - GewSchG). Verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gewschg/BJNR351310001.html (letzter Zugriff: 12.10.2024).
Radford, Jill & Russell, Diana E. H. (1992): Femicide: the politics of woman killing. New York: Twayne; Toronto: Maxwell Macmillan Canada; New York: Maxwell Macmillan International.
Russell, Diana (2011): The Origin and Importance of the Term Femicide. Verfügbar unter: https://www.dianarussell.com/origin_of_femicide.html (letzter Zugriff: 10.10.2024).
Strafgesetzbuch (StGB) § 177 Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung. Verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__177.html (letzter Zugriff: 12.10.2024).
Streuer, Jara (2023): Feminizid - Diskursbegriff, Rechtsbegriff, Völkerstrafrechtsbegriff. Nomos: Baden Baden. https://doi.org/10.5771/9783748939399
United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) & United Nations Entity for Gender Equality and the Empowerment of Women (UN Women) (2019): Gender-related killings of women and girls (femicide/feminicide): Global estimates of female intimate partner/family-related homicides in 2022. Verfügbar unter: https://www.unwomen.org/sites/default/files/2023-11/gender-related-killings-of-women-and-girls-femicide-feminicide-global-estimates-2022-en.pdf (letzter Zugriff: 10.10.2024).
Zitation: Celina Letzner: Femizide als gesellschaftliches Versagen: Partnerschaftsgewalt im Fokus, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 26.11.2024, www.gender-blog.de/beitrag/femizide-als-gesellschaftliches-versagen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20241126
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