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Forschung

Grenzüberschreitung und Distanzierung – Geschlechterforschung in universitären Toiletten

26. Januar 2021 Rabea Krollmann Rebecca Schmidt Annika Spill

Als die Universität Bielefeld im Jahr 2018 vier Toilettenräume in All-Gender-Toilettenräume umbauen ließ, hieß es vonseiten des AStA, die „‚Umetikettierung von Toiletten‘ sei nur ein ‚kleiner Schritt in Richtung geschlechtergerechte Hochschule‘“ (Rother 2018). Dass die Maßnahmen nicht nur begrüßt wurden, zeigt die anonyme Beschädigung der Toilettenräume nach den Umbaumaßnahmen.

Toilettenräume werden damit zu Aushandlungsplätzen der Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit Personen, die sich eindeutigen Zuordnungen von weiblich oder männlich entziehen. In unserem Alltag sind sie Orte, in denen das „System der Zweigeschlechtlichkeit“ (Riegraf 2010, 59) seine Wirkmächtigkeit in gelebter Praxis entfaltet. Wer die Toilette als Ort des Alltäglichen aufsuchen möchte bzw. muss, dem wird – außer bei All-Gender-Toiletten – abverlangt, sich in das binäre Geschlechtersystem einzuordnen. Geschlecht wird somit im „alltäglichen, interaktiven Tun“ (West/Zimmerman 1987, 140) des Toilettengangs hergestellt. Anhand der räumlichen Vorgaben wird deutlich, dass Geschlecht „überindividuell angelegt“ (Böth 2018, 16) ist, was in den meisten Fällen eine binäre Auslegung meint. So wird durch die alltägliche Praxis des Toilettengangs die binäre Geschlechterlogik aufrechterhalten und aktualisiert. Wir haben in unserem Projekt am eigenen Leib erfahren und praxistheoretisch analysiert, wie handlungsleitend diese und daraus resultierende Praktiken sind.

Forschen auf dem „stillen Ort“

Um sich der Frage anzunähern, wie Geschlecht in sozialen Praktiken als sozialer Sinn erzeugt wird, haben wir Damen-, Herren- und All-Gender-Toiletten an der Universität Bielefeld mittels eines qualitativen Methoden-Mix untersucht. Die Toilettenräume wurden von uns als Forscher*innen sowie von Student*innen unterschiedlicher Fachrichtungen, die wir als Proband*innen für unser Projekt gewinnen konnten, fotografiert und diese Fotografien verglichen. Außerdem wurden Raumpläne und Artefakte in Toilettenräumen analysiert sowie verdeckte ethnografische Beobachtungen durchgeführt.
Eine Forscher*in besuchte dabei verschiedene Toilettenräume der Universität zu stark frequentierten Zeiten. Dort wurden Praktiken der anderen Besucher*innen beobachtet und mittels eines Handys notiert. Das Handy als ein Artefakt des Alltags versprach eine unauffällige Notation, um nicht als Forscher*in erkannt zu werden. Durch die Einreihung in die Schlange vor den Kabinen, das Betreten einer Kabine, das Waschen und Abtrocknen der Hände und den Blick in den Spiegel wurde sie ebenfalls zu einer Teilnehmer*in im Feld. So gerieten neben dem Handeln der anderen Besucher*innen auch die eigenen Praktiken und Aushandlungsprozesse mit weiteren Besucher*innen in den Fokus und konnten in unsere Überlegungen einbezogen werden.
Wir konnten feststellen, dass an unterschiedlichen Stellen Momente der Hemmung gegenüber der Aufgabe, die Toilette forscherisch in den Blick zu nehmen, auftraten.

Offene und geschlossene Türen – Methodische Zugänge und Grenzen

Für unsere Forschung haben wir, als methodisches Vorgehen, praxistheoretische Zugänge gewählt. Praxistheorie ist eine materiale Analyse, die in unterschiedlichen Feldern der Sozialforschung angewendet wird. Artefakte erhalten hierbei eine besondere Signifikanz, da sie erst bestimmte Verhaltensweisen ermöglichen oder begrenzen (vgl. Reckwitz 2003, 284). So fordern etwa die bauliche Konstruktion von Toilettenräumen und die darin enthaltenen Artefakte (Türsymbole, Hygienemülleimer, Urinal) dazu auf, sich einem Geschlecht zuzuordnen. Das Zusammenspiel zwischen den Perspektiven der Praxis- und Geschlechterforschung gab uns die Möglichkeit, das eigene Erfahrungswissen in den Forschungsprozess einzubringen.

Im Forschungsprozess wurde z. B. deutlich, dass die eigene Geschlechtsidentität als Frau [1] für Unbehagen bei der Untersuchung von Herrentoiletten sorgte. Eine (verdeckte) Beobachtung von Praxen auf der Damen- bzw. All-Gender-Toilette löste im Vergleich dazu weniger Hemmungen aus. Die eigene Geschlechtsidentität bzw. die gesellschaftliche Zuschreibung zu einem Geschlecht wurde so zu einem Mechanismus, der den Zugang zu einem bestimmten Forschungsfeld verwehrt. Die geschlechtliche Zuschreibung, die vom Feld an die forschende Person gestellt wird, besitzt somit Handlungsrelevanz und beeinflusst die Forschungspraxis. Es ist beispielsweise nicht ohne Weiteres möglich, dass eine weiblich gelesene Person sich mit der Methode der Beobachtung den Praktiken auf der Herrentoilette nähern kann. Hieran lässt sich nachvollziehen, dass Mechanismen binärer Geschlechterzuordnung auch im Forschungskontext wirkungskräftig sind und aufrechterhalten werden.

Grenzüberschreitungen: Scham und Intimität

In der Praxis des Toilettengangs wird Geschlecht nicht nur hervorgebracht, die Toilette ist auch ein Ort, der generell eine hohe Intimität erzeugt, beispielsweise durch die Entkleidung am Urinal oder in der Kabine. Diese Intimität löste ihrerseits Effekte in unserer forscherischen Praxis aus, indem sie sich nicht nur fremd und unangenehm anfühlte, sondern auch unsere zunächst angestrebte Position als leiblich wenig affektierte Forscher*innen störte. Gerade ,das Intime‘ sorgte ganz im Gegenteil für eine besondere leibliche Affizierung, beispielsweise durch Momente von Scham bzw. Handlungen, die an die Erwartung an solche Momente geknüpft waren. Das Wissen um die hohe Intimität der Praxis des Toilettengangs, speziell die Vorgänge des Urinierens und Defäkierens, ist offenbar so inkorporiert, dass weder wir Forscher*innen noch die Proband*innen dies näher untersuchen, fotografieren und damit öffentlich machen wollten. Das lässt sich auch in den Artefakten unserer Forschung ablesen: Hektische Fotoaufnahmen und Beobachtungen sowie entdecktes Mithören bei Gesprächen sorgten für Irritation, da die Intimität gestört wurde.

Weiterhin konnten wir auch in den Fotografien inkorporierte Praktiken des Toilettengangs entdecken, die eine Wiederholung von tradierten Geschlechterverhältnissen zeigten. Sieben Student*innen wurden aufgefordert, Toilettenräume, denen sie sich geschlechtsspezifisch zugehörig empfanden und Toilettenräume, bei denen dies nicht zutraf, zu fotografieren. Auch zwei der Forscher*innen fotografierten die unterschiedlichen Toilettenräume. Dabei traten an unterschiedlichen Stellen Momente der Hemmung bzw. des Unbehagens gegenüber dieser Aufgabe auf. Unbehagen und Scham löste beispielsweise aus, wenn Proband*innen Toiletten fotografieren sollten, deren geschlechtlicher Markierung sie sich nicht zuordneten. In allen Fotografien konnten inkorporierte Praktiken des Toilettengangs festgestellt werden, die eine Wiederholung von tradierten Geschlechterverhältnissen enthielten.

Grenzziehungen gegenüber Artefakten

Es war darüber hinaus auffällig, dass sich Forscher*innen wie Proband*innen der Toilettenschüssel bzw. dem Urinal nur mit einem großen Widerwillen näherten. Hier wird das Setting an einem öffentlichen Ort relevant, im Vergleich dazu ist in den eignen vier Wänden ein nahes Herantreten an dieses Objekt alltäglich, beispielsweise bei der Reinigung. Es wird also eine zweite Grenzziehung deutlich, da unsere Untersuchung zwar die ganze Zeit um die Praxis des Toilettengangs kreiste, aber vor der Schwelle der Kabine stoppte. In diesem Zusammenhang sind auch die Fotografien der Forscher*innen sowie der Proband*innen interessant. In beiden Fällen wurden die Toilettenräume sowie die Kabine und die sich darin befindenden Urinale und WC-Schüsseln immer aus einer distanzierten Perspektive aufgenommen. Es scheint, als sollte so ein ‚objektiver‘, ‚forscherisch-professioneller‘ Blick erzeugt werden, in dem sich Praktiken der akademischen Standards und Etikette von Forschung wiederfinden (vgl. Gugutzer 2017; Knorr-Cetina 2001).

Geschlecht erzeugende Praktiken – wo sind sie zu finden?

Dies trifft gewissermaßen auch auf die Inblicknahme von Geschlecht zu. Im Forschungsprozess wurde Geschlecht vor allem auf einer materiellen/materialisierten Ebene ‚gesucht‘. Die architektonische Verteilung der Toiletten, die Aufteilung in Herren-, Damen- und All-Gender-Toiletten und die damit einhergehende Beschriftung sowie die Anordnung und das Vorhandensein unterschiedlicher Mülleimer schienen von Anfang an erwartbare (Forschungs-)Gegenstände von Geschlecht erzeugenden Praktiken zu sein. Gleichzeitig weisen sie durch ihre Objekthaftigkeit eine Eigenschaft auf, die sich gut aus einer (räumlich) distanzierten Position betrachten lässt. Im Gegensatz dazu steht die Untersuchung des praktisch-ausführenden Vorgangs, wie dem Wasserlassen oder dem Ansprechen und Beobachten von Personen. Hier findet mehr als eine Beobachtung statt, nämlich eine leibliche Affizierung, die sich durch Unwohlsein und Scham ausdrückt. In diesen Fällen wurden die Praktiken des Toilettengangs gestört. Diese Beobachtungen machen deutlich, dass wir Teil der Praxis wurden und damit eine leiblich-distanzierte Betrachtung nicht mehr möglich war.

Unsere Forschungen zu Praktiken von Geschlechtsherstellung im alltäglichen Toilettengang haben eine starke affektive Perspektive der Forscher*innen zutage treten lassen, die wir zu Beginn nicht erwartet oder miteinbezogen haben. Im Forschungsprozess haben wir erfahren, wie schwierig es ist, die Reproduktion einer zweigeschlechtlichen Logik zu brechen bzw. sind wir daran gescheitert, gerade wenn es um Momente von Intimität und Scham ging. In der Annahme, dass sich Geschlecht nicht nur im Spannungsverhältnis von Praktik und Materialität, sondern auch in affizierter Leiblichkeit vollzieht, wäre es sinnvoll gewesen, neben praxistheoretischen Zugängen auch (neo)phänomenologische Überlegungen (z. B. Lindemann 2011) frühzeitig einzubeziehen.

[1] Als Frau verstehen wir alle Personen, die sich dieser Geschlechtsidentität als zugehörig empfinden und erfahren.

Literatur

GUGUTZER, Robert (2017): Leib und Körper als Erkenntnissubjekte. In: Gugutzer, Robert/Klein, Gabriele/ Meuser, Michael (Hrsg.), Handbuch Körpersoziologie (S. 381–394). Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04138-0_27

BÖTH, Mareike (2018): „Why all the fuss about practice theory?“ Zum Verhältnis von Geschlechter- und Praxistheorie aus Sicht einer Historikerin. GENDER, Heft 1, 13–28. https://doi.org/10.3224/gender.v10i1.02

KNORR CETINA, Karin (2001): Objectual practice. In: Schatzki, Theodore R./Knorr Cetina, Karin/von Savigny, Eike (Hrsg.): The Practice turn in Contemporary Theory (S. 175–188). London: Routledge.

LINDEMANN, Gesa (2011): Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

RECKWITZ, Andreas (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. Zeitschrift für Soziologie 32(4), 282–301. https://doi.org/10.1515/zfsoz-2003-0401

RIEGRAF, Birgit (2010): Konstruktion von Geschlecht. In: Aulenbacher, Brigitte/Meuser, Michael/Riegraf, Birgit: Soziologische Geschlechterforschung. Eine Einführung (S. 59–78). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92045-0_4

ROTHER, Dennis (2018): Fix: „All-Gender Toiletten“ kommen an der Uni Bielefeld ab Sommer“. Neue Westfälische, 24.01.2018. https://www.nw.de/lokal/bielefeld/mitte/22040639_Fix-All-Gender-Toiletten-kommen-an-der-Uni-Bielefeld-ab-Sommersemester.html [Zugriff am 18.12.2020].

WEST, Candace/ZIMMERMAN, Don H. (1987): Doing Gender. Gender & Society, 1(2), 125–151. https://www.gla.ac.uk/0t4/crcees/files/summerschool/readings/WestZimmerman_1987_DoingGender.pdf [Zugriff am 18.12.2020].

Zitation: Rabea Krollmann, Rebecca Schmidt, Annika Spill: Grenzüberschreitung und Distanzierung – Geschlechterforschung in universitären Toiletten, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 26.01.2021, www.gender-blog.de/beitrag/geschlechterforschung-in-uni-toiletten/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210126

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Rabea Krollmann

Rabea Krollmann studiert Soziologie im Master an der Universität Bielefeld. Sie interessiert sich für qualitative Sozialforschung, Geschlechtersoziologie, Jugendsoziologie und Wissenssoziologie.

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Rebecca Schmidt

Rebecca Schmidt studiert Soziologie im Master an der Universität Bielefeld und interessiert sich besonders für qualitative Methoden, Geschlechtersoziologie und Soziologie der globalen Welt.

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Annika Spill

Annika Spill studiert im Master Gender Studies an der Universität Bielefeld und beschäftigt sich mit Geschlecht, Körper, Praxisforschung und qualitativen Methoden.

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