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Forschung

Flexibel und selbstbestimmt? Wie Jugendliche vergeschlechtlichte Subjekte werden

20. Oktober 2020 Judith Conrads

Anything goes – dieses Motto scheint für viele Jugendliche gegenwärtig in Bezug auf Geschlecht zu gelten. So jedenfalls ein Befund aus meiner empirischen Studie, in der vergeschlechtlichte Subjektformungen junger Menschen untersucht werden (Conrads 2020). Doch ein näherer Blick auf die Ergebnisse zeigt, dass es ganz so einfach nicht ist. Vielmehr spiegeln sich gesellschaftliche Ambivalenzen wider, die aus paradoxen „Un/Gleichzeitigkeiten im Geschlechterverhältnis“ (Rendtorff/Riegraf/Mahs 2019) rühren. So finden sich einerseits eine weitgehend durchgesetzte Gleichheitsnorm und eine verbreitete Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Dem stehen andererseits anhaltende geschlechtsbasierte Ungleichheiten und Diskriminierungen sowie stereotype und heteronormative Geschlechterbilder gegenüber. Wie können diese Dynamiken empirisch erfasst und theoretisch eingeordnet werden?

Dekonstruktion von Geschlecht und Subjekt

Ein diskursorientierter Blick auf die Geschlecht- und Subjektwerdung junger Menschen liefert im Rahmen der Studie Antworten. Gruppendiskussionen mit Jugendlichen bilden die empirische Grundlage, da gerade die Jugendphase als „Möglichkeitsraum“ (King 2013: 26) gilt, in dem individuelle Lebens- und Selbstentwürfe entwickelt werden. Methodologisch neu ist, Gruppendiskussionen selbst als Orte der Subjektkonstitution zu betrachten, in denen Subjektivierungsprozesse empirisch beobachtbar werden (vgl. auch Geipel 2019). Auf diese Weise lassen sich Mechanismen herausarbeiten, durch die sich junge Menschen innerhalb des skizzierten gesellschaftlichen Kontexts zu vergeschlechtlichten Subjekten konstituieren. Dabei werden Machtwirkungen sichtbar, die zur Ausformung bestimmter Subjekte und zum Ausschluss anderer führen.

Geschlechtliche Selbstverhältnisse zwischen Autonomie und Mäßigung

Flexibilität, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung – damit lassen sich die Diskurse umreißen, in denen die Jugendlichen Geschlecht und Selbst verarbeiten. Sie beziehen sich auf die eigene Geschlechtlichkeit als einen autonom verfügbaren Teil des Selbst. Das bedeutet, dass erstens eine flexible geschlechtliche Gestaltbarkeit angenommen wird, die sich weniger an körperlichen Merkmalen als an einem im Inneren verorteten Geschlechtskern orientiert. Zweitens setzen die Jugendlichen ihre Entscheidungs- und Handlungsfreiheit als diskursive Grundlage, die einen selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Geschlechtlichkeit und Sexualität ermöglicht. Damit geht drittens das Ziel einher, sich geschlechtlich selbst zu verwirklichen, also das eigene Leben und den eigenen Körper im Einklang mit dem inneren Ich zu gestalten. Zugleich wird aber viertens permanent maßgenommen und anhand impliziter oder expliziter Maßstäbe in Bezug auf Geschlecht bewertet, wodurch sich der Handlungs- und Möglichkeitsraum anerkannter Subjektpositionen einschränkt. Das Zusammenwirken dieser vier Dimensionen bezeichne ich als geschlechtliche Selbstregulierung. Unter Rückgriff auf Michel Foucault (2009) lässt sich damit der Prozess fassen, in dem sich vergeschlechtlichende Techniken der Fremd- und Selbstregierung im Subjekt treffen – und auf diese Weise eben jenes Subjekt überhaupt erst formen. Dies verläuft nicht reibungslos, sondern reproduziert vielmehr die gesamtgesellschaftlichen Spannungen, wie sich an zentralen Beobachtungen zeigt.

Möglichkeitsräume für Vielfalt und Gleichberechtigung

Der Rekurs auf individuelle Autonomie eröffnet zunächst Räume für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. So lassen sich etwa in den Diskussionen vereinzelt Subjektpositionierungen jenseits von Zweigeschlechtlichkeit finden, die innerhalb der Gruppen auch Anerkennung erfahren. Im Rahmen von Alltagsbeschreibungen beziehen sich die Jugendlichen auf vielfältige geschlechtliche Selbstverhältnisse, was auf einen erweiterten Diskursraum schließen lässt. Auch polarisierte (Zwei-)Geschlechterverhältnisse mit begrenzten Handlungsräumen für Frauen und Männer werden mit Blick auf eine selbstbestimmte Lebens- und Selbstführung hinterfragt. Immer wieder heben die Jugendlichen die individuelle Entscheidungsfreiheit hervor und betonen die Toleranz gegenüber verschiedenen geschlechtlichen und sexuellen Seinsweisen. Hier werden also Verschiebungen und Öffnungen der Geschlechterordnung erkennbar.

Hetero-advokatorische Toleranz und die Anderen

Allerdings lässt sich in diesen Toleranzbekundungen eine Tendenz ausmachen, die als Vermischung von Ideal und Status quo bezeichnet werden kann. Denn die proklamierte Anerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt wird als gesamtgesellschaftlich bereits erreicht gesehen. Von einer ‚komfortablen‘ Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit aus appellieren viele der Jugendlichen an vielfältige geschlechtliche und sexuelle Selbstverwirklichung – alle sollen (leben), wie sie wollen. Dabei ignorieren sie den Umstand, dass eben nicht alle (leben) können, wie sie wollen, was die Artikulation weiterhin bestehender Diskriminierungen – wie auch vorhandener Privilegien – vielfach erschwert. Mit dieser, wie ich es nenne, hetero-advokatorischen Toleranz werden anhaltende Hierarchien verdeckt, die für unterschiedliche Subjektpositionen auf unterschiedliche Weise handlungsbegrenzend wirken. Zugleich wird mit der Zuschreibung von Toleranzbedürftigkeit eine anhaltende viktimisierende Ver-Anderung vollzogen, wie sich etwa in der Aussage von Diskussionsteilnehmerin Franziska andeutet: „Ich bin halt wirklich ‘n total offener Mensch, also ich hab auch wirklich alles in meinem Freundeskreis halt auch von Homosexuellen und all so was“. Die heteronormative Zweigeschlechterordnung als Maßstab bleibt so weitgehend unangetastet. Mehr noch: Gerade die Anderen sind, so lässt sich mit Judith Butler folgern, für den über Differenzierungen verlaufenden Prozess der Subjektivierung grundlegend (Butler 1993). Sie ‚beweisen‘, dass vielfältige geschlechtliche und sexuelle Seinsweisen grundsätzlich lebbar sind. Im Umkehrschluss werden auch Subjektpositionierungen innerhalb heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit, die im Reflexivwerden von Geschlecht ebenfalls unter Legitimationsdruck geraten, als individuelle Entscheidung gerahmt und anerkannt.

Stabilisierung polarisierter Zweigeschlechtlichkeit

Doch gerade der Rekurs auf die individuelle Wahlfreiheit führt nicht zuletzt zu einer Verschärfung von bipolar strukturierten Geschlechterhierarchien: Indem geschlechts(stereo)typische Subjektformierungen als kontingente Ausprägung individueller Vorlieben gerahmt werden, ‚müssen‘ strukturelle Erklärungsmuster nicht herangezogen werden. Polarisierte Zweigeschlechtlichkeit wird so nicht im Kontext einer gesellschaftlichen, hierarchischen Geschlechterordnung diskutiert, sondern als individueller Ausdruck des Selbst (vgl. auch Speck 2018). Parallel zu dieser individualisierenden De-Thematisierung von Geschlecht lässt sich paradoxerweise zugleich eine Naturalisierung von Geschlechterdifferenzen erkennen. Immer wieder wird die Fortpflanzung als biologische Letztbegründung für eine komplementäre Zweigeschlechterordnung angeführt. Die fürsorgende Mutter und der erwerbsarbeitende Vater zeichnen sich vor diesem Hintergrund als naturhafte Subjektfiguren mit entsprechend vorkonturierten Handlungsräumen ab. Beide Dynamiken, Individualisierung und Naturalisierung, haben zur Folge, dass Hinterfragungen von geschlechtsbasierten Ungleichheiten erschwert und Geschlechterhierarchien aufrechterhalten werden.

Zwischen individueller Autonomie und strukturellen Ungleichheiten

Die aufgezeigten Reibungspunkte machen die Ambivalenzen vergeschlechtlichter Subjektwerdung deutlich. Flexibel, selbstbestimmt und selbstverwirklicht – so entwerfen die Jugendlichen sich und ihr Geschlecht. Demnach hat jeder Mensch die eigene Geschlechtlichkeit selbst in der Hand. Das bedeutet zugleich aber auch: Jede_r ist für die eigene Geschlechtlichkeit verantwortlich – und wer diese nicht erfolgreich ausgestaltet, ist folglich ‚selbst schuld‘ (vgl. auch Hark/Villa 2010). Das gilt in dieser Lesart für Eltern (und noch immer in erster Linie Mütter), die an Vereinbarkeitsherausforderungen ‚scheitern‘, genauso wie für homosexuelle Menschen, die kein Coming-out ‚wagen‘ – vor dem Hintergrund prinzipiell angenommener Machbarkeit muss ein individuelles Versagen dahinterstecken. Tendenziell werden so gesellschaftliche Machtverhältnisse unsichtbar gemacht, die individuelle Handlungsmöglichkeiten in strukturelle Ungleichheiten einbetten. Gegenwärtige Subjektwerdung vollzieht sich also für alle Jugendlichen in einem Spannungsfeld widersprüchlicher Diskurse. Zugleich wird aber deutlich, wie die hierarchisierte Positionierung von vergeschlechtlichten Subjekten im gesellschaftlichen Machtgefüge mit unterschiedlichen Dramatisierungsgraden und Handlungsräumen verbunden ist. Vergeschlechtlichte Subjektivierung erweist sich als Prozess, in dem über den Modus der geschlechtlichen Selbstregulierung die Ambivalenzen gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse auf individueller Ebene subjektiv spürbar und analytisch sichtbar werden.

Das Buch von Judith Conrads „Das Geschlecht bin ich. Vergeschlechtlichte Subjektwerdung Jugendlicher“ ist 2020 in der Reihe Geschlecht & Gesellschaft bei Springer VS erschienen.

Literatur

Butler, Judith (1993): Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der „Postmoderne“. In Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell & Nancy Fraser, Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart (S. 31–58). Frankfurt a. M.: Fischer.

Conrads, Judith (2020): Das Geschlecht bin ich. Vergeschlechtlichte Subjektwerdung Jugendlicher (Geschlecht und Gesellschaft Bd. 76). Wiesbaden: Springer VS.

Foucault, Michel (2009): Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Geipel, Karen (2019): Diskurs- und Subjektivierungstheorie meets Gruppendiskussionen: methodologische Überlegungen zu einer neuen Verbindung. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 20(2), Art. 20. Zugriff am 04.10.2020 unter https://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/3195/4410.

Hark, Sabine & Villa, Paula-Irene (2010): Ambivalenzen der Sichtbarkeit – Einleitung zur deutschen Ausgabe. In Angela McRobbie: Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes (S. 7–16). Wiesbaden: Springer VS.

King, Vera (2013): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.

Rendtorff, Barbara; Riegraf, Birgit & Mahs, Claudia (Hg.) (2019): Struktur und Dynamik – Un/Gleichzeitigkeiten im Geschlechterverhältnis. Wiesbaden: Springer VS.

Speck, Sarah (2018): Autonomie, Authentizität, Arbeitsteilung – Paradoxien der Gleichheit in modernen Geschlechterarrangements. WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 15(1), 21–44.

Zitation: Judith Conrads: Flexibel und selbstbestimmt? Wie Jugendliche vergeschlechtlichte Subjekte werden, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 20.10.2020, www.gender-blog.de/beitrag/flexibel-und-selbstbestimmt/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20201020

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Prof. Dr. Judith Conrads

Judith Conrads ist Professorin für Soziologie im Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW), Abteilung Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Analyse von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen, Geschlechtersoziologie, Subjektivierungsforschung und qualitativen Forschungsmethoden.

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