11. Juni 2024 Leah Allefeld Caroline Richter
Pornografie wird rege konsumiert und erstellt, Zugang und Mitgestaltung haben sich durch das Internet für breite Bevölkerungsgruppen erweitert. Für Menschen mit Behinderung sind die Voraussetzungen, Herausforderungen und Chancen der Online-Pornografie jedoch kaum erforscht. Das gilt vor allem für homosexuelle und queere Personen, aber auch explizit für Frauen mit Behinderung.
Wir haben uns mit den Zugangs-, Nutzungs- und Gestaltungsvoraussetzungen von Online-Pornografie speziell für Frauen mit Behinderung auseinandergesetzt. Anlass war eine Praxiserfahrung: Es mangelt an Sexualbegleiter:innen, vor allem für Frauen. Online-Pornografie zu konsumieren, aber auch zu erstellen, könnte zumindest eine ergänzende Spielart sein – verbunden aber auch mit neuen Herausforderungen, nicht zuletzt für die Professionalisierung von Fachkräften im Sozialwesen.
Wünsche von Menschen mit Behinderungen
Im Konnex von Behinderungen und sexueller Selbstbestimmung steht seit einigen Jahren zu Recht der Gewaltschutz im Zentrum, sowohl in der Forschung wie auch in der Praxis. Zugleich wird der Fokus damit auf die Schattenseite von Sexualität verengt, auf Macht, Ausbeutung und Zwang. Lustvolles Experimentieren, Selbsterfahrung und Genuss rücken tendenziell in den Hintergrund.
Sexualbegleiterinnen oder auch Sexarbeiterinnen für heterosexuelle Männer mit Behinderung zu finden, ist bereits schwierig. Besonders für homosexuelle oder queere Personen existieren kaum Optionen – ebenso für heterosexuelle Frauen, denn das Angebot männlicher Sexualbegleitung deckt bei Weitem nicht die Nachfrage (vgl. Ortland 2020).
Bedürfnisse sind unterschiedlich
Menschen mit Behinderung erleben vielfache Begrenzungen ihrer selbstbestimmten Sexualität. Gerade Frauen mit Behinderung werden in der Entfaltung ihrer sexuellen Bedürfnisse u. a. durch infantilisierende oder überfürsorgliche Umgangsweisen ihres Umfelds und durch das differierende Spektrum an Sexualbegleitung und -assistenz gehemmt. Auch für die Pornografie werden von einer Frau mit Behinderung im Forschungsinterview Diskrepanzen festgestellt:
„Es gibt wenige Porno-Seiten, die für Frauen gemacht sind und damit durchaus ein sehr realistisches Bild von Beischlaf zeigen. […] Genau, das ist viel körperlicher […]. Die Bedürfnisse sind ja auch sehr unterschiedlich […], was Frauen angeht und Männer bei der Pornografie und dann auch noch wiederum mit Handicap“.
Nicola Döring bestätigt diesen Eindruck aus Forschungssicht und beschreibt als Hauptnutzergruppe visueller Pornografie erwachsene Männer, weshalb sich eine Vielzahl der Angebote durch die Art der Darstellung, der Inhalte und der Kameraführung an männlich sozialisierte Personen richtet (Döring 2013: 30). In der Pornografie auch Behinderung zu zeigen, ohne sie auszustellen oder zu fetischisieren, erscheint voraussetzungsreich. Allerdings ist bislang kaum etwas über sexuelle Wünsche und Bedarfe, Grenzen und Grenzziehungen im Zusammenhang mit Behinderung bekannt – erst recht nicht für Online-Pornografie von und für Frauen mit Behinderung.
Online-Pornografie als Erfahrungsraum
1975 wurde Pornografie in Deutschland legalisiert und wird seitdem vorrangig als Auslöser für sexuelle Erregung und zur sexuellen Befriedigung genutzt. Aktuell wird Pornografie in wissenschaftlichen Debatten in dem Spannungsfeld zwischen böse und gut, erotisch und obszön, sauber und künstlerisch, dreckig und primitiv diskutiert (vgl. Döring 2013: 21ff; Lüdtke-Pilger 2016: 9ff; Faulstich 1994: 35ff; Lautmann/Schetsche 1990: 13f).
Eine deskriptive, inhaltlich-funktionale Perspektive ermöglicht, Pornografie wert- und urteilsfreier zu erfassen und sich kompetent darüber auszutauschen (vgl. Oeming 2023). Pornografische Darstellungen werden auf der inhaltlichen Ebene als Handlungen verstanden, die den nackten Körper und sexuelle Aktivitäten direkt und explizit zeigen. Die funktionale Ebene beschreibt den Zweck der Produktion der Pornografie, die sexuelle Stimulation. Verschiedene Ausdrucksformen und Funktionen sind erkennbar: Mainstream- und Non-Mainstream-Porno oder die vielen Subgattungen, wie z. B. Frauen-Pornografie, Queer-Pornografie und authentische Pornografie. Die diversen Subgattungen verdeutlichen die pornografische Vielfalt, welche sich an den Bedürfnissen der Zielgruppen orientiert.
Bei Pornografie handelt es sich nicht um Dokumentation, sondern um eine fiktionale Mediengattung, u. a. zur Inszenierung nichtalltäglicher sexueller Fantasien (vgl. Döring 2011: 231f; Hierholzer 2021: 48f). Gleichzeitig ist Pornografie als Erfahrungsraum nicht nur zur sexuellen Anregung und Befriedigung nutzbar, sondern dient auch der Information. Eine explizite Darstellung von Sexualität und Nacktheit kann niedrigschwellig und verständlich Kenntnisse zu sexuellen Techniken, Neigungen oder der geschlechtlichen Vielfalt vermitteln – ebenso aber können Fetischisierung, exotisierende Ausstellung und Fehlinformation negative Folgen sein.
Selbstbestimmte Pornografie?
Jeder Mensch mit oder ohne Behinderung kann autonome Entscheidungen für das eigene Leben treffen. Sexualität ist eine Triebfeder und ein archaisch verankertes Grundbedürfnis, das sich sowohl körperlich/sinnlich als auch sozial/empathisch oder egozentrisch/hedonistisch äußern und in vielfältigen Erfahrungsräumen spür- und lebbar werden kann. Online-Pornografie schafft Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten, die eigene Sexualität selbstbestimmt zu erleben und zu entfalten. Adressiert an (junge) Erwachsene, wird Online-Pornografie aus vielfältigen Anlässen heraus frequentiert: auf der Suche nach sexueller Erregung und/oder Information, aus Lust am Tabubruch, Voyeurismus oder zum Zeitvertreib. In der Rezeption von Pornografie verbindet sich das eigene sexuelle Erleben, Verhalten und Handeln mit den gezeigten visuellen und auditiven Darstellungen. Diese Schnittstelle, an der sexuelle (Selbst-)Kompetenz mit digitalen Medien zusammentrifft, interessiert uns an der Zielgruppe ‚Frauen mit Behinderung‘.
Die Analyse unserer ersten Interviews hat bereits gezeigt, dass aktive Förderung durch die Sexualbegleitung oder Sexualassistenz relevant ist, wenn es darum geht, Entscheidungsoptionen aufzuzeigen, mögliche Inhalte zu erklären und die Fiktion der Pornografie hervorzuheben. Darin zeichnet sich ein spezifischer Professionalisierungsbedarf für Assistenz- und Fachkräfte des Sozialwesens ab, der eine umfassende Begleitung und nicht den Gewaltschutz zentral setzt. Vielmehr kann eine befähigende Reflexion der eigenen Bedürfnisse angestoßen werden. Spannende Fragen können dabei sein: Was gefällt mir oder was finde ich abstoßend? Welche Sexualpraktiken möchte ich übernehmen? Möchte ich selber Teil eines pornografischen Films sein? Was bietet Pornografie, was bietet Sexualität im realen Leben? Auch Fragen der Bewertung von Pornografie werden in dieser Begleitung zur Förderung der sexuellen Selbstbestimmung angesprochen.
Online-Pornografie als fiktionale Mediengattung
Menschen mit Behinderung sind nach menschenrechtlichem Maßstab bedarfsorientiert, alters- und entwicklungsgemäß zu begleiten und als Expert:innen für Belange ihrer Sexualität zu verstehen. Dieses Ziel wird u. a. aus medizinischer, pädagogischer, juristischer und soziologischer Perspektive verfolgt (vgl. Specht 2013: 172; Ortland 2020: 36ff).
Online-Pornografie kann neue, meist ambivalente emotionale Reaktionen zwischen Faszination und Frivolität auslösen. Durch die Explizitheit der Pornografie als fiktionale Mediengattung wird Sexualität in einer außergewöhnlichen, fantasievollen und teilweise inszenierten Art und Weise dargestellt. In dem eindeutigen Bildmaterial werden Ablauf, Vorgehen und Varianz der Sexualität – idealerweise unter Berücksichtigung der geschlechtlichen Vielfalt und der sexuellen Ausdrucksformen – auf auditiver und visueller Ebene erkennbar (vgl. Döring 2011: 241f; Döring 2013: 28ff).
Zwischen Selbstbestimmung und Gewaltschutz
Insgesamt wird Online-Pornografie ein Potenzial zur Förderung von sexueller Selbstbestimmung zugesprochen. Das emanzipatorische Potenzial, das sich aus geschlechtlicher Vielfalt, sexueller Befriedigung und dem ergänzenden Angebot der sexuellen Bildung ergeben könnte, ist möglicherweise größer, als bislang erwogen und genutzt wird.
Die Verbindungen zwischen Online-Pornografie als medial-technischem Produkt und den sozial-kulturellen Kontexten von Online-Pornografie bieten neue und erweiterte Erfahrungsspielräume für Menschen mit Behinderung, sich sexuell und digital zu erleben und zu entwickeln. Angesichts der vielseitigen Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Behinderung ist es allerdings notwendig, die Zugänge zur Online-Pornografie unter Berücksichtigung technischer, sozialer und struktureller Bedingungen anzupassen und besser zu gestalten, um dieses Potenzial auch zu entfalten. Dazu könnten und sollten spezifisch Frauen mit Behinderung in der Produktion und Gestaltung der Online-Pornografie partizipativ einbezogen werden. Dies setzt voraus, mit den Grenzen und Grenzziehungen umzugehen, die Gewaltschutz in den Vordergrund rücken müssen. Zugleich bietet Pornografie einen Anlass zur Auseinandersetzung mit Lust und ihren Ausdrucksformen und kann als Ansichtsbeispiel und Inspiration dienen.
Literatur
DÖRING, Nicola (2013): Medien und Sexualität. In: MEISTER, Dorothee/SANDER, Uwe/VON GROSS, Friederike: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. https://doi.org/10.3262/EEO18130299.
DÖRING, Nicola (2011): Pornografie-Kompetenz: Definition und Förderung. In: ZEITSCHRIFT FÜR SEXUALFORSCHUNG. 24. Ausgabe. Heft 3. New York: Georg Thieme Verlag KG Stuttgart. S. 228–255. https://doi.org/10.1055/s-0031-128707.
FAULSTICH, Werner (1994): Die Kultur der Pornografie. Kleine Einführung in Geschichte, Medien, Ästhetik, Markt und Bedeutung. Bardowick: Wissenschaflter-Verlag.
HIERHOLZER, Stefan (2021): Basiswissen Sexualpädagogik. München: Ernst Reinhardt Verlag.
LAUTMANN, Rüdiger/ SCHETSCHE, Michael (1990): Das pornographierte Begehren. Frankfurt/New York: Campus.
LÜDTKE-PILGER, Sabine (2016): Porno statt PorNO! Die Neuen Pornografinnen kommen. Marburg: Schüren.
OEMING, Madita (2023): Porno. Eine unverschämte Analyse. Hamburg: Rowohlt.
ORTLAND, Barbara (2020): Behinderung und Sexualität. Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.
SPECHT, Ralf (2013): Professionelle Sexualitätsbegleitung von Menschen mit Behinderung. In: CLAUSEN, Jens/ HERRATH, Frank (Hg.): Sexualität leben ohne Behinderung. Das Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung. Stuttgart: Kohlhammer. S. 165–183.
Zitation: Leah Allefeld, Caroline Richter: Frau mit Behinderung: Online-Pornografie für sexuelle Selbstbestimmung?, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 11.06.2024, www.gender-blog.de/beitrag/frau-mit-behinderung-selbstbestimmt/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240611
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