08. November 2023 Marco Seegers
Wie häufig und wie lange nehmen Frauen und Männer an beruflicher Weiterbildung teil? Wie wirkt sich aus, dass Frauen und Männer unterschiedlich viel Zeit für Erwerbs- und Care-Arbeit aufwenden? Und welche Rolle spielen Betriebe dabei? Der Beitrag gibt aus ungleichheitssoziologischer Perspektive Einblicke in geschlechtsspezifische Weiterbildungsbarrieren, Teilnahmevoraussetzungen und Forschungslücken mit besonderem Fokus auf die Zeitressourcen von Frauen und Männern.
Wer sich nicht weiterbildet, bleibt auf der Strecke?
Kontinuierliches Lernen im Sinne von Weiterbildung in späteren Lebensphasen nach Abschluss von Schule, Ausbildung oder Studium gewinnt zunehmend an Bedeutung (vgl. u. a. Köhne-Finster et al. 2020). Zum einen reicht das in frühen Lebensphasen erworbene Wissen nicht mehr aus, um Beschäftigte auf die sich wandelnden Anforderungen eines gesamten Berufslebens vorzubereiten. Auf der anderen Seite vermittelt Weiterbildung neue Kompetenzen und bereitet auf zu bewältigende Arbeitsaufgaben vor, was gleichzeitig die individuelle Positionierung auf dem Arbeitsmarkt (z. B. Berufswahl, Chance auf eine Führungsposition) und damit die verfügbaren Ressourcen (wie Zeit und Geld), aber auch mögliche berufliche Chancen (wie Zugang zu beruflicher Weiterbildung) beeinflusst. Die Teilnahme an beruflicher Weiterbildung kann somit als Anpassungsstrategie an berufliche Veränderungen verstanden werden, der zugleich das Potenzial innewohnt, (geschlechtsspezifische) soziale Ungleichheiten wie Bildungs- und Einkommensungleichheiten abzubauen. Weiterbildung kann als biografisches Korrektiv fungieren, wenn z. B. in der Vergangenheit eine Familiengründung berufliche Einschnitte erfordert hat. Umgekehrt stellt sich die Frage, mit welchen Weiterbildungsbarrieren Frauen und Männer konfrontiert sind und ob es hier Unterschiede gibt.
Frauen und Männer weisen unterschiedliche Weiterbildungsmuster auf
Weiterbildungsmaßnahmen haben aus individueller Sicht u. a. die Funktion, Beschäftigte vor beruflichem Abstieg zu schützen bzw. durch den Erwerb von Kompetenzen für berufliche Aufstiege zu qualifizieren. Dies kann sich in Form von höherem Einkommen, finanzieller/personeller Verantwortung, günstigeren Arbeitsbedingungen und/oder einer Erweiterung des Aufgabenspektrums niederschlagen. Aber auch die Erhöhung der Arbeitsmarktflexibilität und die Sicherung des eigenen Arbeitsplatzes können Teilnahmemotive sein (Bellmann/Leber 2021; Ebner/Ehlert 2018).
Grundsätzlich kann berufliche Weiterbildung in formale, non-formale und informelle Weiterbildung unterschieden werden. Im Folgenden wird der Schwerpunkt auf non-formale Weiterbildung gelegt, welche professionell betreute Kurse oder Lehrgänge umfasst, die zumeist von Betrieben oder kommerziellen Weiterbildungseinrichtungen angeboten werden, aber nicht zu einem allgemein anerkannten Abschluss führen (Eisermann et al. 2014). Mit Blick auf den Forschungsstand wird deutlich, dass Frauen im Durchschnitt tendenziell häufiger an non-formaler Weiterbildung teilnehmen, das zeitliche Gesamtvolumen der Maßnahmen im Vergleich zu Männern jedoch kürzer ausfällt (Offerhaus et al. 2016; BMBF 2021). Welche Inhalte in den Weiterbildungen vermittelt werden, welche Qualität die Maßnahmen haben und ob die Teilnahme auch zu entsprechenden Erträgen (z. B. beruflicher Aufstieg oder höheres Einkommen) führt, ist bis dato eher eine offene Forschungsfrage.
Zeit als knappe individuelle Ressource
Mit 24 Stunden pro Tag ist Zeit eine begrenzte individuelle Ressource, die nur einmal genutzt werden kann. So muss bspw. täglich Zeit für Selbstsorge- und Reproduktionstätigkeiten wie Schlafen und Essen aufgewendet werden, die nicht anderweitig genutzt werden kann. Die individuelle Zeitnutzung erfolgt nicht selten in Abstimmung mit Familienmitgliedern, Freund*innen und Arbeitskolleg*innen, was sich u. a. in vorherrschenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungsmustern widerspiegelt. Mit Blick auf den gender time & care gap wenden Männer nach wie vor mehr Zeit für Erwerbsarbeit und Frauen mehr Zeit für Care-Arbeit auf (Hobler et al. 2017), was sich insbesondere in der Ehe und durch die Elternschaft aufgrund von Rollen- und Geschlechterstereotypen sowie rechtlichen Rahmenbedingungen, wie dem Ehegattensplitting, noch verstärkt (Grunow et al. 2007; Klammer et al. 2011). Aber auch die Art und Weise der Zeitverwendung unterscheidet sich. Mit Blick auf Care-Arbeit wird deutlich, dass weiblich konnotierte Aufgaben häufiger zeitlich fixiert und regelmäßig erledigt werden. So können bspw. die Grundversorgung des Kindes, die Pflege von alten und kranken Familienmitgliedern oder Emotionsarbeit nicht aufgeschoben werden. Männlich konnotierte Aufgaben sind häufiger zeitlich flexibel und eher unregelmäßig. Reparaturen im Haushalt/am Auto, Finanzen und Behördenkontakte und Verwaltungsangelegenheiten können zeitlich tendenziell aufgeschoben werden (Künzler/Walter 2001; Steinbach 2004). Dies hat umgekehrt Einfluss darauf, wie flexibel Zeitressourcen z. B. in Erwerbsarbeit und Weiterbildung investiert werden können.
In welchen Lebensphasen nehmen Frauen und Männer an Weiterbildung teil?
Vor allem Elternschaft wirkt sich selektiv auf die Weiterbildungsbeteiligung aus (Zoch 2022). Wichtige Karrierephasen im mittleren Lebensalter fallen häufig mit Heirat und Familiengründung zusammen und Frauen stellen in diesen Phasen häufiger ihre Karriereambitionen zurück, was sich auch in den Brüchen weiblicher Erwerbsbiografien widerspiegelt (Klammer et al. 2011). Gleichzeitig bauen Männer ihre Erwerbs- und Weiterbildungsambitionen eher aus. Auch nach der Familienphase kann die aufgelaufene Erwerbslücke von Frauen nicht mehr geschlossen werden, was zu selektiven und ungleichen Lebens- und Erwerbsverläufen von Frauen und Männern – insbesondere im mittleren Alter – führt (Käpplinger/Kubsch 2017). Unterschiedliche Erwerbs- und Lebensverläufe wirken sich somit auch auf die Weiterbildungsbeteiligung aus. Frauen, die sich (zunächst) gegen eine Familiengründung und für eine berufliche Karriere entscheiden, nehmen tendenziell häufiger an beruflicher Weiterbildung teil. Im Zuge der Familiengründung ziehen sich Frauen in den Phasen des Mutterschutzes und der Elternzeit vom Arbeits- und Weiterbildungsmarkt zurück. Gleichzeitig investieren Männer häufiger mehr Zeit und Engagement in ihre berufliche Karriere und nehmen tendenziell häufiger an beruflicher Weiterbildung teil (Wittpoth 2018). So ist insbesondere die Familiengründung ein einschneidendes Ereignis mit unterschiedlichen Konsequenzen für den beruflichen Erfolg und die Weiterbildungschancen von Frauen und Männern.
Welchen Einfluss haben Betriebe?
Die bisherige Forschung konzentriert sich vor allem auf individuelle Geschlechterunterschiede in der Weiterbildungsbeteiligung. Eine Ausnahme bildet Philip Wotschack (2019), der explizit auf betriebliche Einflüsse hinweist. Der deutsche Weiterbildungsmarkt ist neben kommerziellen Angeboten vor allem durch betriebliche Weiterbildung geprägt (Nuissl 2018), wodurch Betriebe als Gatekeeper in den Fokus rücken, die den Zugang zum betrieblichen Weiterbildungsmarkt regulieren und bestimmte Personengruppen von Weiterbildungsmaßnahmen ausschließen können. Als Analysewerkzeug ergeben sich hier Schnittstellen zu den theoretischen Ansätzen der gendered organizations und der inequality regimes von Joan Acker (1990, 2006). Demnach reproduzieren betriebliche Repräsentant*innen (wie Geschäftsführer*in, Personalverantwortliche) aufgrund organisationaler Praktiken, Prozesse, Handlungen und Deutungen Klassen-, Herkunfts- und Geschlechterungleichheiten. Betriebliche Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse sind daher vergeschlechtlicht, z. B. wenn Männer und Frauen in Bewerbungsgesprächen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit unterschiedlich bewertet werden, und reproduzieren u. a. geschlechtsspezifische Unterschiede in der Zeitverwendung, z. B. hinsichtlich des Arbeitsvolumens und des Zugangs zu betrieblicher Weiterbildung.
Und nun?
Die bisherige Forschung zeigt, dass es sich lohnt, den Blick zukünftig einerseits weiter auf individuelle Unterschiede in der Weiterbildungsbeteiligung verschiedener Personengruppen zu richten und dabei andererseits eine intersektionale Perspektive anzustreben, um gruppenspezifische Benachteiligungen im Zugang zu beruflicher Weiterbildung herauszustellen. Neben der Frage, mit welchen Weiterbildungsbarrieren insbesondere Frauen und Männer konfrontiert sind, sollten zudem individuelle Zeitressourcen als Teilnahmevoraussetzung stärker thematisiert werden, aber auch betriebliche Praktiken und Prozesse hinterfragt werden, um entsprechende Weiterbildungsbarrieren zu benennen. Dies gewinnt insbesondere vor dem Hintergrund sich rasch verändernder beruflicher Anforderungen im Zuge zahlreicher klimatischer, demografischer und technischer Transformationsprozesse an Relevanz, um soziale Ungleichheiten nicht weiter zu verfestigen, sondern im Idealfall abzubauen.
Literatur
Acker, Joan (1990): Hierarchies, Jobs, Bodies: A Theory of Gendered Organizations. In: Gender & Society, 4(2), S. 139–158. https://doi.org/10.1177/089124390004002002
Acker, Joan (2006): Inequality Regimes: Gender, Class, and Race in Organizations. In: Gender & Society, 20(4), S. 441–464. https://doi.org/10.1177/0891243206289499
Bellmann, Lutz & Leber, Ute (2021): Zielgruppen der beruflichen Weiterbildung. In: Lutz Bellmann, Karin Büchter, Irmgard Frank, Elisabeth Krekel & Günter Walden (Hg.): Schlüsselthemen der beruflichen Bildung in Deutschland. Ein historischer Überblick zu wichtigen Debatten und zentralen Forschungsfeldern. Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung (Berichte zur beruflichen Bildung), S. 241–251. Zugriff am 19.10.2023 unter https://www.bibb.de/dienst/publikationen/de/download/16622.
BMBF (2021): Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2020 - Ergebnisse des Adult Education Survey – AES-Trendbericht. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Berlin. Zugriff am 19.10.2023 unter https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/1/31690_AES-Trendbericht_2020.pdf?__blob=publicationFile&v=10.
Ebner, Christian & Ehlert, Martin (2018): Weiterbilden und Weiterkommen? Non-formale berufliche Weiterbildung und Arbeitsmarktmobilität in Deutschland. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 70(2), S. 213–235. https://doi.org/10.1007/s11577-018-0518-x
Eisermann, Merlind; Janik, Florian & Kruppe, Thomas (2014): Weiterbildungsbeteiligung – Ursachen unterschiedlicher Teilnahmequoten in verschiedenen Datenquellen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 17(3), S. 473–495. https://doi.org/10.1007/s11618-014-0561-y
Grunow, Daniela; Schulz, Florian & Blossfeld, Hans‑Peter (2007): Was erklärt die Traditionalisierungsprozesse häuslicher Arbeitsteilung im Eheverlauf: soziale Normen oder ökonomische Ressourcen? / What Explains the Process of Traditionalization in the Division of Household Labor: Social Norms or Economic Resources? In: Zeitschrift für Soziologie, 36(3), S. 162–181. https://doi.org/10.1515/zfsoz-2007-0301
Hobler, Dietmar; Klenner, Christina; Pfahl, Svenja; Sopp, Peter & Wagner, Alexandra (2017): Wer leistet unbezahlte Arbeit? Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege im Geschlechtervergleich. Aktuelle Auswertungen aus dem WSI GenderDatenPortal. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI). Düsseldorf (Report 35). Zugriff am 19.10.2023 unter https://www.wsi.de/fpdf/HBS-006569/p_wsi_report_35_2017.pdf.
Käpplinger, Bernd & Kubsch, Eva (2017): Gleichberechtigung und partnerschaftliche Weiterbildung. Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V., Geschäftsstelle. Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Berlin. http://dx.doi.org/10.25595/1370
Klammer, Ute; Bosch, Gerhard; Helfferich, Cornelia; Meier-Gräwe, Uta; Nolte, Paul; Schuler-Harms, Margarete & Stangel-Meseke, Martina (2011): Neue Wege – gleiche Chancen. Kurzfassung des Sachverständigengutachtens zum Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. In: Ute Klammer & Markus Motz (Hg.): Neue Wege – Gleiche Chancen: Expertisen zum Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 13–43. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94057-1_2
Köhne-Finster, Sabine; Leppelmeier, Ingrid; Helmrich, Robert; Deden, Dennis; Geduldig, Alena; Güntürk-Kuhl, Betül et al. (2020): Berufsbildung 4.0 – Fachkräftequalifikationen und Kompetenzen für die digitalisierte Arbeit von morgen. Säule 3: Monitoring- und Projektionssystem zu Qualifizierungsnotwendigkeiten für die Berufsbildung 4.0. Bundesinstitut für Berufsbildung. Bonn. https://www.bibb.de/dienst/publikationen/de/download/16688
Künzler, Jan; Walter, Wolfgang (2001): Arbeitsteilung in Partnerschaften. Theoretische Ansätze und empirische Befunde. In: Johannes Huinink, Klaus P. Stohmeier & Michael Wagner (Hg.): Solidarität in Partnerschaft und Familie. Zum Stand familiensoziologischer Theoriebildung. Würzburg: Ergon, S. 185–218.
Nuissl, Ekkehard (2018): Ordnungsgrundsätze der Erwachsenenbildung in Deutschland. In: Rudolf Tippelt & Aiga von Hippel (Hg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung, Bd. 13. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 499–520. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19979-5_25
Offerhaus, Judith; Leschke, Janine & Schömann, Klaus (2016): Soziale Ungleichheit im Zugang zu beruflicher Weiterbildung. In: Rolf Becker & Wolfgang Lauterbach (Hg.): Bildung als Privileg. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 387–420. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92484-7_12
Steinbach, Anja (2004): Wie Paare sich die Arbeit teilen. Duisburg, Universität. Duisburg. Zugriff am 19.10.2023 unter https://www.uni-due.de/imperia/md/content/soziologie/2004_steinbach_wie_paare_sich_die_arbeit_teilen.pdf.
Wittpoth, Jürgen (2018): Beteiligungsregulation in der Weiterbildung. In: Rudolf Tippelt & Aiga von Hippel (Hg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung, Bd. 72. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 1149–1172. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19979-5_56
Wotschack, Philip (2019): Exploring the (Missing) Gender Training Gap in Germany: The Role of Organizations and Sectors in Continuing Training Participation. In: Social Politics, 26(3), S. 444–474. https://doi.org/10.1093/sp/jxy021
Zoch, Gundula (2022): Participation in Job-Related Training: Is There a Parenthood Training Penalty? In: Work, Employment and Society, 37(1), S. 274–294. https://doi.org/10.1177/09500170221128692
Zitation: Marco Seegers: Zeit als wertvolle Ressource: Geschlechterunterschiede in der beruflichen Weiterbildung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 08.11.2023, www.gender-blog.de/beitrag/geschlechterunterschiede-berufliche-weiterbildung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20231108
Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz