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Debatte

Mädchen und Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung: Gewalterleben und Gewaltprävention

29. November 2022 Melina Holz, Mädchenhaus Bielefeld e. V.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der strukturelle Sexismen und Ableismen fest verankert sind. Mädchen und Frauen mit Behinderung bzw. chronischer Erkrankung sind von Doppeldiskriminierung bzw. intersektionaler Diskriminierung betroffen, denn weitere Diskriminierungen, zum Beispiel aufgrund von race oder class, kommen gegebenenfalls zusätzlich hinzu. Daher tragen Mädchen und Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung ein besonders hohes Risiko, Gewalt zu erleben.

In diesem Text geht es um das Gewalterleben und Ansätze der Gewaltprävention von und für Mädchen und Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung. Es wird auf verschiedene Bereiche von Gewalt eingegangen, auch auf sexualisierte Gewalt. Selbstverständlich können und sollen dabei keine verallgemeinernden Aussagen über die heterogene Gruppe der Mädchen und Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung getroffen werden. Vielmehr sollen die erhöhten Risikofaktoren benannt und Präventionsstrategien erläutert werden.

Gewalterleben in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter

Frauen mit Behinderung haben in ihrer Kindheit und Jugend deutlich häufiger Gewalt erlebt als Frauen im Bevölkerungsdurschnitt. Jede zweite bis vierte Frau mit Behinderung hat vor ihrem 16. Lebensjahr bereits sexuelle Gewalt durch Kinder, Jugendliche und/oder Erwachsene erlebt. Teilweise liegt auch eine erhöhte Betroffenheit durch elterliche körperliche (85–90 % vs. 81 % der Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt), insbesondere aber psychische Gewalt (50–60 % vs. 36 % der Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt) vor (BMFSFJ 2012, S. 20ff.).

Auch erwachsene Frauen mit Behinderung sind wesentlich häufiger von Gewalt betroffen als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt. Fast doppelt so häufig erleben sie körperliche Gewalt (58–75 % vs. 35 %), psychische Gewalt kommt sogar noch wesentlich häufiger vor (68–90% vs. 45 %) (BMFSFJ 2012, S. 25). Sexuelle Gewalt erfahren erwachsene Frauen mit Behinderung, je nach Befragungsgruppe, ebenfalls deutlich öfter: Hier sind 21 % bis über 40 % betroffen, am häufigsten gehörlose Frauen (43 %) und psychisch erkrankte Frauen in Einrichtungen (38 %) (BMFSFJ 2012, ebd.). Insgesamt sind Frauen mit Behinderung zwei- bis dreimal so häufig von sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter betroffen wie der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt.

Was sind die Ursachen?

Wie aktuelle Studien belegen, sind Menschen mit Behinderung allgemein von Gewalt in stärkerem Ausmaß betroffen. Die Risikofaktoren sind neben einer erhöhten Vulnerabilität u. a. in ableistischen Strukturen begründet: Behinderte und chronisch kranke Menschen sind häufiger in Abhängigkeitsstrukturen und Zwangskontexten gefangen und haben vielfach besondere Schwierigkeiten zu bewältigen, wenn sie sich aus gewaltvollen Situationen und Beziehungen lösen wollen (BMFSFJ 2014, S. 167f.). Hinzu kommt, dass es häufig Barrieren bei der Suche und der Inanspruchnahme von Unterstützungs- und Hilfsangeboten gibt.

Die Frage danach, welche Ursachen es für die deutlich erhöhten Prävalenzzahlen bei Mädchen und Frauen gibt, ist nicht monokausal zu beantworten. Das komplexe Zusammenwirken von Sexismen und Ableismen bringt zahlreiche gewaltbegünstigende Faktoren hervor. So führt soziale Ausgrenzung als Folge von mangelnder Inklusion häufig dazu, dass Betroffene keine oder nur wenig Kontakte außerhalb ihres Wohn-, Bildungs- bzw. Arbeitsumfelds haben. Viele Mädchen und Frauen mit Behinderung sind darüber hinaus auch gesellschaftlich nicht sichtbar, da die geltenden Körper- und Schönheitsnormen ableistisch geprägt sind. Sie finden sich und ihre Körper medial nicht repräsentiert, was zu einem mangelnden Selbstbewusstsein führen kann. Hinzu kommt, dass die Abhängigkeitsverhältnisse, in denen viele Mädchen und Frauen mit Behinderung leben, Fremdbestimmung hervorbringen (BMFSFJ 2014, S. 56ff.).

Gewaltbegünstigende Faktoren

Mit seinem „Heimexperiment“ zeigte Raul Krauthausen, dass das Leben in einer Wohneinrichtung durch Fremdbestimmung gekennzeichnet ist. Im Jahr 2016 zog der Aktivist für fünf Tage freiwillig in ein sogenanntes Behindertenheim. Zu entscheiden, wann man morgens aufstehen möchte, wann oder was man essen möchte, dass die Badezimmertür vor einem Toilettengang geschlossen wird, wer einen pflegt etc. sind im stationären Wohnen keine Selbstverständlichkeiten. Die Abhängigkeit von Betreuungs- und Pflegepersonal bestimmt oft die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Diese zum Teil gewaltbegünstigenden Faktoren können auch als struktureller Ableismus bezeichnet werden.

Weitere gewaltbegünstigende Faktoren können unter Umständen auch Kommunikationsbarrieren sein. Der erschwerte Zugang zu Bildung und Informationen u. a. zum Thema Gewaltschutz sowie die mangelnde Aufklärung und Tabuisierung des Themas Sexualität beeinträchtigen zusätzlich das Sprechen über Grenzverletzungen. Darüber hinaus wird Frauen mit Behinderung seltener geglaubt, wenn sie zum Beispiel einer Bezugsperson von einer Gewalttat berichten (BMFSFJ 2014, S. 44). Hinzu kommt, dass durch mangelnde Barrierefreiheit für viele gewaltbetroffene Menschen mit Behinderung sowohl die Suche als auch die Inanspruchnahme von Hilfe- und Unterstützungsangeboten erheblich erschwert ist (BMFSFJ 2014, S. 144). Fehlendes Wissen in Bezug auf die eigenen Rechte und die bestehenden Beratungsangebote ist eine zusätzliche Barriere. Finanzielle Aspekte wie Kosten für eine*n Dolmetscher*in, Assistenz oder Beratungsleistung können ebenfalls eine Hürde sein. Viele Frauen haben zudem im Verlauf ihres Lebens häufig die Erfahrung gemacht, dass ihnen nicht oder nur unzureichend geholfen wurde. Dies kann zu einer erlernten Hilflosigkeit führen, mit der Folge, dass nicht erneut nach Unterstützung gesucht wird (BMFSFJ 2014, S. 38ff.).

Partizipativ entwickelte Schutzkonzepte

Die hohe Gewaltbetroffenheit von Mädchen und jungen Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung zeigt, dass sie bislang nicht ausreichend vor körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt geschützt werden konnten. Diese heterogene Gruppe vor Gewalt zu schützen, beinhaltet neben passgenauen barrierefreien Informationen, Präventions- und Beratungsangeboten auch für Angehörige, Fach- und Vertrauenspersonen eine Auseinandersetzung mit vielschichtigen Fragen: Das sind einerseits Fragen der Prävention – Was ist zu tun, um Gewalt möglichst zu verhindern? Was ist zu tun bei Verdachtsfällen? –, andererseits geht es aber auch darum, bei konkreter Gewalt Handlungsstrategien vorzuhalten und Wissen über adäquate Hilfe und Unterstützungsangebote bereitzustellen (BMFSFJ 2012, S. 60ff.).

Für Institutionen sind partizipativ entwickelte Schutzkonzepte gegen (sexualisierte) Gewalt von enormer Relevanz. Zu einem Gewaltschutzkonzept gehören beispielsweise Fort- und Weiterbildungen für Mitarbeitende, ein ständig zu aktualisierender einrichtungsspezifischer Handlungs- oder Notfallplan mit festgelegten Ansprechpersonen sowie Präventionsangebote für die Adressat*innen und gegebenenfalls deren Erziehungsberechtigte (BMFSFJ 2014, S. 175f.). Schutzkonzepte ermöglichen es Institutionen wie Wohneinrichtungen, Schulen oder Werkstätten zu sichereren Orten für Mädchen und Frauen mit Behinderung zu werden. Damit sinkt ihr Risiko, innerhalb der Institution von Gewalt bedroht oder betroffen zu sein, gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Gewalttaten erkannt werden und Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten greifen können.

Präventions-, Beratungs- und Schutzangebote barrierefrei machen!

Mangelnde Barrierefreiheit begünstigt jede Form von Gewalt. Für die Präventionsarbeit ist daher von zentraler Bedeutung, die Bedarfe von Mädchen und Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung genau zu fassen. Ein erster Schritt ist, mit vorhandenen Barrieren transparent umzugehen. Weitere Aspekte, um gewaltbegünstigenden Faktoren zu begegnen, sind geeignete (altersgerechte) Maßnahmen, die gewährleisten, dass alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll umfänglich und gleichberechtigt wahrgenommen werden können. Des Weiteren muss die Förderung sowie Stärkung der Autonomie in den Fokus rücken. Alle Präventions-, Beratungs-, Hilfe- und Schutzangebote müssen barrierefrei werden – nur so werden Zugänglichkeit und Möglichkeiten der Inanspruchnahme gewährleistet. Ziel ist der Schutz vor jeder Form von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch durch konsequenten Ausbau von Barrierefreiheit.

Die eigenen Ableismen reflektieren

Institutionelle Schutzkonzepte für Prävention und Intervention sind eine Kombination aus Analyse, strukturellen Veränderungen, Vereinbarungen und Kommunikation sowie Haltung und Kultur einer Organisation. Doch nicht nur auf institutioneller Ebene gibt es Handlungsbedarf hinsichtlich der Entwicklung einer individuellen Haltung. Der gesellschaftlich verankerte Ableismus bewirkt bei Individuen eine Internalisierung von ableistischem Denken. Die persönlichen Ableismen zu reflektieren, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, allein oder gemeinsam, stellt einen elementaren Beitrag zur Bewusstseinsbildung zum Thema Behinderung dar. Die eigenen Privilegien zu überprüfen und dafür zu nutzen, sich mit den politischen Kämpfen und Forderungen von Menschen mit Behinderung zu solidarisieren, fördert den Abbau der strukturellen Ungleichverhältnisse.

Literatur

BMFSFJ (Hrsg.) (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen. Kurzfassung. Bielefeld, Frankfurt, Berlin, Köln: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zugriff am 17.08.2022 unter https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94204/3bf4ebb02f108a31d5906d75dd9af8cf/lebenssituation-und-belastungen-von-frauen-mit-behinderungen-kurzfassung-data.pdf.

Schröttle, Monika & Hornberg, Claudia (2014): Gewalterfahrungen von in Einrichtungen lebenden Frauen mit Behinderungen – Ausmaß, Risikofaktoren, Prävention – Endbericht. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zugriff am 17.08.2022 unter https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93972/9408bbd715ff80a08af55adf886aac16/gewalterfahrungen-von-in-einrichtungen-lebenden-frauen-mit-behinderungen-data.pdf.

Zitation: Melina Holz, Mädchenhaus Bielefeld e. V.: Mädchen und Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung: Gewalterleben und Gewaltprävention, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 29.11.2022, www.gender-blog.de/beitrag/frauen-behinderung-gewalterleben-praevention/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20221129

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Melina Holz, Mädchenhaus Bielefeld e. V.

Melina Holz ist Mitarbeiterin der Fachstelle Gewaltschutz bei Behinderung – Mädchen sicher inklusiv, ein Angebot des Mädchenhaus Bielefeld e. V. (https://www.maedchenhaus-bielefeld.de). Die Autorin lebt ohne Behinderung und schreibt daher aus der Position einer Unterstützungs- und Vertrauensperson.

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