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Interview

„Global Female Future“: Die Kontinuität der Selbstermächtigung

30. Mai 2023 Andrea Ernst Andreea Zelinka Sandra Beaufaÿs

Mit „Global Female Future. Wie feministische Kämpfe Arbeit, Ökologie und Politik verändern“ halten wir ein schön gestaltetes Buch in Händen, dessen Themen – (Anti-)Rassismus und Kolonialismus, Gewalt, Reproduktion, Politik, Arbeit, Umwelt und Klima – die aktuellen feministischen Kämpfe und die der letzten Jahrzehnte aufgreifen. Der Band schaut aus der Perspektive von Autor*innen aus aller Welt, insbesondere Frauen aus dem globalen Süden, auf das Potenzial feministischer Solidarität und Zusammenarbeit. Mit zwei der Herausgeberinnen, Andrea Ernst und Andreea Zelinka, sprach Sandra Beaufaÿs über die Publikation, über deren organisationalen Hintergrund und über das, was uns empowert.

Das Buch hat einen bemerkenswert optimistischen Titel. Er weist darauf hin, dass feministische Kämpfe heute und in der Vergangenheit etwas bewegen. Lese ich das richtig?

Andrea Ernst: Die Frauenbewegung und der Feminismus sind die erfolgreichste soziale Bewegung der letzten 150 Jahre, das muss mal gesagt werden! ((lacht)) Es wurde viel erreicht. Deshalb wollten wir auf keinen Fall ein Buch machen, dass aus einer Opferperspektive geschrieben ist. Es sollte eines werden, das über Selbstermächtigung erzählt, aus der Perspektive der südlichen und der nördlichen Hemisphäre.

Hinter dem Buch steht der feministisch-entwicklungspolitische Verein und die Zeitschrift Frauen*solidarität in Wien. Vielleicht können Sie zunächst etwas zu dem Kontext sagen, in dem das Buch entstanden ist.

Andrea Ernst: Ich bin eine der Gründungsmitglieder der Frauen*solidarität und erinnere mich gut an das Jahr 1982. Wir haben zum ersten Mal den Blick darauf gelenkt, dass die Gelder, die in die damalige Entwicklungszusammenarbeit flossen, fast ausschließlich bei Männern landeten. Die Frauen gingen meist leer aus. So unterstützten wir in unserem ersten „offiziellen“ Projekt ein Selbsthilfe- und Beratungszentrum für Frauen in der kolumbianischen Blumenindustrie. In den riesigen Glashäusern wurden die Arbeiterinnen nicht nur elend schlecht bezahlt, sie waren Pestiziden und Herbiziden ungeschützt ausgesetzt. Sie wurden krank, es gab Fehlgeburten. Das war der Kontext der Gründung der Frauen*solidarität: zu sagen, wir haben eine Verantwortung. Diese Blumen sind für den Export, sie kommen als Billigware zu uns. Das war der entscheidende Perspektivwechsel.

Wie hat sich die Frauen*solidarität seitdem weiterentwickelt?

Andreea Zelinka: Als Organisation hat sich die Frauen*solidarität über die Jahre verschiedene Standbeine aufgebaut. Seit der Gründung gibt es die gleichnamige Zeitschrift und das Buch ist auch eine Anknüpfung an die publizistische Arbeit der Organisation, die sich immer mehr hin zu Informations- und Bildungsarbeit entwickelt hat. Mitte der 1990er-Jahre wurde eine Bibliothek gegründet, die zusammen mit zwei anderen Organisationen als C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik geführt wird, die u. a. Zeitschriften aus Lateinamerika bereithält, die sonst überhaupt nicht zugänglich wären. In den Nullerjahren kam die feministische Radioredaktion Women on Air hinzu. Außerdem bieten wir Medien-Workshops an und veranstalten Lesungen und Diskussionen, zum Beispiel mit Gioconda Belli oder Vandana Shiva.

Es fällt auf, dass viele Autor*innen aus dem globalen Süden Beiträge geschrieben haben und dass die Themen ausgesprochen ‚en vogue‘ sind.

Andreea Zelinka: Aus meiner Perspektive sind die Themen weniger ‚en vogue‘, sondern decken die verschiedenen Lebensbereiche ab, in denen feministische Kämpfe stattfinden. Mein Eindruck ist, dass das seit vierzig Jahren mehr oder weniger dieselben sind. Das Buch sollte unsere Arbeit zeigen, aber auch darüber hinausgehen. Es reflektiert feministische Kämpfe der letzten vierzig Jahre und schaut auch voraus. Es ist ein Buch von Expert*innen, Aktivist*innen, aber vor allem auch von Mitstreiter*innen. Wir möchten die Wissensumkehr zwischen Nord und Süd fördern, indem die Autor*innen aus dem globalen Süden für sich selbst sprechen, sie von ihren eigenen Kämpfen selbst berichten und weniger eine Erzählung über sie stattfindet.

Um spezifische Themen des Buches anzusprechen: Welche Einblicke gibt der Band z. B. in die Verknüpfung von Rassismus und Sexismus bzw. auch sexualisierter Gewalt?

Andreea Zelinka: Es gibt mehrere Beiträge, in denen intersektionale Machtverhältnisse thematisiert werden. Wir nähern uns ihnen aus verschiedenen Richtungen. Zum Beispiel schreibt Charlotte Wiedemann in ihrem Text, wie das weiße Privileg von Frauen in der kolonialen Vergangenheit bis heute überdauert und feministisch reflektiert werden muss. Adriana Churampi Ramírez erzählt von indigenen Frauen zur Zeit der Eroberung der Amerikas, die Anführerinnen in ihren Gesellschaften und Gemeinschaften waren, aber durch den männlichen Blick der europäischen Eroberer als übersexualisierte und unmoralische Frauen dargestellt wurden. Eigentlich waren sie aber selbstbestimmte Frauen, nur nicht nach Maßstäben der Kolonisateure. Es ist wichtig, Intersektionalitäten aus der eigenen Position heraus zu denken und auch hinsichtlich historischer Kontinuitäten.

Was sind Ihre Lieblingsbeispiele für empowernden Widerstand?

Andrea Ernst: Mein Lieblingsbeispiel ist die Performance von der chilenischen Performance-Gruppe LASTESIS „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg). Jedes Mal, wenn ich das Video sehe, ist das ein absoluter Power Shot, eine Beflügelung! Auf Seite 50 im Buch finden Sie den Beitrag von Marcela Torres Heredia „Der kollektive Schrei“ und auch den Text der Performance, übersetzt von Svenja Becker.

Andreea Zelinka: LASTESIS ist ein Künstler*innen-Kollektiv, das performative Interventionen im öffentlichen Raum macht. Sie bringen auf den Punkt, von wem sexualisierte Gewalt wirklich ausgeht: „El violador eres tú!“ – der Vergewaltiger bist du, und zwar nicht nur individuell, vom Mann ausgehend, sondern auch gesellschaftlich durch die Gewaltverhältnisse, die über den Staat auch kontinuiert werden, z. B. durch die Justiz. Aber überhaupt im Alltag zu existieren, auf die Art und Weise der Frauen, der nichtbinären und trans Personen, ist für mich auch ein Akt des Widerstands. Beides ist wichtig, die aktionistischen Formen und die alltäglichen Formen.

Andrea Ernst: Bis hin zu dem, was beispielsweise die Iraner*innen jetzt leisten, wo tatsächlich Widerstand bezahlt wird mit Leib und Leben. Diese Bandbreite, so verstehen wir Widerstand, vom Individuellen bis zum Kollektiven und Politischen.

Im Kapitel zu „Politik“ schicken Sie vorweg, dass sich die „Trennlinien zwischen den Feminismen verwischt“ hätten. Was meinen Sie damit?

Andreea Zelinka: Es gibt da eine Unterscheidung zwischen institutionalisierter Politik und sozialer Bewegung. Und die Frage ist, wo findet Zusammenarbeit statt und wo befindet man sich in voneinander abgetrennten Räumen. Da finde ich den Artikel von Wendy Harcourt über feministische Körperpolitiken sehr interessant. Wie die feministischen Aktionen auf der Straße sich auf institutionalisierte Politik ausgewirkt haben. In diese Richtung verstehen wir das: dass verschiedene Logiken des Politikmachens verschwimmen oder ineinander übergehen.

Andrea Ernst: Wir verstehen es als Kontinuum. Denn wir haben auf der einen Seite beispielsweise den bewaffneten Widerstand der Kolumbianerinnen und auf der anderen Seite die parlamentarische Teilhabe von Frauen. Diese Bandbreite braucht es immer, sonst gibt es keine Veränderung. Also, das heißt jetzt nicht, dass wir mit der Waffe in der Hand kämpfen müssen, aber dass das, was sich auf der Straße abspielt und mit sehr unkonventionellen Protesten und Störungen einhergeht, dann auch parlamentarisch, politisch institutionell in anderer Form fortgesetzt werden kann und muss.

Was kann uns Ihr Buch im Zeitalter der Online-Medien vermitteln?

Andrea Ernst: Wir wollten ein Buch, mit dem man leben kann, in kurzen Kapiteln, ganz unterschiedlich, für zwischendurch, das man für die eigene Inspiration nutzen kann. Für mich ist der Zauber dieses Buches die Kontinuität der Selbstermächtigung. Und zwar egal in welchem Bereich. Zum Beispiel der Blick der Frauen aus der südlichen Hemisphäre, den sie auf die Klimakatastrophe haben. Sie erkennen klar, sie werden die Schwächsten sein, wenn sich die Krise immer mehr zuspitzt. Und die Beiträge im Buch zeigen, es lohnt sich, wenn ihr euch einsetzt und es lohnt sich, wenn ihr auch Unterschiede aushaltet. Ich würde mir wünschen, dass Leser*innen daraus Kraft schöpfen.

Andreea Zelinka: Das Buch ist nicht nur für Menschen, die sich für Feminismus interessieren, sondern ganz klar auch für all jene, die sich denken, es würde mich schon interessieren, aber ich weiß nicht so genau, wo ich anfangen soll. Da kann unser Buch ein Anknüpfungspunkt sein, um herauszufinden, was bewegt mich, was spricht mich an, wo könnte ich mir vorstellen, meine Energie einzusetzen? Um vielleicht tatsächlich dann den weiterführenden Gedanken aufzugreifen: Könnte ich mich auch politisch organisieren? Das Buch kann eine Einladung sein, ein Angebot an Menschen, sich dem feministischen Kampf anzuschließen. Und zwar lokal, also dort, wo wir uns gerade befinden, aber auch in dem Bewusstsein, dass wir verbunden sind mit den feministischen Kämpfen anderswo in der Welt und wir gemeinsam für ein besseres, gutes Leben und für eine feministische Zukunft kämpfen.

Das Buch „Global Female Future – Wie feministische Kämpfe Arbeit, Ökologie und Politik verändern“, herausgegeben von Andrea Ernst, Ulrike Lunacek, Gerda Neyer, Rosa Zechner, Andreea Zelinka, ist 2022 bei Kremayr & Scheriau in Wien erschienen.

Cover "Global Female Future"

Zitation: Andrea Ernst, Andreea Zelinka im Interview mit Sandra Beaufaÿs: „Global Female Future“: Die Kontinuität der Selbstermächtigung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 30.05.2023, www.gender-blog.de/beitrag/global-female-future-selbstermaechtigung/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230530

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Andrea Ernst

Andrea Ernst ist Sozialwissenschaftlerin und ist seit 2019 in Wien als unabhängige Autorin und Filmemacherin für dokumentarische Stoffe tätig. Sie arbeitete außerdem als freie Dramaturgin, Dozentin, Publizistin und Regisseurin. 2002–2007 war sie stellvertretende ARTE-Beauftragte des Westdeutschen Rundfunks (WDR) in Köln, entwickelte eigene Sendereihen und arbeitete als Redaktionsleiterin im Bereich „Kultur und Wissenschaft“.

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Andreea Zelinka

Andreea Zelinka hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Kultur- und Sozialanthropologie in Wien und Barcelona studiert. Sie ist Redakteurin bei der frauen*solidarität, Radioredakteurin bei den Women on Air bei Radio Orange 94.0. Darüber hinaus arbeitet sie in der Öffentlichkeitsarbeit für die österreichweiten Filmtage "Recht auf Nahrung - Hunger.Macht.Profite" und schreibt Lyrik, u.a. für Literarische Diverse und COPE Magazin.

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Dr. Sandra Beaufaÿs

Sandra Beaufaÿs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Wissenstransfer sowie bei den Themen Geschlechterverhältnisse in Wissenschaft, Professionen und Arbeitsorganisationen.

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