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Debatte

Das Geschlechterregime des Kreativitätsdispositivs

31. August 2021 Mareike Gebhardt

Kreativität wird in der Spätmoderne zur Ware. Sie unterliegt neoliberalen Anforderungen von Optimierung, Effizienz, Originalität und Selbstverantwortlichkeit, die fast immer maskulin ausgedeutet werden: Vom männlichen Geniekult über den smarten und in teure Designer-Klamotten gekleideten Kreativdirektor, der mit Charme, Cleverness und Wettbewerbsorientierung seine Agentur an die Spitze der Branche bringt, bis zum ‚nerdigen‘ freelancer in der Software-Industrie. Der Begriff freelancer („frei“ + „Lanzenreiter“) bezeichnet einen mittelalterlichen Söldner, der seine Dienste zwar ‚frei‘, aber dem Höchstbietenden entäußert. Er verzahnt maskulinisierte Vorstellungen von (kreativer) Freiheit, Kampfkunst und militärischen Ehren mit einem ökonomischen Kalkül.

Das soziale Regime des ästhetisch Neuen

Kreativität strotz vor Männlichkeit. Doch die Männlichkeitsfantasien des Kreativen haben Bruchstellen: Drogenmissbrauch zur Steigerung der Leistungsfähigkeit oder Erschöpfung bis hin zum klinisch diagnostizierten burn out treffen Männer in kreativen Managementpositionen besonders oft; und die immer schon etwas überdurchschnittliche Suizidrate von Künstler*innen wuchs während der Corona-Pandemie an. Kreativität ist also maskulinisiert – und Kreative zerbrechen an dieser Idealvorstellung, wird sie nicht gekonnt individuell in Szene gesetzt. Dies gilt für Männlichkeiten, die sich der hegemonialen Inszenierung des Genies oder Selbstmanagers entziehen, ebenso wie für queere Kreative und Frauen im Kunst- und Kreativsystem. Als ein Beispiel sei auf die Biografie der Künstlerin Yayoi Kusama (Polka Dots) verwiesen.

Der Begriff des Kreativitätsdispositivs, wie er hier Verwendung findet, bezieht sich auf die soziologischen Arbeiten von Andreas Reckwitz (2016, 135f.; 2013, 24f.). Es entsteht im Zuge einer Kulturalisierung des affektiven Spätkapitalismus, in dem sich der Antagonismus zwischen biederer Bürgerlichkeit und künstlerisch-avantgardistischer Gegenkultur, wie er spätestens seit dem 18. Jahrhundert für die Moderne typisch war, aufgelöst hat. Seit den 1970er- und 1980er-Jahren wird Kreativität jedoch normalisiert. Sie changiert, so Reckwitz, zwischen einem subjektiven Begehren und einem sozialen Imperativ zur Kreativität. Reckwitz beschreibt Kreativität als „die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen“ (Reckwitz 2013, 23). Sie ist soziales, kulturelles und historisches Produkt und damit weder eine psychologische Disposition Einzelner noch, in einem emphatischen Sinne, subversives Potenzial, wie dies in einem avantgardistischen Verständnis von Kreativität gedeutet werden würde. Neben der Normalisierung des Kreativen durch seine Kulturalisierung als Lebensform der Spätmoderne zeichnet es sich durch eine Präferenz für das Neue aus. Im Laufe der Spätmoderne kommt es zur Herausbildung eines sozialen „Regimes des Neuen“ (Reckwitz 2016, 135ff.) als ästhetischer Reiz, das in dynamischen Sequenzen das Neue immer als relationales, nicht revolutionäres Phänomen hervorbringt. Diese Regierung der spätmodernen Gesellschaft durch das ästhetisierte Neue bringt das Kreativitätsdispositiv hervor. Im Anschluss an Foucaults Machtdispositiv ist es als „Ensembles von Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsweisen und Artefaktsystemen“ zu verstehen, die das Neue nicht allein „beobachten und es positiv prägen, sondern auch darauf aus sind, es zu fördern und aktiv hervorzubringen, zu steigern und zu intensivieren“ (Reckwitz 2016, 137).

Neoliberale Prekarisierung

Wie im Begriff freelancer sichtbar, muss geschlechterkritisch auf die maskulinisierte Vorstellung des Künstlerisch-Kreativen einerseits und des ökonomischen Kalküls andererseits aufmerksam gemacht und es müssen die dahinter liegenden Geschlechterverhältnisse offengelegt werden. Feministische Theorien haben die Amalgamierung des Ökonomischen mit dem Kreativen unter dem Aspekt der Prekarisierung betrachtet, so z. B. wenn kreative Tätigkeit verunmöglicht wird, weil die Sorge um ein Kind oder eine*n Lebenspartner*in nicht mit den Erwartungen der Rundumverfügbarkeit kompatibel ist. Die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey definiert ‚Prekarisierung‘ an Foucault anschließend als eine Regierungstechnik, die Bevölkerungen, Personengruppen, Subjekte, Objekte, Handlungsformen und Artefakte reguliert und zirkuliert (Lorey 2012, 27f.). Stete Bewegung ist Ideal und Ziel zugleich. Stillstand ist unerwünscht. Denn im Stillstand steckt vielleicht schon Widerstand: Was, wenn die stets beweglichen und bewegten Subjekte, Objekte, Artefakte und Diskurse innehalten?

In der Spätmoderne wird Prekarisierung gouvernemental und neoliberal. Als Menschenregierungskunst (Foucault) befindet sich Prekarisierung in einem Normalisierungsprozess, der das Regieren aller durch Unsicherheit ermöglicht. Dabei orientiert sich die Normalität, wie schon in der liberalen Moderne, an „einer nationalen, männlich heterosexuellen Norm“, die die „sichernd[e] Gestaltbarkeit des ‚eigenen‘ Prekärseins gemäß klassen- und geschlechtsspezifischer Positionierungen sowie ethnischer, rassifizierter, sexualisierter und religiöser Zuschreibungen“ (Lorey 2012, 46) organisiert. Der Unterschied zwischen liberaler Moderne und neoliberaler Spätmoderne besteht darin, dass erstere „nicht nur eine gewisse Form der Freiheit, sondern auch Mechanismen der Sicherheit, der Ver-Sicherung“ zur Verfügung stellte, während sich im Neoliberalismus die „Funktion des Prekärseins in die gesellschaftliche Mitte“ verschiebt (Lorey 2012, 53, 57). Verantwortung wird radikal individualisiert. Die neoliberale, maskulinisierte Vorstellung vom Individuum als Unternehmer (!) seiner selbst – Byung-Chul Han (2014) spricht von der Transformation des Subjekts in ein Projekt – dringt in der Spätmoderne als Regierungstechnologie der individuellen Optimierung, Leistungssteigerung und steten Bereitschaft zu arbeiten und an sich selbst zu arbeiten, so tief in die eigene Konstitution des Selbst ein, dass ihre Erfüllung als intrinsisch motiviert wahrgenommen wird – oder, in einer radikalisierten Form, als Erfüllung des vermeintlich eigenen Freiheitsanspruchs.

Dabei ist die Prekarisierung im neoliberalen Kapitalismus umso umfassender, da Kreativität nicht nur ökonomisiert wird, sondern als Lebensform in die Gesellschaft selbst einwandert und diese mit Idealen von Effektivität, Leistungssteigerung, aber auch steter Ästhetisierung kolonisiert: von der Überzeugung, dass Beruf und Berufung leidenschaftlich verbunden werden müssen, um frei zu sein, bis zur neo-faschistoiden Vorstellung, durch Arbeit frei zu werden.

Widerstand im Stillstand

Im Sinne Foucaults gilt es, nicht nur die Reproduktionsmechanismen der Macht abzustecken, sondern auch auf Spurensuche nach widerständigen Momenten des Kreativdispositivs zu gehen: nach Momenten der kritischen Intervention, die den Exodus (Lorey) als einen politisierenden Ausstieg aus einer bestimmten Logik der Machtproduktion verstehen, um das System mit den ‚Anderen‘ – den Schwulen, Frauen, Schwarzen, Verrückten und Fremden – zu konfrontieren. Diese Momente des Widerstandes, in denen das Geschlechterregime der Kreativität Brüche erleidet und Hinterfragung erfährt, sind fast nie große revolutionäre Gesten, sondern finden im Kleinen, Stillen, fast Unsichtbaren oder im ‚Scheitern‘ statt – und wirken doch in den Echokammern der maskulinisierten Kreativität nach. Auch in den vermeintlich hermetisch neoliberal operierenden Filterblasen lassen sich widerständige Momente finden, wie Amalia Ulmans Insta-Performance, oder die Posts der Insta-Poetin Rupi Kaur, in denen sie die Tabuisierung der Menstruation kritisch visualisiert.

In der Profanität dieser Formen der Kreativität steckt ein widerständiges Potential. Denn sie stehen im Gegensatz zu „heroischen“ (Reckwitz 2013, 31) Formen einer maskulinisierten Kreativität. Dem „Mythos des Neuen“ (Reckwitz 2013, 31), der die (spät)moderne westliche Kreativgesellschaft prägt, ist kritisch zu begegnen: Wiederholung und Nutzlosigkeiten sind in ihrer sozialen Wertigkeit zu rehabilitieren. Rufe nach steter Innovation und Neugestaltung müssen verstummen. Schließlich ist Kreativität stärker zu politisieren – auch im Widerstand gegen eine Ausdeutung des Kreativen als industry der Beschleunigung und Optimierung. In diesem Sinne können eine Kultur der Alltagsästhetik und eine Politik der Repetition, die sich dem Aktivismus des Neuen verweigert, als widerständig gedeutet werden: Erfahrungen von Stillstand, Immobilität und Statik ebenso wie routinisierte und gewohnheitsmäßige Praktiken.

Gegenhegemoniale Widerstände bilden sich im Stillstand, Verharren und Nutzlosen. Künstlerisch-kreativer Protest fokussiert auf Politiken des Nicht/Beweglichen, in denen Ruhe und Innehalten als Beunruhigung des Normalen gedeutet werden können; so wie Marina Abramovićs The Artist is Present oder das Festival Nocturnal Unrest, das die männlich geprägte Philosophie und Praxis des Flanierens von Dada bis Walter Benjamin queerfeministisch umdeutet. Die nächtliche „Flâneuserie“ ist dabei zweifach subversiv: Das langsame und gemächliche Flanieren in der Stadt steht in krassem Gegensatz zur deren normalisierten Modi der Schnelllebigkeit und Exzelleration und die queerfeministische Praxis der nächtlichen Flâneuserie be/un/ruhigt sedimentierte Annahmen über die Präsenzen in nächtlichen Raumordnungen. In Bezug auf das nächtliche Spaziergehen als widerständige Praxis bleibt zu fragen, ob tagsüber schlafende Frauen und Queers auch subversiv sein können?

Literatur

Han, Byjung-Chul. 2014. Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt/M.: Fischer.

Lorey, Isabell. 2012. Die Regierung der Prekären. Wien, Berlin: turia + kant.

Reckwitz, Andreas. 2013. „Die Erfindung der Kreativität.“ Kulturpolitische Meinungen II (141), S. 23–34.

Reckwitz, Andreas. 2016. „Das Kreativitätsdispositiv und die sozialen Regime des Neuen.“ In Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, hg. Von Werner Rammert, Arndold Windeler, Hubert Knoblauch und Michael Hutter. Wiesbaden: Springer VS, S. 133–153. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10874-8_6

Zitation: Mareike Gebhardt: Das Geschlechterregime des Kreativitätsdispositivs, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 31.08.2021, www.gender-blog.de/beitrag/geschlechterregime-kreativitaetsdispositiv/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210831

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Dr. Mareike Gebhardt

Mareike Gebhardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt der Theorie und Politik von Geschlechterverhältnissen, Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Ihre Forschungsinteressen liegen u.a. in den Bereichen der Politischen Theorie, der radikalen Demokratietheorie, Feministischen Theorie und des Poststrukturalismus.

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