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Headergrafik: Susanne Abeck

Interview

Zur Geschichte gleichgeschlechtlicher Lebensweisen

02. Februar 2021 Wolfgang D. Berude Uta C. Schmidt

Uta C. Schmidt sprach mit dem Essener Aktivisten Wolfgang D. Berude über den langen Kampf, gleichgeschlechtliche Lebensweisen gleichberechtigt in der Erinnerungskultur des Ruhrgebiets sichtbar zu machen sowie über die Bedeutung von Geschichte und Geschichtsbewusstsein für die politische Arbeit.

Herr Berude, Mitte Januar 2021 sollte im „Essener Haus der Geschichte“ die Ausstellung „Come Out, Essen!“ zu 100 Jahren lesbisch-schwuler Emanzipation im Ruhrgebiet starten. Coronabedingt wurde die Eröffnung in die zweite Jahreshälfte verlegt. Bislang schauten wir aus dem Ruhrgebiet eher neugierig und wissbegierig auf Städte wie Berlin oder Köln. Und nun diese Ausstellung in Essen! Wie lange hat es gebraucht, bis Sie, samt Unterstützung durch viele Personen und Institutionen, diese Ausstellung realisieren konnten?

Über 30 Jahre! Die eigentliche Initialzündung war das Erlebnis im Essener Rathaus zum „Gay-Freedom-Day 1988“. Eine eingebrachte Resolution sollte als 38. Tagesordnungspunkt in der Ratssitzung die Lesben und Schwulen in der Stadt Essen offiziell begrüßen. Wir, die Organisatoren, saßen mit ca. fünf Aktivisten auf dem Besucherbalkon im Ratssaal. Ein Ratsmitglied der Grün-Alternativen-Liste (GAL) begründete unter dem Geraune und Gekichere der Ratsherren den Tagesordnungspunkt. In Sekundenschnelle stürzte der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitsfraktion an das Rednerpult und beantragte „im Namen seiner Fraktion zur Tagesordnung überzugehen“. Das geschah! Dieser Vorgang war für mich die Initialzündung, dass wir die Geschichtsschreibung selbst in die Hand nehmen müssen. Seit Anfang der 90er-Jahre habe ich dann in diversen Archiven wie im Landesarchiv NRW oder im Bundesarchiv Berlin sowie im Stadtarchiv recherchiert.

Sie sind schon lange als Aktivist bekannt. Welche Bedeutung hat die Befassung mit der Geschichte für ihre aktuelle politische Arbeit?

Gesellschaftliches Engagement ohne historisches Wissen ist nach meiner Erfahrung schwierig – woher kommen wir, wer schreibt eigentlich unsere Geschichte und wer schreibt sie nicht? Unsere Verfassung, also das Grundgesetz Art.1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ war und ist mein persönlicher Antrieb.

Welche spezifischen Schwierigkeiten treten auf, wenn wir die Geschichten von Homosexuellen zu rekonstruieren suchen?

Geschichtsschreibung wird zu fast 100 Prozent von einem heteronormativen Standpunkt bestimmt. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist eine diverse Betrachtungsweise möglich geworden, dazu hat auch die Frauengeschichtsschreibung der Emanzipationsbewegungen nach 1968 beigetragen. Historische Aufarbeitung der Schwulenbewegung seit 1871 mit der Einführung des §175 StGB ins deutsche Strafrecht, die erste Homosexuellenbewegung in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, gefolgt von den Zerstörungen durch die Nazi-Diktatur … die bedrückenden Jahre von 1945 bis 1969, als die Nazi-Gesetzgebung in die bundesdeutsche übernommen wurde, und dann die neuen Bewegungen, die unsere offene Gesellschaft heute ausmachen. Es gibt Material, das dokumentiert ist, und es gibt Geschichte, die erzählt werden muss. Wenn es nicht gemacht wird, findet die gesellschaftliche Vielfalt nicht mehr statt.

In der heteronormativ grundierten Geschichtsschreibung finden schwul-lesbische Sichtweisen nicht statt ...

Ein Beispiel: Die Stadt Essen wurde durch die enorme Zuwanderung von Arbeitskräften in wenigen Jahrzehnten, beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von einem Provinzstädtchen im Jahre 1896 zur Großstadt. Der Bedarf an Arbeitskräften zum Beispiel in den rasant wachsenden Krupp-Werken und den Zechen stieg stark. Der Männeranteil in der Stadt Essen war enorm hoch. Sicher verließen die meisten Männer ihre Dörfer aus wirtschaftlichen Gründen. Forschungen zu San Francisco konnten zeigen, dass der fast gleichzeitig zur Urbanisierung im Ruhrgebiet dort stattfindende „Gold-Rush“ durch die Zuwanderung von jungen Männern auch eine offene Stadtgesellschaft ermöglichte. Diese Frage ist für das Ruhrgebiet nie gestellt worden. Kamen nicht auch hier Männer und Frauen, die sich ein Leben ohne enge gesellschaftliche Konventionen erhofften? Neben den wirtschaftlichen Perspektiven boten prosperierende Regionen wie das Ruhrgebiet auch Freiräume. In den fast vergessenen großen Wohnheimen, den Menagen – nur für Männer –, die Krupp bauen ließ, waren Hunderte von jungen Männern untergebracht. Gab es da keine Freundschaften, die mehr als Sauf- und Arbeitskollegen waren? Oder die unverheirateten Frauen, die für gleiche Rechte kämpften und sich als Geschäftsfrauen erfolgreich einbrachten? Diese Fragen, weg von der Heteronorm und hin zu diversen Sichtweisen, eröffnet eine „etwas andere“ Geschichtsbetrachtung.

Ende der 1970er-Jahre gründete sich die Homosexuelle Initiative Essen. Was bedeutete dies für die eigene und die gesellschaftliche Emanzipation?

Mit der teilweisen Aufhebung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen 1970 entstanden die ersten Initiativen, u. a. die Homosexuelle Initiative Essen, aber auch nicht zu vergessenen sind solche Gruppen wie DELSI – Demokratische Lesben- u. Schwuleninitiative oder die RAGE Rosa Aktionsgruppe Essen. Getragen durch die Initiativen an den Hochschulen in Bochum und Essen, brachten sie frischen Wind und Engagement in die Stadt. Neue Lebensformen, wie die ersten schwulen Wohngemeinschaften, waren früh Bestandteil dieser Veränderungen. Ein Schock war in den 80er-Jahren für die Gay-Community weltweit die Krankheit Aids. Durch die Solidarität mit den Aktivisten vor Ort entstand der Aidshilfe e.V.. Das gemeinsame Auftreten führte Anfang der 1990-Jahre mit ersten CSD-Demonstrationen zum Zusammenschluss im Forum Essener Lesben u. Schwule (FELS). Erfolgreich und öffentlich medial begleitet, hatte sich die Atmosphäre liberalisiert. Anfang 1995 erkannte der Rat der Stadt im gemeinsamen Antrag an, dass „Maßnahmen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Schwulen und Lesben Teil einer Verpflichtung sind“. Und: „... gleichzeitig erkennt er diese Lebensform als gleichberechtigt an“. In sogenannten „Runden Tisch“-Verhandlungen wurde dann das erste „Handlungsprogramm“ erarbeitet.

Dieses Handlungsprogramm wurde auch offiziell von der damaligen Oberbürgermeisterin Annette Jäger im Essener Rathaus vorgestellt. Welche politischen Aktivitäten haben zu diesem Meilenstein geführt?

Der anhaltende Druck der „Community“, das öffentliche Auftreten in Demonstrationen lokal und bundesweit. In den Medien wurde über die durch Homophobie verursachten Übergriffe von rechten Gruppierungen berichtet. Ein Artikel in der WAZ, betitelt „400 Übergriffe an Homosexuellen in Essen“, war der Anlass zur Gründung der gemeinsamen Arbeitsgemeinschaft „Schwule, Lesben und die Polizei“ in Essen. Der Polizeipräsident bestellte auf Wunsch der AG einen offiziellen „Ansprechpartner für gleichgeschlechtliche Lebensweisen“. Ein Novum in NRW und sicher auch ein Grundstein für die Veränderungen im Stadtrat.

Wo haben Sie sich bislang in der Geschichtskultur der Region repräsentiert gesehen?

Die Historiker*innen taten sich nach meiner Wahrnehmung im Ruhrgebiet nicht leicht mit gleichgeschlechtlich orientierter Geschichtsbetrachtung. Es gab und gibt zahlreiche Ansätze und Menschen, die leidenschaftlich an der Aufarbeitung gearbeitet haben. Aber es verlangt sehr viel Ausdauer und ein „dickes Fell“, dies zur Geltung zu bringen. Die Region „Ruhr“ hat gerade in dieser Hinsicht einen Schatz an Vielfalt zusammenzutragen – von Dortmund bis Duisburg – und sie muss sich sicher vor Köln oder Berlin nicht verstecken. Zwei Publikationen möchte ich für den Einstieg in die Geschichte erwähnen: „Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung“ (Ahland 2016) und „Das sind Volksfeinde“, herausgegeben vom Centrum Schwule Geschichte (1998). Und nun gibt es zur Ausstellung „Come out, Essen!“ ebenfalls eine Begleitpublikation.

Aber es gibt zum Beispiel keine Erwähnung in der letzten großen Ausstellung des Ruhrmuseums auf Zollverein „100 Jahre Ruhrgebiet - Die andere Metropole". Dabei gibt es neben Zuwanderung von sogenannten „Gastarbeitern“ auch die bunte Vielfalt und Erfahrung der LGBITQ*-Community für eine Metropole zu erzählen.

Geht es um eine Hinzufügung lesbisch-schwuler Lebens- und Leidensgeschichten zur allgemeinen Ruhrgebietsgeschichte oder um mehr, um etwas anderes? Was bedeuten Geschichten lesbisch-schwuler Emanzipationen für das große Narrativ der Ruhrgebietsgeschichte?

Eine Metropole zeichnet sich durch eine offene Kulturlandschaft aus, durch den Umgang mit den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Die Sichtbarmachung der lesbisch-schwulen Lebenswelten und Geschichtserfahrungen der vergangenen 125 Jahre macht eine Metropole doch erst aus, deshalb schauen wir auf Berlin oder New York. Wir hier sollten mit unserer Geschichte lesbisch-schwuler Emanzipationen auftrumpfen und ich bin sicher, dass viele sagen werden: „Ach, das hätte ich ja nie gedacht!“

Literatur

Ahland, Frank (Hrsg.). (2016). Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Schwul-lesbische Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert. Berlin: Vergangenheitsverlag.

Centrum Schwule Geschichte (Hrsg.). (1998). „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933–1945 (Publikation zur Ausstellung „‚Das sind Volksfeinde!‘ – Kölner ‚Sonderaktion‘ gegen Homosexuelle im Sommer 1938“ vom 4. Juni bis 9. August 1998 im EL-DE-Haus). Köln: Emons.

Nies, Stefan, Berude, Wolfgang D. (2020), Come Out, Essen! 100 Jahre lesbisch-schwule Emanzipation. Buch zur Ausstellung, hg. v. d. Aidshilfe Essen e.V.

Zitation: Wolfgang D. Berude im Interview mit Uta C. Schmidt: Zur Geschichte gleichgeschlechtlicher Lebensweisen, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 02.02.2021, www.gender-blog.de/beitrag/gleichgeschlechtliche-lebensweisen/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20210202

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Wolfgang D. Berude

1952 geb.; Ökonom, ehem.Betriebsratsvorsitzender, Mitbegründer des Forums Essener Lesben und Schwule und des Arbeitskreises schwule Geschichte in Essen/Ruhrgebiet (1995).

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Dr. Uta C. Schmidt

Historikerin und Kunsthistorikerin; Forschungen an den Schnittstellen von Raum, Wissen, Geschlecht und Macht; Publikationen zu Klöstern, Klanggeschichte und Geschichtskultur; wiss. Mitarbeiterin im Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW; Kuratorin im DA. Kunsthaus Kloster Gravenhorst; Mitherausgeberin von www.frauenruhrgeschichte.de.

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