Skip to main content
Headergrafik: dule964/stock.adobe.com

Interview

Normalisiert und systemisch: sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt in der Wissenschaft

11. Februar 2025 Anke Lipinsky Sandra Beaufaÿs

Der Internationale Tag der Frauen und Mädchen in der Wissenschaft erinnert an die wichtige Rolle, die Forscherinnen insbesondere in Technik- und Naturwissenschaften zukommt. Kaum thematisiert wird in diesem Zusammenhang, dass gerade Frauen und Mädchen besonders häufig Angriffsziele sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt in der Wissenschaft sind. Das Projekt UniSAFE hat in einer europaweiten, quantitativ-empirischen Untersuchung die Ausmaße erforscht. Anke Lipinsky leitete das Forschungsteam der Umfragestudie und gibt im Interview einen Einblick in die Studie und die Ergebnisse.

In der UniSAFE-Studie geht es um „sexualisierte und geschlechtsbezogene“ Gewalt. Kannst du zunächst zur Begrifflichkeit etwas sagen?

Wir haben uns in der UniSAFE-Studie, die auch Grundlage ist für die Expertise, die ich im Auftrag des BMBFs erstellt habe, an einer Definition des Europarats zu geschlechtsbezogener Gewalt orientiert. Da heißt es, dass darunter Gewalt fällt, die Personen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer geschlechtlichen Identität, ihrer Sexualität betrifft und auch Gewalt, die diese Menschen überproportional erleben. Das heißt, sie selbst müssen gar nicht wahrnehmen und zuordnen, „das war wegen meiner sexuellen Orientierung, warum ich das jetzt erlebt habe“, sondern die statistische Häufung reich völlig aus, um zu sagen, es handelt sich um geschlechtsbezogene Gewalt. Wir haben uns an einer internationalen Definition von geschlechtsbezogener Gewalt und auch unterschiedlichen Gewaltformen, die darunter gefasst werden, orientiert, weil wir wissen, dass es ein Kontinuum von Gewalt gibt und dass unterschiedliche Gewaltformen miteinander zusammenhängen. Wir wollten dies in der Befragung abdecken.

Weshalb ist es wichtig, das Thema sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt im Kontext von Forschung und Wissenschaft genauer zu beleuchten?

Grundsätzlich können wir davon ausgehen, dass Gewalt in jeder Branche oder an jedem Arbeitsplatz vorkommen kann und es keinen Anlass dafür braucht, aber Gelegenheit. Und die Wissenschaft – und wie sie strukturiert ist – bietet Gelegenheiten, weil sie nämlich, wenn wir uns jetzt das wissenschaftliche Personal beispielsweise anschauen, informelle Förderstrukturen etabliert hat, die Gelegenheitsstrukturen schaffen. Häufig gibt es eine starke Zentralisierung auf eine Person, die ganz viele Funktionen erfüllt und alle Fäden in der Hand hat. Das heißt, es bestehen bestimmte Abhängigkeiten und diese Abhängigkeiten öffnen Machtmissbrauch klassischerweise Tür und Tor. Das ist in vielen Bereichen so, wo es starke Abhängigkeitsverhältnisse gibt und Personen, beispielsweise wissenschaftlicher Nachwuchs, auf informelle Förderung durch vorgesetzte Personen, beispielsweise Professor:innen, angewiesen sind. Das ist ein anfälliges System.

Wen habt ihr genau befragt und wer ist besonders betroffen von welcher Art von Gewalt?

Wir haben alle Personen befragt, die entweder studierend oder an Hochschulen beschäftigt sind, einschließlich Professor:innenschaft und Wissenschaft stützendes technisches Personal. Beim wissenschaftlichen Personal, einschließlich wissenschaftlicher Nachwuchs und Promovierende, ist es so, dass diese Mechanismen, die ich gerade beschrieben habe, greifen und diese Bedingungen, die sexuelle Belästigung und geschlechtsbezogene Gewalt nicht verhindern, eine besondere Rolle spielen.

Die cis-geschlechtlichen Männer, die gesagt haben, sie sind heterosexuell, sie haben keine Behinderung oder chronische Erkrankung und sie fühlen sich nicht zugehörig zu einer ethnischen Minderheit, sind signifikant weniger von Gewalt betroffen als Frauen und nichtbinäre Menschen, Menschen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung, Menschen die sich nicht als heterosexuell bezeichnen und Personen, die sich einer ethnisch-marginalisierten Gruppe zugehörig fühlen. Das heißt, es gibt ganz eindeutige Hinweise in dem Datensatz, dass Privilegien weiterhin greifen und Frauen und marginalisierte Personengruppen stärker von Gewalt betroffen sind. Und das gilt für alle sechs Formen, die wir abgefragt haben: körperliche Gewalt, psychische Gewalt, ökonomische Gewalt, sexuelle Belästigung, sexualisierte Gewalt und Online-Gewalt. Nichtbinäre Menschen als kleinste Geschlechtsgruppe, die wir statistisch ausweisen können, weisen die höchsten Betroffenheitswerte für alle Gewaltformen auf. Numerisch am höchsten betroffen sind Frauen. Und dazu muss ich sagen, dass die Gewaltformen, die insbesondere von Frauen, aber auch von nichtbinären Personen angegeben werden – psychische Gewalt und sexuelle Belästigung – Gewaltformen sind, die diese Menschen häufig nicht nur einmal, sondern auch mehrfach erleben.

Welche Auswirkungen hat Gewalterleben für die Betroffenen – gibt es auch Folgen, die auf die Forschungsarbeit oder Berufsbiografien zurückwirken?

Gewalterfahrene geben eher an, dass sie sich weniger produktiv fühlen, dass sie sich sozial zurückgezogen haben, dass sie darüber nachgedacht haben, den Arbeitsplatz, das Team oder auch die Organisation zu wechseln oder die Wissenschaft gänzlich zu verlassen. Diese Befunde finden wir auf der quantitativen Ebene und die sind ganz eindeutig und sehr stark im Kontrast zwischen den Gewaltbetroffenen und denen, die nicht von Gewalt betroffen sind.

In den Interviews sehen wir, dass zum Beispiel von Rassifizierung betroffene Menschen davon berichten, dass von ihnen erwartet wird, dass sie sich unterordnen, dass sie keinen Ärger machen, dass sie Arbeiten erfüllen, die nicht besonders prestigeträchtig sind, dass sie häufig als Gäste dargestellt und wahrgenommen werden. Und das sind alles Faktoren, die die Marginalisierung verstärken und die dazu beitragen, dass diese Personen über ihre Gewalterfahrungen schweigen.

Werden die Vorfälle denn häufig gemeldet? Was beeinflusst das Meldeverhalten der Betroffenen?

Tatsächlich ist es so, dass sich sehr, sehr wenige Menschen an eine vorgesetzte Person oder an eine offizielle Meldestelle der Hochschule wenden und von ihren Erfahrungen berichten. Unter den Studierenden werden nur 7 % der Fälle, die als Übergriff und als Gewalt erlebt werden, überhaupt gemeldet. Bei den Beschäftigten haben wir einen Durchschnittswert von 23 % an Personen, die sich melden. Wir haben auch ausgewertet, wie sich das Meldeverhalten nach akademischem Status (She Figures 2021: 179) unterscheidet. Und was wir in den Daten sehen, ist, dass es einen linearen Abfall gibt: Personen auf einer Vollprofessur melden am ehesten Fälle und je geringer der akademische Status, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass die Personen sich melden und Beratung einholen. Das heißt auch, dass die fragilen akademischen Karrierewege, die Befristungen, die Abhängigkeiten sich hier ganz deutlich bemerkbar machen im Meldeverhalten. Also, die Menschen, die sich am ehesten melden, sind die bereits privilegierten, diejenigen, die nicht mehr auf informelle Förderung angewiesen sind, weil sie selber auch schon sichtbar sind in der Wissenschaft.

Lässt sich sagen, dass diese Problematik an deutschen Hochschulen besonders ausgeprägt ist?

Von den 46 Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die wir beforscht haben, waren fünf aus Deutschland. Es gibt keine Anhaltspunkte, die uns jetzt sagen ließen „die Situation in Deutschland ist grundsätzlich anders“. Es gibt kleine Unterschiede zwischen den Ländern und auf Organisationsebene, aber das sind alles keine wirklich erklärenden Effekte gewesen bei der Feststellung von Prävalenzraten oder bezüglich Wohlbefinden und arbeitsbezogenen Folgen. Haupterklärungseffekte liegen tatsächlich auf intersektionalen Unterschieden zwischen den einzelnen Personengruppen.

Natürlich fragt man sich angesichts der Ergebnisse auch, was gegen die Problematik unternommen werden kann. Gibt es da Ansatzpunkte?

Letztendlich sind es zwei Ebenen, die adressiert werden müssen. Einerseits die Frage der Information, der klassischen Sensibilisierung. Menschen müssen wissen und sagen können „Das war nicht in Ordnung“ – und nicht in Unsicherheit belassen werden, was akzeptables Verhalten im Arbeitskontext, im Studienkontext ist. Da dürfen die Hochschulen die Beschäftigten und die Studierenden nicht alleine lassen und es reicht auch nicht, irgendeine Webseite ins Netz zu stellen und ein bisschen Aufklärungsarbeit zu machen, sondern es muss ein aktives und wiederholtes Zugehen auf die Beschäftigtengruppen und auf die Studierenden sein. Sensibilisierung ist ein großes Spektrum, das ist total wichtig, um da Interpretationssicherheit zu bekommen. Und auf der anderen Seite muss es aus meiner Sicht Systemveränderungen geben in dem Sinne, dass beispielsweise die inhaltliche Betreuung von Doktorand:innen nicht bei derselben Person liegt, die auch die personalvorgesetzte Person ist. Diese Machtkonzentration ist schwierig.

Insgesamt sollte sich der Blick auf die Täter:innen richten und ihnen muss weniger Gelegenheit gegeben werden. Wie gesagt, Gewalt braucht keinen Anlass, sie braucht nur Gelegenheiten und die sind nach wie vor in einer systemischen Art und Weise vorhanden – zum Zeitpunkt des Studiums und zu jedem Zeitpunkt in der wissenschaftlichen Karriere. Ich bin davon überzeugt, dass die Hochschulen und Forschungseinrichtungen eine wichtige Rolle dabei spielen, klar zu kommunizieren, was kein akzeptables Verhalten ist und die Gelegenheitsstrukturen abbauen müssen.

Literatur

European Commission (2021). She figures 2021 – Gender in research and innovation – Statistics and indicators, EU Directorate-General for Research and Innovation, Publications Office. https://data.europa.eu/doi/10.2777/06090

Lipinsky, Anke (2024). Expertise zu sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt in der Wissenschaft unter besonderer Berücksichtigung von Vielfalt und Intersektionalität. (CEWS/publik, 32). Köln: GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.21241/ssoar.97554

Lipinsky, Anke; Schredl, Claudia; Baumann, Horst; Humbert, Anne Laure; Tanwar, Jagriti; Bondestam, Fredrik; Freund, Frederike & Lomazzi, Vera (2022). UniSAFE Survey - Gender-based violence and institutional responses, GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.7802/2475

Zitation: Anke Lipinsky im Interview mit Sandra Beaufaÿs: Normalisiert und systemisch: sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt in der Wissenschaft, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 11.02.2025, www.gender-blog.de/beitrag/gewalt-in-der-wissenschaft/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250211

Beitrag (ohne Headergrafik) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag

© Headergrafik: dule964/stock.adobe.com

Dr. Anke Lipinsky

ist Senior Researcher bei GESIS-Leibniz Institut für Sozialwissenschaften, Team CEWS. Sie war PI der quantitativen Umfrage von UniSAFE und ist Mitglied des WHEM-Netzwerks. Ihre Forschung konzentriert sich auf Gleichstellung und Geschlechterverhältnisse in der Wissenschaft, einschließlich genderbezogener Gewalt, Evaluation und Forschungsmethoden. Sie war an mehreren EU-finanzierten Projekten beteiligt z. B. INSPIRE, UniSAFE, GEECCO, GenPORT, und Mitglied mehrerer EU-Sachverständigengruppen.

Zeige alle Beiträge
Netzwerk-Profil Dr. Anke Lipinsky

Dr. Sandra Beaufaÿs

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

Zeige alle Beiträge
Netzwerk-Profil Dr. Sandra Beaufaÿs

Kommentare

Katharina Tolle | 21.02.2025

Ich danke sehr für diese Zusammenfassung, auf die ich bestimmt immer wieder zurückgreifen werde!

Birgit Schneider | 03.03.2025

Es ist kaum zu fassen, wie hier sexualisierte Gewalt gegen Frauen unsichtbar gemacht wird. Bitte einmal in die CEDAW schauen. Wie viele Wissenschaftlerinnen wollen sich noch in den Dienst der reaktionären Theorie der Gender Identity stellen und daran mitwirken, die Errungenschaften der zweiten Frauenbewegung zunichte zu machen?

Anke Lipinsky | 07.03.2025

Guten Tag Birgit Schneider, im Interview wird die überproportionale Gewaltbetroffenheit von Frauen und marginalisierten Personengruppen hervorgehoben. Unsere Studienergebnisse hierzu sind eindeutig. Vielleicht haben Sie den Teil überlesen. Der Begriff der Geschlechtsidentität wird in der Gewaltdefinition des Europarats genutzt, siehe „Manual on addressing gender-based violence affecting young people“. Das Framing, welches Sie unterstellen, trifft nicht zu. Beste Grüße, AL

Schreibe einen Kommentar (max. 2000 Zeichen)

Es sind max. 2000 Zeichen erlaubt.
Die E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht.
Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Kommentare werden von der Redaktion geprüft und freigegeben.