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Flucht im Fokus. 10th European Feminist Research Conference in Göttingen

11. Dezember 2018 Henning Gutfleisch

Die Krise, die das Kapital seinem Wesen nach ist, hat längst die bürgerliche Demokratie ergriffen. In diesem Zuge stehen erneut zivilisatorische Errungenschaften wie Menschenrechte und Emanzipation infrage, die schon als selbstverständlich erachtet wurden. Gleichwohl belegt die Selbstverständlichkeit, mit der diese Errungenschaften nun einkassiert werden, ihren seit je prekären Status. So ist der antifeministische und faschistoide Backlash, der sich gegen alle jene Menschen richtet, die nicht dem zweckrationalen, unerbittlich mit sich selbst identischen Subjekt entsprechen, auch Ausdruck des Wiedererstarkens patriarchal organisierter Gesellschaften. Dies wurde auf der European Feminist Research Conference insbesondere im Kontext der Vorträge und Debatten um Flucht und Migration deutlich.

Drängende Probleme im Fokus der Konferenz

Mehr als 800 Teilnehmer*innen trafen sich zwischen dem 12. und 15. September 2018 zur 10th European Feminist Research Conference an der Universität Göttingen, um aktuelle Themen der Frauen- und Geschlechterforschung zu diskutieren. Damit gilt die 1991 von ATGENDER gegründete und seither organisierte Konferenz als die bislang größte feministische in ganz Europa. Das diesjährige Thema „Difference, Diversity, Diffraction: Confronting Hegemonies and Dispossessions“ wandte sich dabei drängenden Problemen zu. In diesem Zusammenhang werden Flucht und Migration, nachdem beide Themen 2015 globale Bedeutung gewannen, zusehends aus genderreflektierender Perspektive bearbeitet. So wurde sich beispielsweise im Rahmen eines Schwerpunkhefts der Zeitschrift GENDER 2018 dem Thema „Flucht – Asyl – Gender“ gewidmet. Und auch auf der Tagung wurden zahlreiche Panels angeboten, die sich dieser Trias zuwandten. Mit Blick auf die Fülle der Themen, die an den vier Konferenztagen vertreten waren, soll sich im Folgenden auf Beiträge konzentriert werden, in denen Flucht, Migration und Geschlecht fokussiert wurden.

Genderreflektierende Perspektiven auf Flucht

Ein Blick auf die in den Sektionen behandelten Themen verrät bereits, welche Bandbreite sie der wissenschaftlichen Analyse eröffnen. Neben bereits bekannten Forschungsergebnissen zu Flucht stechen all jene hervor, die nach dem „Sommer der Migration“ Fluchtursachen und -bewegungen einer feministischen Kritik unterziehen, darunter Vorträge zu „Migration and transnational spaces of education“ oder „Ethical consideration when doing research at the intersection of displacement, migration and gender“. Ein Roundtable zu „Gender and Sexuality in the Politics of Borders“ brachte vier Forscher*innen zusammen, um über die Gewalt des gegenwärtigen Grenzregimes zu sprechen und mögliche feministische und queere Gegenstrategien zu erörtern. Die Grenzfrage ist für Feminist*innen heutzutage von „größter Bedeutung“, so Sara de Jong einleitend, die dabei auf aktuelle Zerwürfnisse in Europa, Afrika und der Türkei verwies. Beispielhaft seien zwei der vier Beiträge erwähnt. So stellte Vanessa Grotti ihr multilokales Forschungsprojekt über schwangere migrierende Frauen vor. Gerade die Vulnerabilität der Schwangeren sei es, die ihnen – bei aller Gefahr – den Grenzübertritt zusätzlich erschwere und zugleich die Chance auf Asyl erhöhe. „We should concentrate more on regional dynamics“, forderte Grotti am Ende ihres Kurzvortrages und hob sonach die Bedeutung situativen Wissens hervor, das es den Frauen erlaube, ihre Ziele durch List zu erreichen. Nuno Ferreira betonte hingegen die Bedeutung von Geschlechtlichkeit und Sexualität im europäischen Asylverfahren. Der Vergleich zeige die völlige Uneinheitlichkeit innerhalb der einzelnen Staaten: Für manche nur ein Asylgrund neben anderen, gewähren bestimmte Länder bereits Asyl, wenn Homosexualität lediglich vermutet wird. Die unterschiedliche Rechtsprechung sei jedoch ein Problem, dem sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene ein „lack of engagement“ für queere Flüchtlinge gegenüberstehe. Leider wurde in den vier, miteinander verwandten Beiträgen kaum Bezug aufeinander genommen und so blieb der Roundtable hinter dem selbst gesetzten Anspruch zurück, die Forscher*innen ins Gespräch zu bringen.

Mehr Sorgfalt in der Entwicklung theoretischer Begrifflichkeiten

Diese Schwierigkeit ließ sich auch in anderen Sektionen beobachten: Der straffe Zeitplan erschwerte tiefergehende Analysen und Diskussionen. Wenngleich einzelne Vorträge bedauerlicherweise ausfielen, sind vor allem die daraus entstandenen Freiräume positiv hervorzuheben. Sie förderten, auch aufgrund zeitlicher Entzerrung, eine intensive Auseinandersetzung mit der Sache. Hierbei ist insbesondere Sabine Helds Beitrag über die Erfahrung von LGBTIQ* Flüchtlingen innerhalb des deutschen Asylsystems besonders zu nennen. Gerade Details ihres ethnografischen Forschungsprozesses gestatteten nicht nur einen Einblick in Methodologie und Empirie der vergleichenden Fallstudie, sondern gleichfalls die ausgiebige Diskussion von Helds Prämissen, Annahmen und Erkenntnissen. Allerdings überraschte die eilfertige Prägung neuer Begriffe, wie zum Beispiel ‚Refugeephobia‘, ohne diese jedoch als solche zu fundieren. In eine Reihe mit Rassismus gestellt und den terminologischen Unterschied verwischend, sieht sich der Rassismusbegriff so seiner gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingtheit beraubt und entsprechend entschärft. Grundsätzlich fiel auf, wie wenig begriffs- oder grundlagentheoretische Arbeiten Gegenstand auf der Tagung waren, zumindest innerhalb der oben als Fokus umrissenen Themen. Zwar produzieren auch empirische Forschungen nötige Erkenntnis, die der Theorie Reflexion aufzwingt, doch erfahren sie allzu selten die notwendige Bindung an ihre Begriffe. Sie, die Begriffe, allein vermögen empirischer Forschung jedoch zu vermitteln, wie es Johanna Neuhauser, Sabine Hess und Helen Schwenken (2017) in ihrem Aufsatz über Flucht und Geschlecht formulieren, wonach Erfahrung in Wahrheit gründet. Doch da, wo Wissenschaft „begriffslos“ zu werden droht, verabschiedet sie zugleich ihren Anspruch auf Wahrheit.

Zitation: Henning Gutfleisch: Flucht im Fokus. 10th European Feminist Research Conference in Göttingen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 11.12.2018, www.gender-blog.de/beitrag/flucht-im-fokus-10th-european-feminist-research-conference-in-goettingen/

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: 10th European Feminist Research Conference in Göttingen

Henning Gutfleisch

Henning Gutfleisch, Mag., Studium der Ethnologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft in Heidelberg und Santiago de Chile, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lektor am Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen. Er promoviert zur Kritik gegenwärtiger Paradigmen der Grenzregimeforschung mittels Benjamins und Sonnemanns Anthropologiebegriff. Seine weiteren Forschungsinteressen betreffen Subjekt- und Kulturtheorie sowie Diskurs- und Dispositivanalyse.

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