06. August 2024 Sandra Beaufaÿs Jenny Bünnig Uta C. Schmidt
Wer sich für zeitgenössische Fotografie interessiert, ist zurzeit in der Oberhausener Ludwiggalerie bestens aufgehoben. Dort sind 28 Fotografinnen aus Großbritannien zu sehen – „erstmalig“, wie Kurator Ralph Goertz herausstellt. Jede Fotografin ist mit einer Serie vertreten, zuweilen auch mit feministischen Positionen. Sozialkritik ist garantiert, denn das beherrschen die britischen Künstlerinnen perfekt.
Die Zusammenstellung der Werke weist auf historische wie aktuelle Dynamiken in der britischen Gesellschaft hin. Viele der Fotografinnen bringen eine Migrationsgeschichte mit und thematisieren diese auch. Koloniale Verstrickungen bzw. postkoloniale Auswirkungen des British Empire, die Auswüchse neoliberaler Gouvernementalität werden genauso im Bild festgehalten wie sexistische, rassistische oder klassistische Diskriminierung. Dabei scheint in nahezu jeder Position eine klare, widerständige und zuweilen humorvolle Haltung auf, eine radikale Absicht gar, die Welt um einen neuen Blick zu bereichern.
Gehängte Gegensätze
Die Ausstellung UK Women erstreckt sich im Schloss Oberhausen über drei Etagen und mehrere Räume. Doch die Werke der 28 sehr unterschiedlichen Fotografinnen werden hier nicht nach Zeiten oder thematischen Schwerpunkten für die Betrachtenden geordnet und vorsortiert. Vielmehr sehen sich die Zuschauer*innen der Kunstschau von Wand zu Wand nicht selten mit scharfen Kontrasten konfrontiert. So hängen die außergewöhnlichen, fast erhaben wirkenden und mit Textfragmenten kombinierten Landschaftsaufnahmen von Hazel Simcox genau gegenüber der mit hartem Blitz fotografierten Bildstrecke von Anna Fox (Abb. 2). Mit dieser porträtiert die britische Fotografin unnachgiebig die Bürokultur im Großbritannien unter Margaret Thatcher – inklusive eines Mannes im Anzug beim Essen. Dessen weit geöffneter Mund und dadurch verzerrtes Gesicht muten beinahe monströs an, doch insbesondere in direkter Nachbarschaft zu den malerisch erscheinenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Simcox entfaltet die Aufnahme ihre ganze Drastik und Befremdlichkeit.
Ebenfalls sehr eindrücklich ist der Raum, in dem unter anderem die Werke von Laura Blight, Audrey Blue und Trish Morrissey aufeinandertreffen. Denn hier treten die verwaisten ehemaligen Wohnräume von Verstorbenen, wie sie von Blight eingefangen werden, in eine unmittelbare Konfrontation mit den vor Energie strotzenden und in unnatürlichem Neonlicht fotografierten Bildern von Blue auf der einen und den nachgestellten Familienschnappschüssen von Morrissey auf der anderen Seite, in denen die Künstlerin gemeinsam mit ihrer Schwester in unterschiedliche Generationen- und Geschlechterrollen schlüpft. Vergänglichkeit und Lebendigkeit, Melancholie und Witz – die einzelnen Fotografien besitzen stets ihre jeweils ganz eigene Bildwirkung auf die Betrachtenden, doch in der Zusammenschau gewinnt diese auf sehr besondere Weise an Zuspitzung und damit nicht zuletzt an Nachdrücklichkeit.
Reisende zwischen den Welten
Die Ausstellung bringt drei der renommiertesten Vertreterinnen sozialdokumentarischer Fotografie aus UK nach Oberhausen: Markéta Luskačovà (1944), Fran May (1954) und Tish Murtha (1956–2013). Ich sehe die Fotografin Sandra Mickiewicz (1992) in ihrer Tradition stehend – auch wenn sie in Farbe arbeitet und die Porträtfotos inszenierte: Es ist das Verhältnis von Fotografin und Fotografierten, das diese Bilder erst ermöglichte, und so auf sozialfotografische Traditionen verweist. Und es ist ihr Thema: die Würde des menschlichen Antlitzes. Vielleicht sind es auch Effekte der kuratorischen Entscheidung, die Serie in Sichtbezügen zu der Werkgruppe von Anna Fox (1961) und dem hyänenhaften Gesicht des Finanzkapitalismus zu hängen, die diese Porträts von Sandra Mickiewicz noch eindrücklicher erscheinen lassen. Hat man sich von den Blicken der vier Porträtierten gelöst und schaut auf die Betitelung an der Museumswand „Proud of the origin“, so entnimmt man ihr, dass es sich bei dieser Serie um Angehörige der Gypsy & Traveller Community handelt, die in UK wie anderswo Rassismus und Diskriminierung erfahren.
Mickiewicz porträtiert sie hier in für die Community bedeutenden naturräumlichen Beziehungen. Sie zeigt sie als starke, einzigartige Individuen, die unsere stereotypisierenden Blicke herausfordern, die in eine direkte Kommunikation mit uns treten. Hier werden die Fotografien in der Tradition christlicher Kunst zu einem „Ecce Homo“, einem „Siehe, der Mensch“ und somit zu einer Metapher für das Menschsein. Die Serie beginnt mit dem Porträt des Jungen (Abb 3.), der uns mit festem Blick, in Jeans mit nacktem Oberkörper und Zwille um den Hals entgegentritt: Die Geschichte von David, der den Riesen Goliath mit einer Steinschleuder besiegte, kommt in den Sinn. Der Blick der Frau trägt Erfahrungen und Zweifel in sich. Das blondgelockte Mädchen im Blümchenkleid unter ihrer Jacke, ohne Sattel auf dem Pferderücken sitzend, blickt durch uns hindurch in die Weiten des Universums. Und der junge Mann mit durchtrainiertem Oberkörper in Jeans und Superdry-T-Shirt mit zwei Hunden rechts und links unter den Armen schaut uns fest und unvoreingenommen an. Dies ist das verstörendste Foto der Werkgruppe, denn dieser entspannte junge Mann ist mit kleinen Dreckspritzern übersät. Was hat er gemacht? Und mit was für einem Selbstbewusstsein steht er da und lässt sich in Zeiten von perfekten Körperbildern nicht nur so ab-bilden, sondern auch aus-stellen? Es gibt in allen Fotografien Elemente, die unsere Aufmerksamkeit affizieren: die Zwille, der Zweifel, das Blumenkleid, der Dreck. „Was ich benennen kann, vermag mich nicht eigentlich zu bestechen“, schreibt Roland Barthes (Barthes 1989, 60): Auch deshalb hallen die Porträts lange nach.
Naturverhältnisse
Nur wenige Positionen beschäftigen sich nicht auf den ersten Blick mit Menschen. So nähert sich die Arbeit von Freya Najade, „Hackney Marshes“ (2022), dem Thema ‚Natur‘. Bei ihr wird das Mensch-Natur-Verhältnis zu einem hybriden, kulturell überformten. Ihr Sujet ist ein Naherholungsbiet in der Nähe von London. Stadtbewohner*innen finden hier ein kleines Refugium in einer deutlich von Menschen veränderten Landschaft. Najades Bilder machen die unwiederbringliche Trennung und gleichzeitige Untrennbarkeit des urbanen Lebensstils von der längst nicht mehr natürlichen Natur greifbar. So sehen wir das Porträt einer jungen Frau auf einem Plastikflamingo vor begrünter Kulisse, ein Stillleben von dorthin geratenen Orangenschalen auf Waldboden, eine Wiese mit kahlen, abgenutzten Stellen – vom Daraufliegen? –, einen Reiher, dessen „Echtheit“ bezweifelt werden muss, wenngleich er in seinem angestammten Habitat erscheint. Auf dem zentral gehängten und größten Bild der Serie stehen halbnackte Menschen in einer verwunschenen grünen Idylle bis zu den Oberschenkeln in einem Teich und blicken erstaunt, ratlos, geradezu entgeistert auf die dampfende Wasseroberfläche. Die beziehungslose Gruppierung, das offensichtlich zufällige Zusammentreffen überführt das Naturverhältnis bildhaft in ein gesellschaftliches.
Tessa Bunney erzählt in ihrer zwischen 2001 und 2004 entstandenen Dokumentation von Jagd und Landwirtschaft in Yorkshire („Moor and Dale“) abwechselnd in klaren, leuchtenden und tenebrösen Farben von der mörderischen Unterwerfung der Kreatur. Die kraftvollen Gesten des Sportschützen (Abb. 4), der breite Rücken des Bauern, der die Sicht auf die vor ihm liegende Landschaft verstellt, das zermalmte Heidekraut auf einer ausgestreckten Handfläche und die hilflos hängenden oder eingeklemmten Köpfe erlegter oder sich der Schur ergebender Tiere lassen menschliche Besitzansprüche an die Natur offensichtlich werden. All das wirkt im Zusammenklang erbarmungslos und gewalttätig, auch wenn es lediglich Menschen bei Arbeit und „Freizeitvergnügen“ zeigt.
Viel und Vielfältig
In der Ausstellung finden sich auch einige spannende und dezidiert feministische Positionen, wie die von Sarah Maple, deren auffallende, farbige Selbstporträts nur im ersten Moment plakativ und vordergründig wirken. Denn allen, die sich für popkulturellen Feminismus, Maria, Mutterschaft und Beyoncé interessieren, bietet Maple – „schwanger“ und rauchend unterm Rosenbogen – eine referenzstarke Position zu Körper und Care an (Abb. 5). Witzig und leider unheimlich wahr zugleich auch ein Bild der Serie „My Favourite Colour Was Yellow“ (die eigentlich die Farbe Rosa thematisiert) von Kirsty Mackay, das Mädchenbeine in gelben Strumpfhosen zeigt, einen pinken Ballon am Gelenk – wie eine Fußfessel.
UK Women in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen ist damit mehr als die Präsentation von 28 britischen Fotografinnen aus drei Generationen mit 220 Fotografien aus 29 Serien. Die Vielfältigkeit an Blicken, die sich hier eröffnet, kann mit einem Besuch kaum eingefangen werden, es lohnt sich der zweite und dritte Blick, um sich ggf. tiefer mit einzelnen Positionen auseinanderzusetzen.
Die Ausstellung UK Women. Britische Fotografie zwischen Sozialkritik und Identität ist noch bis 15. September 2024 in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zu sehen. Die Redaktion empfiehlt einen Besuch und wünscht allen Leser*innen eine schöne Sommerzeit!
Literatur
Barthes, Roland (1989), Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zitation: Sandra Beaufaÿs, Jenny Bünnig, Uta C. Schmidt: Wunderbare Welt der Fotografinnen – die Ausstellung „UK Women“, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 06.08.2024, www.gender-blog.de/beitrag/fotografinnen-ausstellung-uk-women/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240806
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