01. Juni 2021 Uta C. Schmidt
Jessica Bock entfaltet eine aufregende Demokratiegeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. In ihrer „Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980–2000“ betitelten Forschungsarbeit perspektiviert sie ein Geflecht von Akteurinnen, Räumen, Praxis- und Handlungsfeldern. Es ließ Öffentlichkeit jenseits der staatlichen Frauenbewegung in der DDR entstehen und stellte diktatorische wie patriarchale Herrschaft vielstimmig infrage. So wird Frauenbewegung als „Ursache und Gestalterin der ‚langen Geschichte des Wandels‘“ (S. 12) und aus Zäsur übergreifender Perspektive fassbar. "Frauenbewegung in Ostdeutschland" ist Bocks leicht überarbeitete Dissertation, die von Susanne Schötz (TU Dresden) und Ingrid Miethe (Universität Gießen) betreut wurde, beide Professorinnen mit DDR-Biografie und beide einschlägig ausgewiesen in Frauen-, Geschlechter- und Bewegungsforschung gleichermaßen.
Zwanzig Jahre – drei Phasen
Jessica Bock organisiert ihren Untersuchungszeitraum in drei Phasen: 1. Phase: Die nichtstaatliche Frauenbewegung in Leipzig (1980–1989), 2. Phase: Frauenbewegung im Umbruch (1989/90), 3. Phase: Frauenbewegung zwischen Aufbruch und Überlebenskampf (1990–2000). So kann sie Bewegungsgeschichte in Kontinuitäten, Brüchen, Ambivalenzen im sich zugleich wandelnden gesamtgesellschaftlichen Kontext schreiben und die wechselnden Formen des Zusammenspiels verschiedener Akteurinnen mikrohistorisch herausarbeiten. Diese Akteurinnen treten als eigensinnige Gestalterinnen historischen Wandels hervor.
Die Arbeit fußt auf dezidierter Kritik an bisherigen Forschungen zur ostdeutschen Frauenbewegung. Zumeist dem Paradigma der „Bewegungsforschung“ und einem „Opfernarrativ“ verpflichtet sind ihnen zutiefst westdeutsche Verhältnisse und Wissensanordnungen eingeschrieben, die die historische Situation in Ostdeutschland nicht zu erfassen vermögen. Stattdessen arbeitet Bock mit dem pragmatischen deskriptiven Modell der Geschlechterforscherin Ilse Lenz: Diese fasst Frauenbewegung als „mobilisierende kollektive Akteure“ (Lenz 2014: 29), die sich in Verflechtungszusammenhängen formieren und durch gemeinsam formulierte Anliegen, Interessen, Sprache, Machtbalancen, Organisationformen und Gelegenheitsstrukturen verknüpft sind. Sie reproduzieren und verändern sich im gemeinsamen Denken und Handeln. In einer Arbeit, die „Bewegung“ als Form, Inhalt und Prozess exponiert, wird „Frauenbewegung“ nicht essentialisierend oder homogenisierend verstanden, sondern als kollektive Akteurin in pluralen personellen, diskursiven, räumlichen und institutionellen Netzen. Mit diesem Modell lässt sich Quellenarbeit historisch ergebnisoffen und nicht a priori normativ organisieren.
Die Analysen beruhen auf umfassenden Quellenstudien in kommunalen, kirchlichen, staatlichen Archiven – darunter der Stasi-Unterlagenbehörde –, auf Recherchen in Bewegungsarchiven und auf Einsichten in viele private Unterlagen zwischen handgeschriebenen Notizen und Grauer Literatur. Zudem führte Jessica Bock 33 leitfadengestützte Interviews mit Zeitzeuginnen. Transkribiert ergaben diese einen 700-seitigen neuen Quellenfundus, der die institutionellen Überlieferungen um individuelle Erinnerungen und (lebens)geschichtliche Deutungen der Akteurinnen erweitert und diese wiederum für die Erinnerungskultur sichert.
Literarischer Feminismus
Nach einem einleitenden ersten Kapitel mit der Explikation von Forschungsfragen, -stand und -design skizziert Jessica Bock im zweiten Kapitel die Frauenpolitik der DDR: Diese exponierte ein Leitbild, das die Einbeziehung der Frauen in die gesellschaftliche Produktion als wichtigsten und fundamentalsten Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Frau vorsah, ohne allerdings das Geschlechterverhältnis als patriarchales Herrschaftsverhältnis mit zu verändern. Daraus ergaben sich gesellschaftliche Anforderungen, nach denen Frauen stets berufstätig, Mütter mehrerer Kinder und ohne Vereinbarkeitsprobleme zusätzlich in gesellschaftlichen Organisationen aktiv zu sein hatten (S. 39). Die staatliche Frauenbewegung in Gestalt des Demokratischen Frauenbundes folgte dieser Lesart. Erste alternative Weiblichkeitskonstruktionen artikulierten sich jedoch angesichts politisch restriktiver Öffentlichkeit als „Literarischer Feminismus“. Er ist als eine „wichtige Voraussetzung für das Wortergreifen der Frauen in der sich in den 1980er-Jahren formierenden ostdeutschen Frauenbewegung“ (S. 65) herauszustellen.
Vom Frauenzentrum zur Lila Pause
Das dritte Kapitel widmet sich der Zeit zwischen 1980 – der Formierung der „Frauengruppe für ein Frauenzentrum“ – und 1989 – dem inoffiziellen „Frauenkirchentag“ im Juli. In ihm beschreibt Jessica Bock nicht nur äußerst dicht die Entwicklung einzelner Gruppenbildungen, sondern auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen diese um eigene Positionen kämpften. Mit Beginn der 1980er-Jahre entstanden in Leipzig (und auch anderswo) auch erste Zusammenkünfte von Lesben, die 1989 als „Lila Pause“ eine Gegenöffentlichkeit zur heteronormativen DDR-Gesellschaft formierten. An vielen Stellen – nicht nur dort, wo es explizit um Zersetzungsmaßnahmen durch das Ministerium für Staatssicherheit geht – wird deutlich, mit welchen staatlichen Repressalien die Akteurinnen zu kämpfen hatten. Besonders eindrücklich sind die Passagen über das Muttersein in der Frauenbewegung: Muttersein war nicht nur ein Handlungsmotiv – so suchten die Frauen für den Frieden der gesellschaftlichen Militarisierung eine Friedenspädagogik für die (eigenen) Kinder entgegenzusetzen –, sondern zugleich „ein Gradmesser für das mit ihrem Engagement verbundene Risiko, seitens des Staates verfolgt und verhaftet zu werden“ (S. 135). Mütter waren durch Kinder erpressbar und deshalb dem Zugriff der Staatsmacht in besonders perfider Weise ausgesetzt. Ansatzpunkte für interessante Diskussionen dürfte zudem der Kapitelteil zum Feminismusbegriff vieler Leipziger Akteurinnen bieten, in dem eigene, auf dem DDR-Patriarchat beruhende politische Konzeptionen aufscheinen.
Frauen braucht das Land
Das vierte Kapitel rückt die ereignisreiche Zeit zwischen September und Dezember 1989 in den Mittelpunkt, als sich Akteurinnen, Themen, Organisationsformen, Handlungsräume, Netzwerke der Frauenbewegung allumfassend wandelten. Jessica Bock entfaltet dies am Beispiel der Fraueninitiative Leipzig. Der frauenpolitische Gestaltungswillen zeigt sich in einer kleinen Geschichte: Als Petra Seyde vor der Nicolai-Kirche ein Plakat mit dem Ina-Deter-Zitat „Neue Männer braucht das Land“ erblickt, kommentiert sie dies mit den Worten: „Wieso eigentlich neue Männer? Die hatten doch ihre Chance“ (S. 222). Die Desillusionierung über das Fortleben des Patriarchats auch in Bürgerrechtsbewegungen wie dem Neuen Forum äußerte Gesa Pankonin: „Weil die Dinge, die wir eigentlich tun wollten, immer darunter litten, dass irgendwer sich da wichtigmachen musste, [sic] oder dass die Frauen abgeschoben wurden, auf irgendwelche Klischee-Rollen“ (S. 262). Die Arbeit zeigt das Spannungsverhältnis zwischen erneuter Marginalisierung der Frauenfrage und den immensen Anstrengungen, mit Frauenpolitik präsent zu sein und sich repräsentiert zu sehen. In einer Doppelstrategie aus Integration in das politische System und autonom arbeitenden Gruppen versuchte die Fraueninitiative Leipzig, sich langfristig in den neu entstehenden politischen Strukturen festzusetzen.
Frauenvereinslandschaft
Kapitel 5 fokussiert die ostdeutsche Frauenbewegung zwischen 1990 und 2000. Es beginnt mit dem Umbau des Wirtschaftssystems in den fünf neuen Ländern, der alles andere als geschlechtsneutral ablief. Jessica Bock argumentiert hier, dass die ab 1990 einsetzende „Etablierung und Ausdifferenzierung der Frauenvereinslandschaft“ (S. 320) nicht nur als Beleg für eine aktive Frauenöffentlichkeit und die wachsende politische Bedeutung der Frauen- und Gleichstellungsfrage interpretiert werden darf, sondern vor allem als „Antwort auf die nicht erfolgte Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse“ (S. 320). Und sie zeigt, wie die gerade erst erkämpften Räume und Angebote ab 1993/94 wieder zur Disposition standen.
Mit ihrer Forschung hält Jessica Bock Erfahrungen von Frauen als Akteurinnen historischen Wandels fest. Zahlreiche Details zur Bedeutung von Emotionen für soziale Bewegungen, zu Mobilisierungsformen in telefonlosen Zeiten, zu Bewegungsmedien im Wandel, zu weiblicher Artikulationsmöglichkeit in der Diktatur oder lesbischem Bewusstsein im heteronormativen DDR-Patriarchat lassen die Herausforderungen der politischen Arbeit greifbar werden. Im Erzählen der Frauenbewegung in Leipzig zwischen 1980 und 2000 findet sich zugleich der Vorgang des Erklärens – es ist eben ein historisches Buch mit narrativer Struktur. "Frauenbewegung in Ostdeutschland" zeigt nicht nur deutsche Demokratiegeschichte, sondern macht klar und deutlich: Feministisches Bewusstsein braucht auch ein feministisches Geschichtsbewusstsein.
Das Buch Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980─2000 von Jessica Bock ist 2020 im Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) erschienen.
Literatur
Lenz, Ilse (2014), Changing Agents of Change? Anmerkungen zur Transformation sozialer Bewegungen am Beispiel der neuen Frauenbewegung, in: Mittag, Jürgen (Hg.), Theoretische Ansätze und Konzepte in der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft, Essen: Klartext Verlag, S. 359–378.
Zitation: Uta C. Schmidt: Frauen- und Geschlechtergeschichte als Demokratiegeschichte, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 01.06.2021, www.gender-blog.de/beitrag/frauengeschichte-geschlechtergeschichte-demokratiegeschichte/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210601
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