20. Juni 2023 Veronika Simetzberger
In einschlägigen Wissensfeldern ist inzwischen anerkannt, dass eine transdisziplinäre Zusammenschau der traditionell verstandenen reproduktiven Aufgaben von Frauen für den Erkenntnisgewinn notwendig ist. Hierbei stellen sich Fragen nach der sozialen Konstitution und Konstruktion der mit dem Biologischen verknüpften Institutionen der Mutter- bzw. Elternschaft. Auch wird der Ruf nach einer wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und individuellen Bewusstseinsschärfung für eine Trennung zwischen biologischem Ereignis der Geburt und daran geknüpfte soziale Implikationen laut. Vor diesem Hintergrund müssen auch die potenzielle Idealisierung und Inszenierung von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft betrachtet werden. Diese nach wie vor in den meisten Humanwissenschaften – abgesehen von der Medizin – als Randthemen behandelten Phänomene wurden mit der Tagung „Gebären – Geburtshilfe – Mutterschaft in Geschichte und Gegenwart“ vom 20. bis 21. April 2023 in Magdeburg in den Fokus gerückt.
Die zeitliche Perspektive der Tagung beschränkte sich nicht auf historische Entwicklungen. Vielmehr zeichnete sich in den Beiträgen eine sich aktuell verstärkende Relevanz und vermehrte Auseinandersetzung mit dem Themenbereich ab. Die interdisziplinäre Tagung gliederte sich in drei Sektionen. An die Frage nach den Ansprüchen an Schwangere unter dem Titel „Fertilität, Natalität, Schwangerschaft“ schloss sich der zweite Teil zu „Geburt, Gebären, Mutterschaft“ an. Zum Abschluss wurden Fragen rund um die Hebammenkunst und den Konflikt mit einer sich medikalisierenden Geburtshilfe verhandelt.
Die liebende Mutter baut Nester
Der erste Beitrag von Lisa Malich (Lübeck) adressierte die sozialen Konstrukte rund um Schwangerschaft und Geburt und kritisierte die gesellschaftliche Aneignung des „Nestbauinstinkts“. Die Übertragung der von Biologen im 19. Jahrhundert entdeckten Verhaltensweisen von Vögeln auf menschliche Schwangere und die Unterstellung, Frauen würden ebenfalls ihre „Nester“ vorbereiten, basiere auf einer geschlechtsbezogenen Interpretation des Verhaltens im Tierreich. Im Rahmen eines somatischen Erklärmodells, so Malich weiter, würden psychische und soziale Phänomene bei Menschen durch Beobachtungen im Tierreich erklärt und so als „natürliche“ Verhaltensweisen deklariert. Mit dem Bedeutungswandel des aus dem Tierreich stammenden Begriffs ‚Nest‘, der sich auf das Private/Familiäre beziehe und gleichzeitig im Inneren der Frau lokalisiert wurde (vgl. bspw. „Einnistung“ (der Eizelle) als medizinischer Begriff), ging eine Popularisierung des Konzepts in der Ratgeberliteratur einher. Im Zuge dessen fand auch die Auffassung der Hormonalisierung und Emotionalisierung der Schwangerschaft gesellschaftliche Anerkennung und Verbreitung.
Mythisches Familienverständnis
Thematisch passend stellte Sabine Toppe (Berlin) vormoderne Entwicklungen von Mutter- bzw. Elternschaftsauffassungen vor. Sie fragte nach einem potenziell mythischen Familienverständnis, zeigte dessen historische Wandlung und die damit einhergehende Kontextrelativität. Während Familie erst als Haus im Sinne der Ökonomie verstanden wurde, wie wir sie auch in der Antike finden, so verlagerte sich die Bedeutung über das, was als Privates verstanden wurde, zur Kernfamilie. Dem Mythos der Großfamilie in der frühen Neuzeit stehe die Tatsache der durchschnittlich fünfköpfigen Familie entgegen. In ihrem Vortrag zeigte Toppe jene Entwicklungen auf, die zu einem gefühlvollen Bindungsverständnis führten, das dem Vater als pater familiaris die Verantwortung für die Familie zuwies, während die Mutter für die Kindererziehung, den Familienzusammenhalt und die reproduktiven Tätigkeiten zuständig sein sollte. Die ab den 1720er-Jahren entstehenden Anthropologien der Frau erforschten die weibliche Biologie, wobei sich gleichzeitig angeblich wissenschaftliche Beweise und Begründungen für die notwendige Verortung der Frau im privaten Haushalt finden ließen. Mit diesen Entwicklungen gehe auch der Mythos von der Mutterliebe einher, der sich ebenfalls ab der Mitte des 18. Jahrhunderts etablierte.
Gesellschaftliche und medizinische Normen in der Geburtshilfe
Lotte Rose (Frankfurt) stellte ihre ethnografische Untersuchung von Geburtsvorbereitungskursen vor. In ihrem Projekt kritisierte sie den an Schwangere bzw. erwartende Eltern gerichteten Bildungsimperativ, der zu einer Verantwortungsverschiebung hin zu den Gebärenden führe, was sie als „neoliberale Responsibilisierung“ bezeichnete. Verbreitet, so rezipierte sie ihre Untersuchungen, wäre die normative Aussage von Hebammen, Gebärende sollten im Kreißsaal selbst bestimmen, was sie möchten. Gleichzeitig relativierten Hebammen diese Aufforderungen regelmäßig mit der Information, dass es immer auch anders kommen könnte. Dem Beitrag folgte eine lebhafte Diskussion. So wurde gefragt, welche Alternativen zur Responsibilisierung bestünden und darauf hingewiesen, dass ein Diskurs über vorherrschende Mechanismen und Strukturen, denen Hebammen unterlägen, dringend notwendig sei.
Der Beitrag von Annekatrin Skeide (Jena) ging auf diese Ambivalenz, dass alles immer auch anders kommen könne, in der Hebammentätigkeit besonders ein. Skeide untersuchte hebammenspezifische Wissensformen praxeografisch und stellte im Ergebnis fest, dass das, was gemeinhin als Physiologie – also „normal“ – verstanden wird, auch zur Norm wird, an der Verläufe, Zustände etc. gemessen werden. Sie spricht von der Physiologie als Norm. Daraus ergibt sich eine Problematik einerseits ganz allgemein durch eine nicht klar definierbare Grenze zwischen dem Physiologischen und dem Pathologischen. Hinzu kämen andererseits kulturelle und international feststellbare Unterschiede in der Definition bspw. von Geburtsverläufen und physiologischen Gegebenheiten sowie die Erkenntnis, dass durch diagnostische Verfahren gewonnene Daten nicht immer die Realität widerspiegeln. Dies und die grundsätzliche Möglichkeit, diese Daten mehrdeutig interpretieren zu können, beeinflusse die Erzeugung von Normen und wie mit ihnen umgegangen werde. Skeide schlägt daher einen kreativen Umgang mit Normen vor, um ein kontextrelatives Physiologieverständnis zu fördern.
Neuere Entwicklungen in der Geburtshilfe bzw. -medizin und das damit einhergehende veränderte Berufsbild von Hebammen sowie von Geburtshilfe leistenden Ärzt:innen wurden von Marita Metz-Becker (Marburg), Sophie Fäß (Basel) und Eva Labouvie (Magdeburg) vorgestellt.
Tabus im reproduktiven Kontext
Julia Böcker (Lüneburg) widmete sich dem nach wie vor tabuisierten Schwangerschaftsverlust. Sie untersuchte neben rechtlichen Rahmenbedingungen, bspw. zu Bestattungsmöglichkeiten bei Fehlgeburten, individuelle Umgangsweisen mit dem disruptiven Ereignis des Zusammenfalls von Geburt und Tod. Dabei stellte sie fest, dass sich der Umgang damit unterscheidet, je nachdem, ob bereits eine Vorstellung des Ungeborenen bestand oder auch, ob nach der Geburt ein tatsächlicher Kindskörper vorhanden war. Wenn die Eltern ihr Kind sehen können, verändert dies für Viele die Wahrhaftigkeit des Geschehens. Durch professionelle Begleitung bspw. durch eine Hebamme und formalrechtliche Anerkennungsakte wie die Ausstellung von Geburts-/bzw. Todesurkunden, erfahren Betroffene zudem Gewissheit und es kann ein erster Grundstein für eine noch ausstehende notwendige Enttabuisierung und einen offeneren Umgang gelegt werden.
Auch Tina Jung (Magdeburg) adressierte mit ihrem Schwerpunkt ‚Gewalt in der Geburtshilfe‘ ein tabuisiertes Thema und stellte fest, dass der Gewaltbegriff kulturrelativ unterschiedlich aufgefasst wird. Sie verwies auf die Mehrdimensionalität von Gewalt in der Geburtshilfe, die sich unterschiedlich zeigen kann. Weil sowohl Geburt als auch Gewalt immer in soziale Kontexte eingebettet sind, vermutet Jung jedoch auch eine Form geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung in diesem Zusammenhang.
Gebären ist weiblich
Abschließend kann bemerkt werden, dass Geburt in allen Beiträgen als geschlechtsbezogene Erfahrung dargestellt wurde. Es lohnt sich aber, auf das Verhältnis zwischen Geburt und Geschlecht tiefer einzugehen und damit in Zusammenhang stehende Normen zu hinterfragen, wie ich im Rahmen meiner Dissertation noch zeigen möchte. Denn wenngleich es so aussieht, als wäre die Verknüpfung zwischen Weiblichem und Gebären ‚natürlich‘ und ‚naturgegeben‘, lässt sich mit West und Zimmermann (1987) die Frage stellen, ob dieser Konnex schlicht gegeben oder nicht auch Teil einer Genderinszenierung ist (West/Zimmermann 1987: 125ff.). Die Tagung zeigte die sich seit ca. 40 Jahren vollziehende Integration des Phänomens der Geburt in die Geistes- und Sozialwissenschaften auf und lieferte grundlegendes und aktuelles Wissen darüber.
Ausgelassen wurden Themen, die auf eine mögliche Aufspaltung von Geschlecht und Geburt hinwiesen und die Grundannahme, dass Gebären weiblich sei, in Frage stellten. Doch sind Beiträge aus der Perspektive der tradierten Genderbinarität hilfreich und notwendig, um einerseits auf den Konnex zwischen Geburt und Geschlecht hinzuweisen, andererseits auch, um überhaupt Möglichkeiten zu etablieren, diese Verbindung gedanklich zu trennen oder anders zu denken.
Literatur
West, Candace & Zimmermann, Don H. (1987): Doing Gender. Gender & Society, 1(2), 125–151. https://doi.org/10.1177/0891243287001002002
Zitation: Veronika Simetzberger: Gebären – Geburtshilfe – Mutterschaft: Historische und aktuelle Perspektiven, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 20.06.2023, www.gender-blog.de/beitrag/gebaeren-geburtshilfe-mutterschaft/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230620
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