02. September 2025 Alicia Gorny
Natürlich muss die Geschlechtergeschichte bleiben. Dass dies nicht bloß eine Selbstverständlichkeit, sondern ein politisches und wissenschaftliches Gebot ist, macht der umfangreiche Sammelband Geschlechtergeschichte bleibt?! auf beeindruckende Weise deutlich. Mit seinen fast 400 Seiten erhebt der Band nicht nur inhaltlich, sondern auch formal den Anspruch, einen umfassenden Überblick über Herausforderungen, Entwicklungen und Perspektiven der historischen Geschlechterforschung zu geben.
Ein Überblick über thematische Breite und Relevanz des Feldes
Das Buch gliedert sich in drei Teile, die sich folgenden Themenschwerpunkten zuordnen lassen: 1. Wissenschaftspolitik, Hochschulstrukturen, Forschungsfinanzierung; 2. Zugänge und Konzepte; 3. Fallstudien. Die ersten beiden Abschnitte sind jeweils noch einmal in Interviews und Essays unterteilt. Ursprünglich als Festschrift zur Emeritierung Gisela Metteles geplant, wurde der Band als bewusste Protestschrift konzipiert – ein Zeichen gegen die Nicht-Nachbesetzung ihres Lehrstuhls für Geschlechtergeschichte an der Universität Jena. Diese Entscheidung erscheint symptomatisch für den zunehmend prekären Status der Geschlechtergeschichte im akademischen Feld – ein Befund, dem sich der Band mit Nachdruck widmet.
Der Sammelband vereint eine Vielzahl methodischer Ansätze, theoretischer Perspektiven und prominenter Stimmen – das gegenwärtige Who’s Who der Geschlechterforschung kommt hier zu Wort, denn der Band beschränkt sich nicht auf die historische Forschung, sondern räumt auch Wissenschaftler:innen anderer Disziplinen einen Platz ein.
Wissenschaftspolitische Reflexionen
Im ersten Teil richtet sich der Blick auf die aktuelle Hochschullandschaft, insbesondere auf die deutschsprachige Geschlechtergeschichte. Ein besonders herausragender Beitrag ist das Gruppeninterview mit Necla Acik, Umut Erel, Nivedita Prasad, Encarnación Gutiérrez Rodríguez und Pinar Tuzcu (S. 27–42), das die Geschichtswissenschaft kritisch in den Fokus nimmt. Die Forscher:innen kritisieren zurecht das weitgehende Fehlen von Wissenschaftler:innen of Color im akademischen Betrieb und plädieren für eine stärkere Berücksichtigung intersektionaler Perspektiven als selbstverständlichen Bestandteil wissenschaftlicher Praxis. Erhellend ist auch der Erfahrungsbericht von Annamarie Müller, Lisa-Marie Oelmayer und Aurelia Rohrmann zur Hörsaalbesetzung in Jena nach der Entscheidung, die Mettele-Professur nicht wiederzubesetzen – eine Situation, die vonseiten der Universität vor allem durch ein Aussitzen beantwortet wurde (S. 63–86). Daniela Rüther schließt den Abschnitt mit einer präzisen Analyse der Verschiebung des öffentlichen Diskurses nach rechts (Stichwort „Overton Window“) und ordnet die Entscheidung des Jenaer Rektorats in einen breiteren gesellschaftspolitischen Zusammenhang ein, indem der rechtspopulistische Angriff auf die Geschlechterforschung kritisch beleuchtet wird (S. 87–102).
Konzeptionelle Perspektiven
Im zweiten Abschnitt sind die dialogischen und essayistischen Beiträge hervorzuheben. So etwa das Gespräch zwischen Joy Reißner und Anton Schulte, in dem sich deutlich für eine Öffnung der Geschlechtergeschichte hin zu einer Queer History ausgesprochen wird (S. 121–132). Auch die Diskussion zwischen Maria Bühner, Benno Gammerl, Andrea Rottmann und Sébastien Tremblay plädiert für eine Weiterentwicklung der Geschlechterforschung jenseits binärer Geschlechterordnungen (S. 133–156). Dass selbst in Biologie und Medizin keineswegs stets von einem binären System ausgegangen wurde, zeigt Heinz-Jürgen Voß in seinem Essay zur Nature-vs.-Nurture-Debatte (S. 253–270).
Die weiteren Beiträge verdeutlichen exemplarisch, wie Geschlechtergeschichte konkret angewendet werden kann. Besonders hervorzuheben ist Jessica Bocks Essay zur Bedeutung feministischer Archive und deren inzwischen erfolgreicher institutioneller Verstetigung (S. 159–169). Benno Gammerl (S. 171–187) und Claudia Opitz-Belakhal (S. 241–251) betonen, dass die Geschlechtergeschichte keineswegs abgeschlossen sei, sondern vielmehr an einem neuen Anfang stehe – und als analytische Ressource (so Opitz-Belakhal) weiterhin produktiv gemacht werden könne. Wie sich geschlechtergeschichtliche Perspektiven epochenübergreifend umsetzen lassen, zeigen Muriel González Athenas Beitrag zur Frühen Neuzeit (S. 189–209) und Jan B. Meisters Artikel zur Antike (S. 227–239). Einen aufschlussreichen Abschluss bildet Jürgen Martschukats Analyse der rechtspopulistischen Aneignung politischer Strategien sozialer Bewegungen und des Identitätsbegriffs.
Warum Geschlechtergeschichte gebraucht wird
Der dritte Teil des Bandes, der den Fallstudien gewidmet ist, bildet ohne Zweifel den stärksten Abschnitt. Allen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie aus je eigener thematischer Perspektive und mit unterschiedlichem epochalem Zuschnitt zeigen, wie die Kategorie Geschlecht – insbesondere in intersektionaler Verknüpfung – die historische Forschung erweitert. Den Auftakt machen Leah Noëmi Burgenmeister und Sylka Scholz. Sie analysieren Interviews aus den frühen 2000er-Jahren, in denen ostdeutsche Männer nach Umbrüchen in ihrer Erwerbsbiografie befragt wurden. In ihrer Sekundäranalyse setzen sie Vaterschafts- und Erziehungsvorstellungen zu westdeutschen Perspektiven ins Verhältnis (S. 273–287). Im Anschluss kritisiert Simone Derix die Dominanz von Cis-Männern in der Geschichtsschreibung und diskutiert dies exemplarisch anhand der Oppenheimer-Verfilmung. Ihre Untersuchungen zu Mary Ellen Washburn zeigen, dass diese weit mehr war als Oppenheimers Vermieterin – nämlich eine zentrale Figur im intellektuellen Netzwerk der Stanford-Elite (S. 289–303). Auch Eva Labouvie beleuchtet die anhaltende Marginalisierung weiblichen Engagements in der deutschen Erinnerungskultur zu den Protestbewegungen von 1968. Sie zeigt, wie stark diese bis heute von männlich dominierten Biografien geprägt ist. (S. 341–367).
Levke Harders untersucht in ihrem Beitrag das Zusammenspiel von Migration und Männlichkeit im Frankreich des 19. Jahrhunderts am Beispiel des polnischen Exilanten Ladislas Szerlecki und dessen Bemühungen um Einbürgerung (S. 305–321). Anke John richtet den Blick auf die Weimarer Republik und analysiert zeitgenössische Sitten- und Moralvorstellungen anhand populärer Schriften des Sexualforschers Max Hodann. Ihre Analyse zeigt detailliert, wie wandelbar und historisch gewachsen die Konzepte der Sexualwissenschaft sind (S. 323–339). Der abschließende Beitrag von Sabine Schmolinsky widmet sich dem mittelalterlichen Livre de l’advision de Christine und macht deutlich, dass Geschlecht auch im Mittelalter als wandelbares Konzept verstanden werden konnte. Sie schließt mit einem Fazit, dem nichts mehr hinzuzufügen ist: „Geschlechtergeschichte wird gebraucht. Sie kritisiert die Naturalisierung oder Ontologisierung des patriarchalen Mächteungleichgewichts in allen gesellschaftlichen Bereichen und erkundet die historische Dimension gegenwärtiger Konfliktlagen zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt.“ (S. 372)
Fazit
Die Offenheit des Sammelbands ist seine große Stärke: Sie veranschaulicht die thematische Breite und Relevanz des Feldes. Zugleich führt sie jedoch – wohl auch, um möglichst vielen prägenden Stimmen Raum zu geben – zu inhaltlichen Überschneidungen, insbesondere in den Interviewbeiträgen. Das liegt nicht zuletzt an der weitgehend einheitlichen Fragestellung, die auf die Relevanz, die gegenwärtige Finanzierung und den damit verbundenen Status der deutschsprachigen Geschlechtergeschichte abzielt. Zudem wird auch immer wieder auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats aus dem Juli 2023 verwiesen, wonach eine Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland klar gefordert wird (Wissenschaftsrat 2023).
Insgesamt lässt sich festhalten: „Geschlechtergeschichte bleibt?!“ ist ein engagierter, klug konzipierter und in weiten Teilen überzeugender Band, der sowohl die Notwendigkeit als auch die Produktivität geschlechtergeschichtlicher Forschung belegt. Zwar ließe sich kritisieren, dass er – trotz seiner Deklaration als Protestschrift – stellenweise eher den Ton einer Verteidigungsschrift annimmt. Doch angesichts der gegenwärtigen politischen Lage, in der feministische und queere Perspektiven zunehmend unter Druck geraten, ist dieser Legitimationsgestus nachvollziehbar.
Der Sammelband Geschlechtergeschichte bleibt?! Herausforderungen und Perspektiven historischer Geschlechterforschung, herausgegeben von Andreas Neumann, Pia Marzell, Lisa-Marie Oelmayer, Katharina Breidenbach, Silke Meinhardt und Maren Möhring, ist 2025 bei transcript erschienen.
Literatur
Wissenschaftsrat (2023): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Geschlechterforschung in Deutschland. Zugriff am 28.07.2025 unter https://www.wissenschaftsrat.de/download/2023/1385-23.pdf?__blob=publicationFile&v=12.
Zitation: Alicia Gorny: Was wird aus der Geschlechtergeschichte?, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 02.09.2025, www.gender-blog.de/beitrag/geschlechtergeschichte/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250902
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Kommentare
Jutta Dalhoff | 02.09.2025
Herzlichen Dank für diese sehr konzise und informative Rezension des Sammelbandes Geschlechtergeschichte bleibt?!
40 Jahre nach dem Historikerinnentreffen 1985 zur Frauengeschichtsforschung in Bonn sind die Entwicklungen im Feld anhand des Vergleichs mit der damals u.a. von mir herausgegebenen Dokumentation gut nachzuvollziehen.
Dalhoff, Jutta/Frey, Uschi/Schöll, Ingrid (Hrsg.). 1986. Frauenmacht in der Geschichte: Beiträge des Historikerinnentreffens 1985 zur Frauengeschichtsforschung. Düsseldorf: Schwann. ISBN 3-590-18054-4