Skip to main content
Headergrafik: Belight/Adobe-Stock

Debatte

Begriffe von Geschlechtsidentität in „Ontology and Oppression“: ein Kommentar

20. Februar 2024 Emily Goldbeck

Geschlechtsidentität in die Theoretisierung von Geschlecht einzubeziehen, ist ein begrüßenswerter und transfreundlicher Anspruch. Katharine Jenkins unterscheidet in ihrem Buch Ontology and Oppression: Race, Gender, and Social Reality drei verschiedene Dimensionen von Geschlecht: 1. als Position innerhalb gesellschaftlicher Strukturen, 2. als Zuschreibung von anderen und 3. als Identität. Jenkins Verständnis von Geschlechtsidentität ist meiner Ansicht nach jedoch unplausibel und entgegen ihrer Intention gegenüber vielen trans bzw. nichtbinären Personen exkludierend. Exakter beschrieben ist Geschlechtsidentität mit Talia Mae Bettchers Begriff existenzieller Selbstidentität, wie ich im Folgenden zeige.

Wider Ignoranz gegenüber selbst definierter Geschlechtlichkeit

Feministische Ontologie beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie die soziale Realität von Geschlecht konstituiert wird. Innerhalb feministischer Ontologien herrschen mindestens zwei transfeindliche Verständnisse von Geschlecht vor. Das erste reduziert Geschlecht auf die Wiederholung geschlechtlich konnotierter Handlungen und Normen, sogenannte Gender-Performance (Butler 1993: 232; Ahmed 2006: 60). Gender-Performance bezeichnet beispielsweise geschlechtsspezifisch konnotierte Kleidung, Gesten und Verhaltensweisen. Geschlecht mit Gender-Performance gleichzusetzen, ignoriert jedoch, dass zwischen Gender-Performance und Geschlechtsidentität differenziert werden kann. In transfreundlichen Kontexten markiert diese Unterscheidung, dass sich von der Gender-Performance einer Person nicht darauf schließen lässt, welche(s) Geschlecht(er) sie ist, falls sie überhaupt geschlechtlich ist und nicht agender.

Eine ähnliche Ignoranz gegenüber selbst definierter Geschlechtlichkeit ist dem Zuschreibungsparadigma eigen. Diesem Paradigma zufolge ist Geschlecht darauf zu reduzieren, welches Geschlecht einer Person zugeschrieben wird bzw. wie sie geschlechtlich wahrgenommen wird (so argumentieren z. B. Haslanger 2002: 38; Butler 2006: 80). Gruppenzugehörigkeit ist jedoch nicht nur eine Frage der Zuschreibung von anderen, sondern auch eine Frage von Identität (Young 2011: 44). Es ist eine Sache, sich als Frau zu identifizieren. Eine andere ist es, von anderen als Frau wahrgenommen zu werden (Ásta 2018: 117). Das wird gerade aus Erfahrungen falscher geschlechtlicher Zuschreibungen deutlich, die für viele trans Personen alltäglich sind (Kapusta 2016: 504; Barker/Iantaffi 2019: 65). Geschlechtsidentität in die Theoretisierung von Geschlecht einzubeziehen, ist also wichtig, um Perspektiven und Erfahrungen von trans Personen in feministische Theorie zu inkludieren.

Geschlechtsidentität als Normenrelevanz

Jenkins entwickelt zwei Verständnisse von Geschlechtsidentität: Geschlechtsidentität als Normenrelevanz und als Identifizierung (Jenkins 2023: 158–169). Geschlechtsidentität als Normenrelevanz bezeichnet diejenigen geschlechtlich konnotierten Normen, die für einen Menschen als relevant im Verhältnis zu den eigenen Handlungen wahrgenommen werden (Jenkins 2015: 410). Beispielsweise, so Jenkins, ist für Frauen in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten die Norm rasierter Beine relevant, gleich ob sie dieser Norm entsprechend handeln oder Widerstand gegen sie leisten (Jenkins 2022: 18). Allerdings sind solche als spezifisch für Frauen relevant geltenden Normen auch für manche nicht-weibliche Menschen relevant (Andler 2017: 891). In zwangsbinären Gesellschaften sind binärgeschlechtlich konnotierte Normen erzwungenermaßen auch für nichtbinäre Menschen mehr oder weniger relevant (Dembroff 2020: 11).

Das bekannteste Beispiel: An vielen Orten fehlt es an Toiletten für nichtbinäre Menschen (Wilchings 2019: 7). Als nichtbinäre, aber in den meisten Kontexten weiblich gelesene Person ist die Norm für mich relevant, auf sogenannte Damentoiletten zu gehen. Eine Herrentoilette aufzusuchen, erlebe ich dagegen als Normüberschreitung. Die weiblich konnotierte Norm des Damentoiletten-Aufsuchens ist für mich in diesem Sinne relevant. Das macht meine Geschlechtsidentität nicht weniger nichtbinär. Jenkins Begriff von Geschlechtsidentität als Normenrelevanz impliziert hingegen, dass nichtbinäre Menschen nicht wirklich nichtbinär sind, wenn binärgeschlechtliche Normen für uns relevant sind – selbst, wenn diese Normen auch nur deswegen für uns relevant sind, weil wir sie unterlaufen. Normenrelevanz ist ein unplausibles Verständnis von Geschlechtsidentität.

Geschlechtsidentität als Identifizierung

Jenkins versteht Identifizierungen als Entscheidungen für bestimmte Selbstbezeichnungen (Jenkins 2023: 161). Dabei wiederholt sie mehrfach, dass es sich bei diesen Entscheidungen um aktive und bewusste Entscheidungen handelt (Jenkins 2023: 164; 171). Geschlechtsidentität als Identifizierung ist für Jenkins demgemäß eine aktive und bewusste Entscheidung für eine oder mehrere geschlechtsbezogene Selbstbezeichnung(en).

Es ist wahr, dass Selbstbezeichnungen von Geschlecht in manchen Fällen aktive und strategische Entscheidungen reflektieren. Beispielsweise bezeichnen sich manche nichtbinäre Menschen gegenüber Psychiater*innen als binärgeschlechtlich, um Zugang zu medizinischer Transition zu erhalten. Denn medizinische Transition wird nichtbinären Menschen nach wie vor erheblich erschwert. Solche strategischen Selbstbezeichnungen dürfen aber nicht mit Geschlechtsidentität verwechselt werden. Geschlechtsidentität meint nicht, wie sich Personen anderen gegenüber verständlich machen, sondern wie sie sich selbst verstehen. Sind solche Selbstverständnisse bzw. Selbstverhältnisse das, was Jenkins unter Identifizierungen versteht: „active decisions about how to shape […] projects in response to labels“ (Jenkins 2023: 164)? Ich verneine diese Frage. Bei Geschlechtsidentität handelt es sich typischerweise weder um Labels für Projekte noch um etwas, das sich ein Mensch ausgesucht hat. Es handelt sich bei Geschlechtsidentität vielmehr um existenzielle Selbstidentität. Diese Auffassung findet sich bei Bettcher:

„By existential self-identity, I mean an answer to the question ,[…] Who am I, really?‘ The question, when taken in full philosophical significance means: What am I about? What moves me? What do I stand for? What do I care about the most?“ (Bettcher 2009: 110)

Die Autorität der Selbstbeschreibung

Geschlechtsidentität als existenzielle Selbstidentität zu verstehen, ist kein Rückfall in Essenzialismus. Für Essenzialismus wäre es charakteristisch, über vermeintlich fixe Eigenschaften zu definieren, was eine bestimmte soziale Gruppe ausmacht, wer ihr angehört und wer nicht. Bei existenzieller Selbstidentität geht es um etwas anderes. Existenzielle Selbstidentität meint, was es für eine Person heißt, sie selbst zu sein, z. B. ein, kein oder mehrere Geschlecht(er). Der Begriff existenzieller Selbstidentität zielt darauf, dass es gerade nicht scheinbar fixe Eigenschaften sozialer Gruppen sein dürfen, die über Gruppenzugehörigkeit bestimmen. Hierfür bestimmend sein sollte nach Bettcher vielmehr die Autorität der Selbstbeschreibung (First Person Authority) (Bettcher 2009: 98).

Insgesamt ist Jenkins Anliegen zu begrüßen, Geschlechtsidentität als relevant für feministische Philosophie anzuerkennen und begrifflich zu verstehen. Jedoch ist weder ihr Verständnis von Geschlechtsidentität als Normenrelevanz noch das als aktive Entscheidung über den Gebrauch von Labels plausibel. Besser verstanden ist Geschlechtsidentität als existenzielle Selbstidentität.

Literatur

Ahmed, Sara. 2006. Queer Phenonenology. Orientations, Objects, Others. Durham: Duke University Press. https://doi.org/10.2307/j.ctv125jk6w

Andler, Metthew Salett. 2017. „Gender identity and Exclusion: A Reply to Jenkins.“ In: Ethics 127: 883–895. Zugriff am 19.01.2024 unter https://philpapers.org/archive/ANDGIA-3.pdf.

Ásta. 2018. „Identity as Social Location.“ In: dies.: Categories We Live By: The Construction of Sex, Gender, Race, and Other Social Categories. New York: Oxford Academic. https://doi.org/10.1093/oso/9780190256791.003.0007

Barker, Meg-John; Iantaffi, Alex. 2019. Life Isn’t Binary. On Being Both, Beyond, and In-Between. London: Jessicca Kingsley Publishers.

Bettcher, Talia Mae. 2009. „Trans Identities and First-Person Authority.“ In: Laurie Shrage (Hg.): You’ve Changed: Sex Reassignment and Personal Identity: 98–121. New York: Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oso/9780195385717.003.0007

Butler, Judith. 1993. Bodies That Matter. On The Discursive Limits Of Sex. New York: Routledge. https://doi.org/10.4324/9780203760079

Butler, Judith. 2006. Hass spricht. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Dembroff, Robin. 2020. „Beyond Binary: Genderqueer as Critical Gender Kind.“ In: Philosophers’ Imprint, 20(9): 1–23. Zugriff am 19.01.2024 unter https://philpapers.org/archive/DEMBBG-2.pdf.

Haslanger, Sally. 2002. „Gender and Race: (What) Are They? (What) Do We Want Them To Be?“ In: Noûs, 34(1): 31–55. http://doi.org/10.1111/0029-4624.00201

Jenkins, Katharine. 2015. „Amelioration and Inclusion: Gender Identity and the Concept of Woman.“ In: Ethics, 126: 394–421. https://doi.org/10.1086/683535

Jenkins, Katharine. 2022. „How To Be A Pluralist About Gender Categories.“ In: Halwani, R., Held, J. M., McKeever, N. and Soble, A. (Hg.): The Philosophy of Sex: Contemporary Readings (8. Aufl.). Rowman & Littlefield: Lanham, Maryland, S. 233-259. Zugriff am 19.01.2024 unter https://eprints.gla.ac.uk/266911.

Jenkins, Katharine. 2023. Ontology and Oppression. Race, Gender and Social Reality. New York: Oxford University Press. https://doi.org/10.1093/oso/9780197666777.001.0001

Kapusta, Julia. 2016. „Misgendering and Its Moral Contestability.“ In: Hypatia, 31(3): 502-519. https://doi.org/10.1111/hypa.12259

Wilchins, Riki. 2018. „Foreword: From Genderqueer to Nonbinary to… “ In: Micah Rajunov; Scott Duane (Hg.): Nonbinary. Memoirs of Gender and Identity: 6–14. New York: Columbia University Press. https://doi.org/10.7312/raju18532-001

Young, Iris Marion. 2012. „Five Faces of Oppression.“ In: dies.: Justice and the Politics of Difference: 39–65. Princeton: Princeton University Press. https://doi.org/10.1515/9781400839902-005

Zitation: Emily Goldbeck: Begriffe von Geschlechtsidentität in „Ontology and Oppression“: ein Kommentar, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 20.02.2024, www.gender-blog.de/beitrag/geschlechtsidentitaet-ontology-and-oppression/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20240220

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: Belight/Adobe-Stock

Emily Goldbeck

Emily Goldbeck studiert Philosophie in Hildesheim. Dey arbeitet zu feministischer Ontologie, Sprechakttheorie und Epistemologie sowie zu sozialphilosophischem Wissen der a_romantischen und a_sexuellen Community.

ORCID 0009-0000-7974-9652

Zeige alle Beiträge

Schreibe einen Kommentar (max. 2000 Zeichen)

Es sind max. 2000 Zeichen erlaubt.
Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.
Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Kommentare werden von der Redaktion geprüft und freigegeben.