10. Oktober 2023 Matthias Schneider
In öffentlichen Diskursen werden geflüchtete Männer häufig als patriarchale Gewalttäter und als Gefahr für die Allgemeinheit stereotypisiert. Von wissenschaftlicher Seite wurden diese Vorurteile schon vor einiger Zeit ausgeräumt, gleichzeitig gibt es auch hier Verkürzungen. So wird das Leben von geflüchteten Männern meist auf das Aufnahmeland reduziert und Männlichkeit im Singular gedacht. Mit den Ergebnissen meiner Studie über die Biographien von aus Eritrea geflüchteten Männern lässt sich diese Perspektive erweitern.
Forschung zu Männlichkeit im Fluchtkontext
Viele Studien befragen geflüchtete Männer über ihr Leben in Deutschland. Dieser Fokus wird auch gewählt, um Retraumatisierungen zu vermeiden oder die Komplexität an Fluchtwegen und Herkunftskontexten forschungspraktisch handhabbar zu machen. Auch wenn diese Studien wichtige Erkenntnisse liefern, bringt ihre Ausrichtung Probleme mit sich. So ist beispielsweise oft unklar, inwiefern Interviewaussagen über Erwerbsarbeit als Männlichkeitskonstruktion gelesen werden können, wenn die biographische Entstehung dieser Konstruktion nicht erhoben wird. Auch kann nur schlecht erfasst werden, inwiefern Konstruktionen von Männlichkeit im Ankunftskontext neu entstanden sind, sich über die Flucht verändert haben oder bereits im Herkunftskontext wichtig waren.
Des Weiteren gibt es in der Männlichkeitsforschung einen starken Hang zur Theorie der Hegemonialen Männlichkeit. Nach dieser existiert eine vorherrschende Männlichkeit, welche andere Typen von Männlichkeit ausgrenzt und unterordnet (Carrigan/Connell/Lee1985; Connell 2015). Geflüchteten Männern wird in Bezug darauf oft eine marginalisierte Männlichkeit zugeschrieben, insbesondere aufgrund rassistischer und nationaler Diskriminierung, wenngleich sie auch Vorteil aus patriarchalen Strukturen ziehen könnten. Zwei Dinge werden dabei vernachlässigt. Es bleibt erstens unklar, welche spezifischen Konstruktionen von Männlichkeit marginalisiert sind. So wirkt es, als sei Männlichkeit sehr homogen. Zweitens erscheinen alle geflüchteten Männer gleichermaßen betroffen. Somit entfaltet die Analyse von Männlichkeit im Fluchtkontext oft nicht ihr Potenzial.
Neuer Rahmen zur Analyse multipler Männlichkeiten
Neuere Arbeiten argumentieren, dass sich das individuelle Mann-Sein aus vielen unterschiedlichen Männlichkeiten zusammensetzt. Um die Pluralität, Ambivalenz und Dynamik von Männlichkeit über den Verlauf des Lebens fassen zu können, liefert Lothar Böhnisch (2018) einen wichtigen Ansatzpunkt. Böhnisch entwickelt das Konzept der Konfigurationen von Männlichkeiten. Diese können als in den sozialen Raum eingelassene „Magnetfelder“ verstanden werden, welche Männer im Verlauf des Lebens betreten, in denen sie unterschiedlich lange verweilen und dabei Anziehungen oder Abstoßungen erleben. Durch den Kontakt zu verschiedenen Konfigurationen von Männlichkeiten bilden sich dann individuelle Weisen des Mann-Seins aus (Böhnisch 2018: 41f., 195, 199). Inwiefern die Männer an die jeweiligen Konfigurationen anschließen, ist maßgeblich vom sozialen Kontext abhängig. Doch was bedeutet das konkret für den Kontext Flucht?
Männlichkeiten in den Biographien aus Eritrea geflüchteter Männer
Um diese Frage zu klären, beziehe ich mich im Folgenden auf narrative Interviews, die ich zwischen 2018 und 2020 mit 13 aus Eritrea nach Deutschland geflohenen Männern durchgeführt habe. Im Zuge der biographisch-rekonstruktiven Analyse ließen sich fünf Konfigurationen von Männlichkeiten herausarbeiten, die das individuelle Mann-Sein der Geflüchteten jeweils beeinflussen. Diese sind a) der institutionell gebildete Mann, b) der männliche Ernährer und Familienvorstand, c) der Geschäftsmann und Arbeiter, d) die männliche Dominanz und Gewalt und e) die männliche Fürsorge und Solidarität. Die untersuchten Biographien erschöpfen sich nicht in nur einer Männlichkeitskonfiguration. Meist stehen die Männer zur gleichen Zeit oder auch über den Verlauf ihres Lebens mit multiplen Konfigurationen, die sich auch überlagern können, in Beziehung.
Mann-Sein entlang von fünf Konfigurationen von Männlichkeit
Beim institutionell gebildeten Mann (a) stellt Bildung ein männliches Privileg dar. Frauen und Mädchen werden insbesondere von weiterführender Bildung ausgeschlossen. In Familien wird auf die Söhne starker Druck ausgeübt, gute Bildungsleistungen zu erbringen, was in eine Selbstdisziplinierung übergeht. Der Ernährer und Familienvorstand (b) zeichnet sich durch einen männlichen Anspruch auf familiale Weisungsbefugnis und die primäre ökonomische Versorgung der Familie aus. Dies ist verbunden mit einem starken Verantwortungsgefühl gegenüber der Familie, welches sich allerdings nicht auf die Übernahme von Reproduktionsarbeit erstreckt. In der Konfiguration des Geschäftsmanns und Arbeiters (c) findet eine Subjektivierung um den vertikal und horizontal geschlechtersegregierten Arbeitsmarkt statt. In ihr wird der Erwerb von Geld zum Selbstzweck und sozialer Status über Arbeitserfolg und Reichtum definiert.
Mit der Konfiguration der männlichen Dominanz und Gewalt (d) geht ein offen und unmittelbar ausgetragener Anspruch auf Dominanz und Vorherrschaft einher. Anders als bei den vorherigen Konfigurationen, wo es sich vor allem um eine symbolische Herrschaft handelt, werden hier Zwangsmittel eingesetzt, um die Handlungen von anderen Personen zu unterdrücken oder auch hervorzurufen. Die Anziehungskraft dieser Konfiguration speist sich aus einer Lust an Dominanz. Die letzte Konfiguration der Fürsorge und Solidarität (e) richtet sich gegen vergeschlechtlichte und andere Herrschaftsverhältnisse, was in dominanzfreien Handlungen und Orientierungen der Männer deutlich wird. Die Konfiguration findet ihren Ursprung in der Sorge um Andere.
Dynamiken im nationalen Kontext
Über die Lebensgeschichte bewegen sich die geflüchteten Männer in verschiedenen sozialen Kontexten, welche sich unterschiedlich auf die Beziehungen zu den Konfigurationen auswirken. Solche Dynamiken ergeben sich beispielsweise im nationalen Kontext des Herkunftslandes, im Transit oder bei der Ankunft im Asylsystem.
So ist der Nationaldienst in Eritrea verpflichtend und in seiner Länge für Männer fast unbegrenzt. Auf Grund von geringen Löhnen, der Zwangszuweisung zu Diensten und der Segregation von Familie können (erwerbs)biographische Konfigurationen wie die des institutionell gebildeten Mannes, des Ernährers, Familienvorstands, Arbeiters oder Geschäftsmanns auch im nationalen Kontext des Herkunftslandes nur bedingt gelebt werden. Die Flucht aus Eritrea steht in enger Verbindung mit den Einschränkungen dieser Konfigurationen und mit massiven Gewalterfahrungen durch den eritreischen Staat. Ferner können die Machtstrukturen des Nationaldienstes zwar den Anschluss an die Konfigurationen von Gewalt und Dominanz verstärken, gleichzeitig können sie aber auch Fürsorge und Solidarität von Männern hervorrufen.
Weitere Dynamiken beim Menschenschleppen und im Asylsystem
Im Transit sind Geflüchtete starken männlichen Dominanz- und Gewaltverhältnissen ausgesetzt. Die fast ausschließlich männlichen Schlepper setzen oft exzessive physische und psychische Gewalt ein. Sie haben die Macht, über das Leben und Sterben zu entscheiden. Die Macht der Schlepper kann auf geflüchtete Männer zwar herausfordernd wirken, allerdings sind die Machtverhältnisse klar verteilt. In diesem Kontext zeigt sich, wie geflüchtete Männer selbst Gewalt anwenden können, um das eigene Überleben zum Nachteil anderer zu sichern. So wenn Essen oder Rettungswesten gewaltvoll angeeignet werden. Anstatt Gewalt kann sich aber auch Fürsorge zeigen. So wenn schwache Geschleppte mit Essen und Wasser versorgt werden oder sich gemeinsam gegen die sexuelle Gewalt von Schleppern an geflüchteten Frauen solidarisiert wird.
Wie bereits im Nationaldienst zeigen sich die Konfigurationen des institutionell gebildeten Mannes, des Ernährers und Familienvorstands und des Arbeiters und Geschäftsmanns auch im deutschen Asylsystem begrenzt. Diese Restriktionen resultieren jedoch im Asylverfahren aus rechtlichen Bildungs- und Arbeitseinschränkungen, aus der Nichtanerkennung von Arbeitserfahrung und Restriktionen beim Familiennachzug. Gleichzeitig zeigt sich in diesen restriktiven Bedingungen auch Fürsorge und Solidarität von Männern.
Bedeutung der Ergebnisse: Vielfalt und Kontext statt Homogenisierung
Nicht jede Konstruktion von Männlichkeit muss also im Fluchtkontext marginalisiert sein und für die individuellen Männer können unterschiedliche Konstruktionen von Bedeutung sein. Indem die Perspektive über den Ankunftskontext hinaus ausgeweitet wird und unterschiedliche Konfigurationen von Männlichkeiten einbezogen werden, lassen sich Vielfalt und Dynamik von Männlichkeitskonstruktionen zeigen. Damit wird auch deutlich, weshalb gesellschaftspolitische Thematisierungen, Homogenisierungen und Stereotypisierungen von geflüchteten Männern zu kurz greifen. Stattdessen verschiebt sich der Fokus auf den sozialen Kontext und es kann danach gefragt werden, wie durch europäische und deutsche Politiken die Möglichkeiten der Flucht und des Ankommens ausgestaltet werden und welche Bedeutung dies für die Konstruktionen von Geschlecht hat.
Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den angerissenen Themen finden Sie im neuen Buch von Matthias Schneider „Männlichkeit und Flucht: Biographische Perspektiven auf die Lebensgeschichten aus Eritrea geflüchteter Männer“, das 2023 in der Buchreihe Geschlecht und Gesellschaft bei Springer VS erschienen ist.
Literatur
Böhnisch, Lothar (2018). Der modularisierte Mann. Eine Sozialtheorie der Männlichkeit. Bielefeld: transcript.
Carrigan, Tim; Connell, Bob & Lee, John (1985). Toward a New Sociology of Masculinity. Theory and Society, 14(5), 551–604.
Connell, Raewyn (2015). Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden: Springer VS.
Schneider, Matthias (2023). Männlichkeit und Flucht: Biographische Perspektiven auf die Lebensgeschichten aus Eritrea geflüchteter Männer. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41767-3
Zitation: Matthias Schneider: Eine neue Perspektive auf Flucht und Männlichkeit, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 10.10.2023, www.gender-blog.de/beitrag/flucht-maennlichkeit/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231010
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Kommentare
Khetrapal | 10.10.2023
HI Matthias
Thank you for sharing your thoughts. The blog post is very thought provoking and it has motivated me to think how often the aspect of plurality is missed when we talk about masculinities, especially, in comparison to narratives on feminism.
Neha