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Debatte

„Gender mich nicht voll“? Genau!

18. Dezember 2018 Dirk Schulz

„Genderismus“, „Gender-Ideologie“, „Gender-Gaga“, manchmal auch „Umerziehungsprogramme“ und „Minderheitenpolitiken“: Im öffentlichen Diskurs werden Gender Studies aus verschiedenen Richtungen angegriffen, bezüglich ihrer Wissenschaftlichkeit diskreditiert und diffamiert und zuweilen in ihrer unterstellten Wirkungsabsicht dämonisiert. In Ungarn wurden sie dieses Jahr sogar per Regierungsbeschluss verboten. Die Schmähungen, Verleumdungen und Sanktionen entspringen offensichtlich – absichtlichen? – Missverständnissen, die eher als ein Indiz von Panik, von Unwissenheit oder beidem gemeinsam zu verstehen sind. Denn gerade die Gender Studies sind es, die von Beginn an „Genderismus“ im Sinne von Geschlechterdichotomien hinterfragt haben.

Populistische Umdeutungen

Die verwendeten Schlagworte, die Unterstellung der angeblichen wissenschaftlichen „Unreinheit“, einer „Ideologisierung“ von/durch Gender Studies, sind dezidiert abwertend bzw. abweisend. Gender Studies werden in den Angriffen wahlweise lächerlich gemacht oder aber als Bedrohung der bestehenden geschlechtlichen – und damit scheinbar unvermeidbar einhergehend gesellschaftlichen – Ordnung inszeniert. Die Angriffe sind vor allem als Deutungshoheitsgesten bzw. als populistische Umdeutungen zu verstehen. Schließlich verdrehen und vereinheitlichen sie die Ergebnisse umfassender, interdisziplinärer Analysen von etablierten, vergeschlechtlichten (Wissens-)Diskursen, naturalisierten Geschlechterkonstruktionen und -verhältnissen als gemeinsame Bezüge und Untersuchungsgegenstände von Geschlechterforschungen. Sie überschreiben mit ihrem offenkundigen Spott die tiefgründige Analyse von und Kritik an einer naturalisierten Geschlechterdichotomie und deren Auswirkungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene, indem sie diese als Geschlechterideologie umdeuten.

„Gender“ ist eine Analysekategorie

Es sind aber eben nicht die Gender Studies – ohnehin ein sehr heterogenes Forschungsfeld –, die „Gender“ erst in die Welt gebracht haben bzw. bringen, oder „das Gendern“ erfunden haben bzw. noch verstärken wollen! Vielmehr verstehen Wissenschaftler*innen in diesem Feld „Gender“ als Analysekategorie, als eine durch Wiederholung diskursiv und performativ naturalisierte, wirkmächtige Konstruktion, die zu binären Zu- und Festschreibungen von Personen und den damit einhergehenden Zuordnungen und Hierarchisierungen führt. Es geht in den Gender Studies vor allem um eine Entessentialisierung, Entbinarisierung und Enthierarchisierung von „Gender“. Darum wäre es auch innerhalb der Gender Studies selbst wichtig, bei Formulierungen achtsam zu sein: Formulierungen wie beispielsweise „eine gegenderte Sprache zu verwenden“, „in Gender-Zentren zu arbeiten“, „Gender zu unterrichten“ suggerieren eine (Re-)Produktion des eigentlich problematisierten Untersuchungsgegenstandes.

Heteronormativismus als verinnerlichtes Prinzip

Allerdings: wenn die „Gegebenheit“ der Geschlechterdichotomie, wenn Heteronormativität nicht als eine naturalisierte und derzeit leitende Ideologiematrix von Geschlecht und Sexualität herausgestellt werden darf (wie es in Ungarn besonders drastisch deutlich gemacht wurde), wenn sie als eine natürliche – oder „göttliche“ – Ordnung anerkannt und aufrecht erhalten bleiben soll und nicht als eine soziale Ordnung in Frage gestellt werden kann, müssen viele Ausgangspunkte und Befragungen der Gender Studies als wissenschaftlich unbegründet, sozial unverantwortlich und persönlich verstörend angesehen werden. Schließlich beziehen sich doch Fragen von Geschlecht und Sexualität scheinbar auf das, was Viele als ihr persönlichstes, intimstes Selbst wahrnehmen, als „innere Wahrheiten“ und damit wesentliche Existenzbedingungen.

Und hierin liegt die Krux: von „Umerziehungsprogrammen, Indoktrination und Minderheitenpolitik“, von „Gender-Ideologie, Genderismus und Gender Gaga“ durch die Gender Studies kann nur gesprochen werden, wenn die Ideologie der Geschlechterdichotomie weiterhin als „natürlich“ anerkannt und Heteronormativismus als verinnerlichtes Prinzip wirkmächtig bleibt. Dies wird besonders im absurden Plädoyer für eine „freie Entfaltung“ von Kindern deutlich, die erst einmal „ihre eigene Identität“ finden und darum von „LGBTTIQ…-Themen“ in der Schule „verschont“ bleiben sollen. Das Ziel dieser „freien Entfaltung“ kann dann doch aber offenkundig nur darin bestehen, ihnen erst einmal Heteronormativität als leitendes Identitätsprinzip und „biologische Norm“ zu Genüge vermittelt zu haben und ihre „Freiheit“ damit erheblich einzuschränken.

„Natürliche Ordnung“ versus „Gleichmacherei“

Es sind immer wieder binäre, hierarchisierende Logiken, nicht nur von „männlich/weiblich“, „hetero/queer“, sondern vor allem auch von „Wissenschaft/Politik“, „Wir/Andere“, „Mehr-/ Minderheiten“, „Norm/Abweichung“, „Zentrum/Peripherie“, die den Blick für die umfassenden und gesamtgesellschaftlichen Erkenntnisinteressen und Wissenserträge von Gender Studies verstellen. Ihre gründlichen Befragungen von geschlechtlichen und sexuellen „Identitäten“ als naturalisierte soziale, diskursive, performative und heteronormative Hervorbringungen werden darum von Vielen als zumindest wissenschaftlich illegitime Versuche angesehen, eine etablierte und unterstellt „natürliche Ordnung“ zu verzerren. Aus der in den Gender Studies weit verbreiteten Insistenz auf Uneindeutigkeit und Dekonstruktion werden dabei – ironischerweise – „Gleichmacherei und Genderismus“ bzw. eine wissenschaftlich nicht fundierte Ideologie, die sich gegen Naturgesetze- und nicht gegen soziokulturell naturalisierte Gesetzmäßigkeiten und deren Verteilungs- und Verwerfungsmechanismen wendet.

Theorie und aktivistische Intervention

Meines Erachtens können die Schmähungen der Gender Studies nur im Kontext einer gesellschaftlich größer werden Panik vor der Offenlegung der Konstrukthaftigkeit der Geschlechterbinarität und ihren heteronormativen Ableitungen verstanden werden. Im Grunde geht es in der medialen Debatte nicht um die Frage der unterstellt fehlenden „Wissenschaftlichkeit“ des Feldes. Weshalb ich auch nicht für eine „Verteidigung“ der Gender Studies durch die klare Trennung von Wissenschaft und Politik einstehen würde. Schließlich können Gender- und Queer Studies durchaus als wichtiger Teil tiefgreifender konzeptioneller und politischer Veränderungen bezeichnet werden. Zumindest wurden diese durch Wissenserträge aus diesen Feldern stark unterstützt. Die Neudefinition von „Ehe“, die Umsetzung der „dritten Option“ durch das Gesetz oder die Streichung von trans* aus der Klassifikation psychischer Störungen durch die Weltgesundheitsorganisation – leider wird inter* immer noch auf der Liste der „Dysfunktionen“ geführt – gründen sich beispielsweise aus dem Zusammenwirken theoretischer, aktivistischer, diskursiver, performativer und sozialer Interventionen.

Keine Option „für Alle“

All diese Veränderungen wirken sich sowohl auf institutioneller als auch auf öffentlicher Ebene aus und treffen daher auf unterschiedliche Empfindlichkeiten. Die neuen Gesetze und Konzeptionen können ein Umdenken, Neuordnungen und Umstrukturierungen hervorrufen. Allerdings wird auch hier wieder sehr schnell deutlich, dass Heteronormativität und Geschlechterdichotomie letztlich auf keinen Fall gefährdet werden dürfen. Darum ist die „Ehe für Alle“ keine Ehe für Alle und die dritte Option keine Option für Alle. Diese wurde vor einigen Tagen, am 13.12.2018, offiziell eingeführt, allerdings bedeutet der Eintrag „divers“ im Geburtenregister durch den jetzigen Bundestagsbeschluss eine eindeutige Zuordnung zu einer „biologischen Minderheit“ – rückwirkend und auch nur durch ein ärztliches Attest. Das ist keine selbstbestimmte Wahlmöglichkeit. In einer Gesellschaft, die Heteronormativität nicht nur als selbstverständlich betrachtet, sondern auch als ihre wesentliche und natürliche Grundlage anerkennt, müssen tatsächliche Dekonstruktionsmöglichkeiten offenkundig immer wieder verunmöglicht werden.

Erkenntnispotential und gesellschaftsverändernde Kraft

Erkenntnisse der Gender Studies, die die Konstruktion(smechanismen) von Geschlecht und Sexualität analysieren und offenlegen und die konzeptionellen Dichotomien, auf denen sie beruhen, problematisieren, müssen aus denselben Gründen ebenfalls diskreditiert und als unwissenschaftlich ausgegrenzt werden. Heteronormativität muss als ein „Naturgesetz“ fortbestehen und wissenschaftlich unantastbar bleiben, notfalls durch einen Regierungsbeschluss, wie dieses Jahr in Ungarn. Gerade in einem gesellschaftlichen Klima wachsender Angstmache, erhöhter Grenzziehungsversuche und der Beschwörung „klarer und gesicherter Verhältnisse“, die sich binärer, oppositionierender Denkweisen bedient, ist es eine große und nicht leichter gewordene Aufgabe der Gender Studies, die Offenheit, Partikularität und gesellschaftliche Situiertheit jedes Wissens im Namen einer weniger gewalttätigen und ausschließenden Welt zu verteidigen.

Weiterführende Links:

Tag der Gender Studies #4genderstudies

Fachgesellschaft Geschlechterstudien https://www.fg-gender.de

Gender Studies Zentren und Studiengänge https://www.genderstudies.de

GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft http://www.gender-zeitschrift.de

Zitation: Dirk Schulz: „Gender mich nicht voll“? Genau!, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 18.12.2018, www.gender-blog.de/beitrag/gender-mich-nicht-voll-genau/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20181218

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

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Dr. Dirk Schulz

Dirk Schulz ist promovierter Anglist und Geschäftsführer von GeStiK - Gender Studies in Köln. Dort lehrt er im Zertifikatsprogramm sowie im fakultäts- und hochschulübergreifenden Masterstudiengang "Gender & Queer Studies". Seit 2018 ist er ein Sprecher* der KEG (Konferenz d. Einrichtungen für Frauen- & Geschlechterstudien im deutschsprachigen Raum) sowie Redaktionsmitglied beim Open Gender Journal. Forschung- und Publikation vor allem in Gender/Queer Studies, Literatur- & Kulturwissenschaften.

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