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Forschung

Frauen im Spannungsfeld von Weiblichkeit und rhetorischer Kompetenz

13. September 2022 Sarah Heinemann

Um Frauen auf ihren Karrierewegen zu fördern und in Führungspositionen zu bringen, bieten Unternehmen und Hochschulen Förderprogramme an, die auch Führungskompetenztrainings enthalten. Kommunikations- und Redekompetenzen scheinen dabei wichtige Faktoren zu sein. Diese besondere Aufmerksamkeit für die Rhetorik von Frauen hat sich jedoch erst in jüngster Zeit entwickelt, davor blieb die weibliche Rede lange unbeachtet oder wurde abgewertet. Im Verhältnis von Ab- und Aufwertung sowie den damit verbundenen Zuschreibungen an die rhetorische Kompetenz von Frauen steckt Forschungspotenzial.

Nicht der Rede wert – Stumme Frauen in der Antike

In ihren antiken Ursprüngen war die Lehre der Rhetorik als Teil höherer Bildung ausschließlich Männern zugänglich, wurde von Männern gestaltet und von Männern in Machtpositionen genutzt, um politische Interessen durchzusetzen und Recht zu sprechen (vgl. Fuhrmann 2011: 16f.). In der Gesellschaft standen Frauen unter dem Kyriat bzw. pater familias, dem männlichen Oberhaupt der Familie, das sämtliche Gewalt über alle Mitglieder des Haushaltes besaß und Frauen von gesellschaftspolitischer wie auch Bildungsteilhabe ausschloss (vgl. Nühlen 2021: 16f.). Dennoch gab es Ausnahmen und Frauen konnten durchaus höhere Bildung erlangen, sofern sie anderer kultureller Herkunft waren, von einem Mann gefördert wurden (z. B. als Tochter von …) oder sich als Männer verkleideten (vgl. Nühlen 2021). Aus jenen Frauen gingen eine Reihe einflussreicher Rhetorinnen und Philosophinnen hervor – wie Diotima von Mantineia, Aspasia von Milet und Hypatia von Alexandria.

Die tugendhafte (männliche) Rede galt als Ideal und wurde ausführlich in den bekannten Lehrwerken von Philosophen und Rhetoren (z. B. Cicero, Platon, Quintilianus) behandelt, während Rhetorinnen (z. B. Hypatia von Alexandria) bis heute kaum bekannt oder in Vergessenheit geraten sind. Zur Rhetorik von Frauen finden sich in den bekannten Rhetoriken auch kaum Verweise, es sei denn, sie dienen als „Markierung unangemessener Männlichkeit“ (Tonger-Erk 2012: 460) und somit einer näheren Definition der idealen Rede (vgl. Bischoff 2003: 249f.). Stattdessen blieb ‚weibliche Rede‘ lange Zeit mit negativen Eigenschaften wie Geschwätzigkeit verbunden (vgl. Künzel 2003).

Hure, Heilige, Rebellin – Sichtbarwerdung ab dem 18. Jahrhundert

Im 18. Jahrhundert wurden Frauen als Rednerinnen (z. B. auf Theaterbühnen oder in der Literatur) sichtbarer und die weibliche Rede wurde nun zum aufkommenden Ideal der ‚Natürlichkeit‘ erhoben, die Rhetorik selbst dagegen als ‚künstlich‘ abgewertet (vgl. Tonger-Erk 2012: 460ff.; Bischoff/Wagner-Egelhaaf 2010: X). Dennoch befanden sich Frauen in einem diskursiven Spannungsfeld zwischen Hure und Heilige, zwischen lyrischer Idealisierung und parodistisch-satirischer Abwertung (vgl. Bischoff 2003: 271; Tonger-Erk 2012: 462).

Ab dem 20. Jahrhundert wurden Frauen im öffentlichen Raum unüberhörbar. Die Frauenbewegungen setzten sich erfolgreich für gleiche Bildungschancen und das Wahlrecht ein, sodass Frauen in Deutschland seit 1908 studieren und seit 1918 wählen und gewählt werden dürfen (vgl. Birn 2015, siehe auch Karl 2011). Diese Entwicklung sorgte auch für Kritik und Vorurteile: Den ersten Studentinnen wurde ihre Studierfähigkeit aufgrund vermeintlicher kognitiver und physischer Mängel abgesprochen und ihre Anwesenheit stellte eine ‚Gefahr‘ für die Konzentrationsfähigkeit männlicher Studierender und somit auch für die Sittlichkeit dar (vgl. Kirchhoff (2017 [1897]); Hausen 1986). Mit der voranschreitenden Emanzipation entstand ein Diskurs über die Eigenschaften der Geschlechter und deren Tauglichkeit zu einer wissenschaftlichen bzw. beruflichen Karriere.

Gesprächsrhetorik der Geschlechter

Die rhetorisch handelnde Frau sorgte in der Wissenschaft für ein reges Interesse am Kommunikationsverhalten der Geschlechter. Es bildeten sich verschiedene Ansätze zu seiner Erklärung heraus: Erste linguistische Forschungen vertraten in den 1920er-Jahren die Ansicht, dass das weibliche Gesprächsverhalten die von Natur aus defizitäre und minderwertigere Abweichung vom männlichen darstelle (Mauthner 1999; Jespersen 1925). In den 1970er-Jahren griffen feministische Linguist:innen diese These auf und formulierten die Defizithypothese, die in ihrem „Dominanz-Unterdrückungsansatz“ (Samel 2000: 153) aussagt, dass das männliche Gesprächsverhalten als Norm gelte und beispielsweise durch ein ausgeprägtes Interventionsverhalten und durch fehlende Minimalreaktionen gegenüber Kommunikationspartnerinnen dominiere. Weibliches Gesprächsverhalten werde hingegen durch seine kooperative, gesprächsfördernde Art und das Bestreben, Gleichheit unter den Gesprächsteilnehmenden herstellen zu wollen, als defizitär wahrgenommen, was dazu beitrage, Frauen einen niedrigeren, für die Karriere hinderlichen Status zuzuweisen (z. B. Fishman 1988; Trömel-Plötz 2007).

Mit dem später entwickelten Differenz- und auch mit dem (Un-)Doing-Gender-Ansatz wurde Kritik an der Defizithypothese geübt und es wurden neue Erklärungsansätze gefunden. Unterschiedliches Gesprächsverhalten wurde nicht mehr auf ein Defizit-Norm-Verhältnis zurückgeführt, sondern die Performanz (und Dekonstruktion) von Geschlecht aufgrund von Sozialisierung, Situation, Erfahrung und gesellschaftlicher Erwartungshaltungen rückte ins Zentrum (z. B. Heilmann 2002; Kotthoff 1992).

Mängelmanagement für Frauen

In den 1980er-Jahren entwickelte sich durch die zunehmende Präsenz karriereorientierter Frauen ein Markt für Rhetorik- und Karriereratgeber, die an die Erkenntnisse aus der Gesprächsforschung anknüpften (vgl. Tonger-Erk 2012: 459, 464f.). Die populären Rhetorikratgeber legten Frauen für eine erfolgreiche Karriere nahe, ihr ‚defizitäres‘ Gesprächsverhalten abzulegen und stattdessen erfolgreiche männliche Rhetorikstrategien zu übernehmen. Dabei sollten sie gleichzeitig ihre ‚Weiblichkeit‘ bewahren, wodurch ein stereotypes Geschlechterbild aufrechterhalten und eine geschlechtstypische Rhetorik fortgesetzt wurde (vgl. Tonger-Erk 2012: 465) – ein Grundthema, welches bis heute anhaltend in Frauenratgebern aus dem Bereich Rhetorik, Kommunikation und Karriere zu finden ist (z. B. Erickson 2021; Henningsmeyer 2021).

Auch der Fort- und Weiterbildungsmarkt bietet spezielle Kursformate an für Frauen, die generell an Rhetorikkursen interessiert sind oder sich aus beruflichen Gründen (z. B. beim Wiedereinstieg) weiterbilden möchten (vgl. Heilmann 1995: 143). Die Kurse knüpfen in ihren Ankündigungstexten ebenfalls an die Defizithypothese an, anstatt bspw. einen positiven Umgang mit weiblicher Gesprächskompetenz und individuellen Zielen hervorzuheben (vgl. Heilmann 1995: 146).

Forschungspotenzial für Gleichstellung

Mit meinem Habilitationsprojekt über die Vermittlung und Reflexion weiblicher Rhetorik und Kommunikation in Frauenförderprogrammen nehme ich, basierend auf den bisherigen Erkenntnissen der Rhetorik- und Gesprächsforschung, eine intensive Betrachtung und Evaluation von Kursangeboten im Hochschulbereich vor. Um Frauen in wissenschaftlichen Karrieren zu fördern und sie in Führungspositionen zu bringen, haben Hochschulen verschiedene modularisierte Mentoring-Programme für Nachwuchswissenschaftlerinnen aufgestellt (z. B. RWTH 2022), die unter anderem auch die Schulung von Kommunikationskompetenzen beinhalten. Mich interessiert hierbei, welche Inhalte in den Kursen vermittelt werden und inwieweit Defizittheorien immer noch Anwendung finden. Zur Beantwortung dieser Frage sollen Kommunikationsworkshops auf ihren Aufbau und ihre Inhalte hin analysiert werden. Darüber hinaus sollen die Nachwuchswissenschaftlerinnen über einen Fragebogen ihre Teilnahme an den Kursen evaluieren und reflektieren, um auf diese Weise Potenziale zur Weiterentwicklung der Kursformate zu extrahieren.

Literatur

Birn, Marco (2015): Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland. Das Streben nach Gleichberechtigung von 1869–1918, dargestellt anhand politischer, statistischer und biographischer Zeugnisse. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.

Bischoff, Doerte (2003): Die schöne Stimme und der versehrte Körper. Ovids Philomela und die eloquentia corporis im Diskurs der Empfindsamkeit. In: Bischoff, Doerte/Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.) (2003): Weibliche Rhetorik – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz. Freiburg im Breisgau: Rombach Litterae, S. 249–281.

Bischoff, Doerte/Wagner-Egelhaaf, Martina (2010): Einleitung. Rhetorik, (29), VII-XVI. https://doi.org/10.1515/9783110223262.0.VII

Erickson, Juliet (2021): Erfolgsfaktor Körpersprache. Wie Frauen selbstsicher auftreten. Mimik, Gestik und Co. – selbstbewusst und wirkungsvoll kommunizieren. London: DK Verlag Dorling Kindersley.

Fishman, Pamela M. (1988): Macht und Ohnmacht in Paargesprächen. In: Trömel-Plötz, Senta (Hrsg.): Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 127–140.

Fuhrmann, Manfred (2011): Die antike Rhetorik. Eine Einführung (6. überarb. Aufl.)Mannheim: Artemis & Winkler.

Hausen, Karin (1986): Warum Männer Frauen zur Wissenschaft nicht zulassen wollten. In: Hausen, Karin/Nowotny, Helga (Hrsg.) (1986): Wie männlich ist die Wissenschaft? Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 31–40.

Heilmann, Christa M. (2002): Interventionen im Gespräch. Neue Ansätze der Sprechwissenschaft. In Linguistische Arbeiten, Vol. 459. Tübingen: Niemeyer.

Heilmann, Christa M. (1995): Rhetorik für Frauen. Eine Analyse von Ankündigungstexten. In: Herbig, Albert F. (Hrsg.): Konzepte rhetorischer Kommunikation. Sprechen und Verstehen. Schriften zur Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. Band 7. Herausgegeben von Hellmut Geißner. Röhrig: Röhrig Universitätsverlag, S. 143–153.

Henningsmeyer, Anja (2021): Denn Sie wissen, was Sie tun. Wie Frauen erfolgreich verhandeln. Frankfurt am Main: Campus.

Jespersen, Otto (1925): Die Sprache, ihre Natur, Entwicklung und Entstehung. Heidelberg: Carl Winters Universitätsverlag.

Karl, Michaela (2011): Die Geschichte der Frauenbewegung. Ditzingen: Reclam.

Kirchhoff, Arthur (2017 [1897]): Die akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe (Nachdruck der Ausgabe von 1897). Norderstedt: Hansebooks.

Kotthoff, Helga (1992): Unruhe im Tabellenbild? Zur Interpretation weiblichen Sprechens in der Soziolinguistik. In: Günthner, Susanne/Kotthoff, Helga (1992) (Hrsg.): Die Geschlechter im Gespräch. Kommunikation in Institutionen. Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, S. 126–146.

Künzel, Christine (2003): Vergewaltigung, weibliche Zeugenschaft und das Problem der Glaubwürdigkeit. In: Bischoff, Doerte/Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.) (2003): Weibliche Rhetorik – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz. Freiburg im Breisgau: Rombach Litterae, S. 103–127.

Lunsford, Andrea A. (2003): Feminism and Rhetoric. Possible Alliances. In: Bischoff, Doerte/Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.) (2003): Weibliche Rhetorik – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz. Freiburg im Breisgau: Rombach Litterae, S. 51–60.

Mauthner, Fritz (1999): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Zur Sprache und zur Psychologie. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag.

Nühlen, Maria (2021): Philosophinnen der griechischen Antike. Eine Spurensuche. In der Reihe Frauen in Philosophie und Wissenschaft. Women Philosophers and Scientists. Wiesbaden: Springer VS.

RWTH (2022): Mentoring-Programm TANDEM Plus. Karrieregestaltung für Postdoktorandinnen. Zugriff am 09.08.2022 unter https://www.igad.rwth-aachen.de/cms/IGAD/Programme-Projekte/TANDEM-Mentoring/~jqhn/TANDEMplus-2015-18-.

Samel, Ingrid (2000): Einführung in die feministische Sprachwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt.

Tonger-Erk, Lily (2012): Actio. Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre. Berlin/Boston: Walter de Gruyter.

Trömel-Plötz, Selma (2007): Frauensprache: Sprache der Veränderung. München: Verlag Frauenoffensive.

Zitation: Sarah Heinemann: Frauen im Spannungsfeld von Weiblichkeit und rhetorischer Kompetenz, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 13.09.2022, www.gender-blog.de/beitrag/frauen-rhetorische-kompetenz/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20220913

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Dr. Sarah Heinemann

Sarah Heinemann ist Sprechwissenschaftlerin und als wissenschaftliche Beschäftigte am Lehrstuhl für deutsche Sprache der Gegenwart an der RWTH Aachen University in Forschung und Lehre tätig. Neben ihrem Habilitationsprojekt zur Vermittlung weiblicher Redekompetenzen in Frauenförderprogrammen lehrt sie im Bereich der Rede- und Gesprächsrhetorik und betreut das Lehrprojekt Forum Rhetoricum, das Studierenden eine zusätzliche Übungsplattform zur Entwicklung ihrer rhetorischen Kompetenzen bietet.

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