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Forschung

Graffiti und Gender

14. Februar 2023 Friederike Häuser Florian Moritz

„Graffiti writing itself is not sexist, racist, or classist. Graffiti is a game that anyone can play.“ Diese Aussage der New Yorker Sprüherin Miss 17 stellt die Graffitiszene als eine heterogene und inklusive Szene dar, die keine Diskriminierung kennt (Pabón-Colón 2018: xi). Ist das heute noch so? 

Wo bleibt Lady Pink?

Die Ursprünge der Graffitiszene in den USA der 70er-Jahre wurden nicht nur durch männliche Sprüher geprägt. Es waren von Beginn an auch viele Frauen dabei (z. B. LadyPink, Eva62, Claw Money, u.v.m.). Doch den männlichen Sprühern wurde vergleichsweise mehr Sichtbarkeit, Raum und Ruhm zugewiesen. Auf dem Cover der ersten Printpublikation überhaupt zu Graffiti ist keines der 33 abgebildeten Pieces von einer Frau (Coopers/Chalfants 1984). In späteren Auflagen zeigt das Buchcover Dondi, einen männlichen Sprüher, im Spagat zwischen zwei Zügen (Coopers/Chalfants 2009). Diese Verschiebung hat eine männliche Historisierung vorangetrieben. Die Graffitiszene mag heute zahlenmäßig überwiegend männlich erscheinen, jedoch könnte dies mit der medialen Darstellung verknüpft sein. Die soziologische Forschung zu Graffiti reproduziert außerdem durch eine Ursachensuche in Adoleszenz und Kriminalität eine diskursive Verschiebung in der Rezeption. Es lässt sich deshalb die These aufstellen, dass die mediale und wissenschaftliche Aufmerksamkeit Männlichkeit fester an Graffiti gekoppelt hat.

Berlin in den 2020ern

Ein Zeitsprung ins Jetzt, Berlin in den 2020ern. An der Station Mendelssohn-Bartholdy-Park fährt die U-Bahn mit einem komplett besprühten Waggon ein. Der Waggon schwarz, mit roter Farbe wurden in Blutoptik die Worte the brutal abuse darauf gesprüht. Daneben wurde eine weibliche Figur gemalt, die mit einer Hand gewürgt wird und Tränen in den Augen hat. Ist Graffiti ein Spiel, das jede*r spielen kann?

Graffitiszenen sind nicht ohne Räume zu denken. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive lassen sich Räume heuristisch als diskursiviert und decodierbar verorten (Lotman 1972; Foucault 2005). Nimmt man Erkenntnisse der Männlichkeitsforschung hinzu, so zeigt sich – in einer Modifikation von Klaus Theleweit (1977/1978) – zudem eine starke Überlagerung von Räumen und Ängsten vor einer Körperauflösung. Graffiti können als Praktiken, als spezifische Körperspuren gelesen werden, die beispielsweise Rückschlüsse auf die Geschwindigkeit einer Bewegung zulassen, die in Räumen zu erfassen sind. Die Pieces, Throw-Ups oder Taggs – Ergebnisse der subkulturellen Kunstform – situieren sich im Spannungsverhältnis zwischen Aktualisieren und Verschwinden, durch Witterung, Tilgung und infrastrukturelle Veränderungen. Ladenlokale, in denen Sprühdosen, Magazine, Filme, Kleidung und oftmals alkoholische Getränke erworben werden können, sind seit ungefähr 20 Jahren relativ konstant codierte soziale Räume. In einem Interview [1] werden diese von zwei Sprüherinnen besonders negativ bewertet.

Y1: Wie oft hatte ich Panikattacken, bevor ich in den Laden musste? 

Y2: Ja voll, ich fands auch so, immer überlegt, was ich anziehe, bevor ich in den Laden gehe.

Y1: Und Listen gemacht mit den Farben, die man kaufen möchte, man wollte bloß nicht auffallen.

Y2: Wenn man schon diesen Männermob in der Straße vor dem Laden gesehen hat…

Y1: Aber gleichzeitig möchte man niemandem so Räume einfach überlassen.

Räume fungieren als lokale Zentren und Treffpunkte. Durch die Möglichkeit, im Internet zu bestellen, hat sich ihre Bedeutung als zentraler Kommunikationsort verschoben, dennoch bleiben sie für den mündlichen Austausch wichtig. Es werden dort „Wissen und entsprechende Organisation“ (Schierz 2009: 251) ausgetauscht und rituelle Praktiken sowie Hierarchisierungen etabliert, wie beispielsweise das Betreten des um Diebstähle vorzubeugen abgetrennten Thekenraums durch bekannte Sprüher*innen.

Y2: Mich hat dort einmal ein 50-Jähriger nach meiner Nummer gefragt. [...] Ich hab dem Ladenbesitzer irgendwann auch nach Jahren gesagt, »Ey, weißt du, wie unwohl ich mich hier fühle?« Und er meinte nur so: »Kann ich verstehen«.

Die Differenzkonstruktion geht noch weiter: Sprüherinnen können nicht so gut malen, nicht so schnell rennen, sie besitzen eine genormte Ästhetik. Sie brauchen ungefragte Tipps und Ratschläge oder werden auf ihre Erscheinung reduziert, wodurch ihr künstlerischer Output an Sichtbarkeit und Wert verliert. Es  sind Genderstereotype, die folglich auch Graffiti von Frauen anders codieren als die von Männern.

Männlichkeiten im Graffiti

Männlichkeiten im Graffiti sind facettenreich. Kämpferisch, konkurrenzbereit, frauenfeindlich und in Wert und Relevanz singularisiert – das hegemoniale Konzept in der Graffitiszene ist toxisch. Aus Perspektive der Männlichkeitsforschung ergeben sich dadurch unterschiedliche Hierarchisierungen von Akteur*innen. Folgt man Raewyn Connell (2015) dann zeigt sich auch eine positiv konnotierte Wechselwirkung von Gender und Age, wobei Age mit Erfahrung gleichgesetzt wird. Zudem ist das subkulturelle Sprühen mit der Idee von Wettbewerb und männlicher Körperlichkeit aufgeladen, wie sich zum Beispiel an der Praxis des Crossens zeigt, dem Übermalen von Bildern. Entsprechend der hier bereits angedeuteten Interpretation von Graffiti als Körperspur wird das Crossen auch als Tilgung dieser Körperspur gedeutet, was einem Angriff gleichkommt: Die in gewisser Weise ausgelagerten Körperfragmente gilt es als Besitzdiskurs zu verteidigen. Künstlerische Ausdrucksweisen, die von Heteronormativität abweichen, lassen sich zudem als „marginalisiert“ (Connell 2015: 313) beschreiben, da ihnen in der Szene Qualität und Wert abgesprochen wird.

Was passiert, wenn Sprüherinnen sichtbar werden?

"Once a woman is vocal about who she is, it is possible and even likely that she will be looked at differently. […] many females participating in this male-dominated subculture will find themselves the subject of vicious rumors and speculations that are more concerned with their activities in the sheets than their nights in the streets" (Pabón-Colón 2018: Foreword).

Graffiti ist für jede*n, aber nur, wenn man nicht als Frau sichtbar wird. Frauen haben es leichter in der Graffitiszene, wenn sie nicht als Frauen auftreten, wenn sie und ihre Körper nicht stattfinden. Akteurinnen werden auch in sozialen Medien zunehmend präsenter und zeigen damit eine räumliche Verschiebung an. Sie evozieren Sichtbarkeiten und sind hinsichtlich Genderdiskursen ambig zu bewerten. Von den Interviewten wird dies mit Einschränkungen tendenziell positiv wahrgenommen:

Y2: Mir hat mal xy aus Berlin geschrieben: »Willst du mein Traingirl sein?«

Y1: Wenn irgendwelche Girls da in den irrsten Metrospots rumturnen, ist das für mich einfach Empowerment.

Y1: Ich habe zum Beispiel zwei bis drei enge Freundinnen darüber kennengelernt und alle sind immer voll happy, dass man sich connected so. Da kann man ganz anders kommunizieren, mit 'nem Typen würde ich mich nicht einfach übers Internet zum Malen verabreden.

Graffiti können Heterotopien, also „Orte, die außerhalb aller Orte liegen“ (Foucault 2005: 936), evozieren. Zugänge, Praktik und Performanzen sind diskursiv reglementiert:

Y2: Ich finde bei Actions mit Frauen ist es generell eine angenehmere Stimmung, weil Bedenken viel stärker kommuniziert werden. Da ist einfach ein Raum dafür, der sonst nicht da ist.

Y1: Ich hatte das schon öfter, dass Männer Härte zeigen, die sie eigentlich nicht haben, diese Notwendigkeit zum Risiko ist da einfach nicht so.

Da die Subkultur männlich konnotiert ist, ergeben sich auch Vorteile:

Y1: Ja, weißt du noch bei uns beiden bei Ort? […] Und wir hatten auch recht [mit unserem schlechten Gefühl], hat sich hinterher rausgestellt! Wir sind dann den Zug abgelaufen und da kamen direkt Securities raus, wir haben uns dann einfach hingehockt und gepinkelt, dann dachten die natürlich, wir haben nichts mit Graffiti zu tun.

Wechselwirkungen

In diesem Text wird Performanz im Sinne von künstlerischer Praxis begrifflich von Genderperformanz abgegrenzt, wobei in der Subkultur des Graffiti beide Begriffe interferierend codiert sind. Genderdiskurse, Praktik und Performanz stehen in einer Wechselwirkung zueinander. Ein exponiertes Beispiel liegt mit Lady Pink vor, die ihren Namen auswählte, um eine vermeintlich stereotype Weiblichkeit zu unterminieren. "Lady Pink discussed the dynamics of her tokenization as the only woman included alongside New York City graffiti’s founding fathers" (e.g. Taki183, Dondi, Lee, Seen, Blade, Iz the Wiz; Pabón-Colón 2018: 5). Ihre Funktion als Token hat also dazu geführt, dass Lady Pink zu der einen wegweisenden Frau im Graffiti wurde, was jedoch gleichzeitig andere Künstlerinnen wieder unsichtbar macht. Männlichkeit stellt im Graffiti keine Prämisse dar, doch die männliche Diskursivierung und Historisierung der Subkultur lässt diesen Schluss zu. Zugleich wird die Männlichkeit in ihrer Kopplung an die künstlerische Praxis zunehmend in Frage gestellt und medial ironisiert.

 

[1] Die Zitate stammen aus der anonymisierten Transkription eines Interviews mit zwei Sprüherinnen, das im Rahmen einer Forschungsarbeit geführt wurde. Namen werden aus gegebenen Gründen nicht veröffentlicht (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2013: 147f.). Rückschlüsse auf soziale Identitäten und Orte sind nicht möglich (vgl. ebd.: 44). Im Rahmen literaturwissenschaftlicher Erkenntninteressen (vgl. Nünning/Nünning 2004) spielen diese Anonymisierungen keine Rolle.

Literatur

Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden: Springer VS.

Coopers, Martha/Chalfants, Henry (1984): Subway art. London: Thames and Hudson.  

Coopers, Martha/Chalfants, Henry (2009): Subway art. Hamburg: Edel-Ed.

Foucault, Michel (2005): Von anderen Räumen. In: Defert, Daniel/Ewald, Francois (Hrsg.): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV 1980–1988. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 930–941.

Lotman, Jurij (1972): Die Struktur literarischer Texte. Paderborn: Fink Verlag.

Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.) (2004): Erzähltextanalyse und gender studies. Stuttgart: J. B. Metzler.

Pabón-Colón, Jessica Nydia (2018): Graffiti Grrlz. Performing Feminism in the Hip Hop Diaspora. New York: New York University Press.

Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika (2013): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg Verlag.

Schierz, Sascha (2009): Wri(o)te; Graffiti, Cultural Criminology und Transgression in der Kontrollgesellschaft. Vechta: Vechtaer Verlag für Studium, Wissenschaft und Forschung.

Theleweit, Klaus (1977/1978): Männerphantasien. Bd. 1: Frauen, Flinten, Körper, Geschichte; Bd. 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern.

Zitation: Friederike Häuser, Florian Moritz: Graffiti und Gender, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 14.02.2023, www.gender-blog.de/beitrag/graffiti-und-gender/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20230214

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Friederike Häuser

Friederike Häuser ist Sozialarbeiterin und Kriminologin. Sie ist Herausgeberin des deutschlandweit ersten wissenschaftlichen Sammelbandes zum Thema Graffiti. Ihre letzten Veröffentlichungen erschienen im PFF-Journal – Magazin für Graffiti, Kunst und Kultur sowie im Karuna Kompass (Berlin). Zudem wirkte sie redaktionell bei mehreren Graffiti-Monografien mit.

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Florian Moritz

Florian Moritz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Literaturwissenschaft am Institut für Diversitätsstudien der TU Dortmund. Seine Forschungsinteressen sind Männlichkeitsforschung, Intermedialität, Subkulturen und Diskurstheorie.

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